Institut Deutsche Adelsforschung
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Hesssischer Adel am Ende der Frühen Neuzeit

Sozial-, Korporations- und Wirtschaftsgeschichte des hessischen Adels im XVIII. Säkulum

Der hessische Historiker Dieter Wunder hat sich in einem voluminösen und schweren Band mit 844 Seiten unter dem Titel „Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts“ [1] mit einigen Aspekten des Adels in den hessischen Kleinfürstentümern befaßt, die bislang von der Forschung noch unberücksichtigt geblieben sind. Die allein wegen Ihrer Fülle und Anlage beeindruckende und überaus detailreiche Studie, die teils einen dokumentarischen Charakter annimmt, ist nach dem Muster der Arbeitsweise des brandenburgischen Behörden- und Amtsdienerforschers Rolf Straubel verfaßt und daher Rankes Wahlspruch des „wie es eigentlich gewesen ist“ verpflichtet, freilich unter Beachtung immerhin der historischen als der einzigen erkennbaren Methode in diesem Werk. 

Dass ansonsten keine Methoden oder Theorien verwendet worden sind, die eine Sozialgeschichte des Adels für gewöhnlich umfaßt (z.B. Bourdiues Ökonomie der Praxis mit den soziologischen Kapitalarten), ist ungewöhnlich, entspricht aber wiederum den Straubelschen Prämissen einer eher konservativen Geschichtsforschung. Das mag verständlich sein, wenn bedacht wird, dass der Verfasser Dieter Wunder im 80. Lebensjahr steht und bis zum Ende seiner Berufslaufbahn als Lehrer und daneben auch noch als Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft tätig gewesen ist. 

Erst um 2000 hat er gemäß dem Klappentext des Buches wieder angefangen, sich erstmals nach seinem Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik – und nach seiner im Jahre 1965 an der Hamburger Universität erfolgten germanistischen Promotion mit Untersuchungen zur Syntax des deutschen Nebensatzes bei Otfrid von Weißenburg – mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen zu befassen. Diese äußerlichen Faktoren des Germanisten mögen erklären, weshalb die sonst üblichen Ansätze in der Adelsforschung hier ausgelassen und gar nicht erst angesprochen worden sind. Gleichwohl ist diese Methodenarmut dem Band insgesamt nicht abträglich. Sie kann sogar positiv gewertet werden. Denn so bleibt Platz für zahlreiche Anregungen des Materials, daß unter neuen Gesichtspunkten und Blickwinkeln auch noch einmal neu befragt werden kann. 

Ohne die Ansätze der Sozial- Wirtschafts- und Korporationsgeschichte zu reflektieren, [2] bearbeitet Wunder etliche Bereiche. Rechtliche ebenso wie Agency-Ansätze in der Lebensgestaltung des hessischen Adels, deren Rechte und Privilegien, Vorgänge um sozialen Aufstieg und Abstieg, die Bedeutung von Landbindung und Rittergut, lokale Herrschaftsausübung, die Erwirtschaftung eines standesgemäß nötigen Einkommens, Bildungskarrieren, die Beziehungen zu den hessischen Fürsten und der Fürstendienst, dann aber auch die Geschichte der Ritterschaft, ihrer Stellung im Lande und im Reich, die Konflikte und Hybridisierungen zwischen adeligen und nichtadeligen Standespersonen sowie die Adelsergänzung durch Nobilitierung und schließlich die Auseinandersetzungen um das Damenstift Kauffungen sowie Steuerfragen der Ritterschaft werden auf breitester Basis und unter Zunutzemachung bisher ungehobener Archivschätze erörtert. 

Dabei ist erfreulicherweise auffallend, dass Wunder durchaus auch Ansätze aus der digitalen Geschichtswissenschaft benützt und ferner sich auch Gegenphänomenen und Grenzfiguren zuwendet, um desto deutlicher die Folie der Norm des hessischen Adels herauszuarbeiten. Insofern ist Wunders Ansatz, sich auch dem Halb-, Klein oder Betteladel – so einige zeitgenössische bzw. methodische Begriffe – zu widmen, aktuell und wiederum äußert progressiv (von Adelsverlusten infolge von Verbrechen ist jedoch nicht die Rede, vermutlich aber nur deshalb, weil Wunder entsprechende Fälle im reichhaltigen Archivmaterial nicht gefunden hat). 

Dazu zählen auch myrioramatische Listen von Neuaufnahmen in die Ritterschaft, von abgelehnten Gesuchen, ausländischem Adel in Hessen und von Nobilitierungen, um nur wenige Beispiele zu nennen. A conto der Kleinräumigkeit der hessischen Territorien scheint ihm dies mit großer Vollständigkeit zu gelingen, insgesamt bleiben die Zahlen und Kopfdaten dabei eher klein – dadurch aber auch besser überschau- und analysierbar. Dennoch gilt, daß allein der Addenda-Teil  schon die Seiten 632-721 umfaßt, engbedruckt ist und hunderte von Namen, Vornamen und Daten enthält. Das alles macht den Band für Genealog*innen und Forschende, die vor allem an adelshessischen Personaldaten interessiert sind, geradezu unverzichtbar. Erstklassig erschlossen durch Personennamen- und Ortsregister ist das Werk mithin eine reichhaltige Fundgrube für die Heimat- und Ortsforschung. 

Dabei vernachlässigt Wunder jedoch nicht die abschließende Einarbeitung in den Forschungsstand, indem er seine Ergebnisse mit denen der Adelsforscher Demel (2001) und Walther (2008) abgleicht (ein systematischer Literaturabgleich findet indes nicht statt).3 Wunder kommt dabei (Seite 607-613) zu dem Ergebnis, dass der Adel in Hessen nicht ausschließlich der Elitenstand war, für den ihn Demel im Reich hielt. Ebenfalls entgegen Demel stellt Wunder fest, dass der hessische Adel nicht heterogen, sondern homogen war. Außerdem sei der Adel hier nur wenig stark gewesen und habe die Landespolitik nicht wesentlich bestimmen können. Auch einen bedeutenden sozialen Auf- oder Abstieg vermag Wunder entgegen Demel für den Hessenadel des 18. Jahrhunderts nicht zu konstatieren.

Da sich Wunders Erkenntnisse daher fast diametral den bisherigen beiden Studien entgegenstellen, schlägt er schließlich zur Lösung der aufgeworfenen Misere eine Erstellung einer Topographie einzelner Adelslandschaften vor. Auch wenn sicherlich eine solche quantitativ wie qualitativ dichte Beschreibung wohl eher selten wird noch gelingen können, so ist dieser Vorschlag doch bei fortschreitendem Forschungsstand zur weiteren Differenzierung begrüßenswert. Dabei wird es, wie stets in der Historiographie, wohl vor allem darum gehen, in den Erkenntnissen ebenso eine allzu große und enge Spezialisierung ohne Blick für die Gesamtheit der Adelsgeschichte zu vermeiden als auch nicht zu sehr zu pauschalisieren, um die regionalen Unterschiede nicht zu verwischen. Daß diese Verschiedenheiten mitunter immenser Natur sein können, hat Wunder akribisch für Hessen nachgewiesen. 

Auf die Fülle des Materials aufmerksam gemacht zu haben, ist daher nicht nur neuen Einspeisungen von Aktensignaturen und -titeln in das hessische Online-Archivsystem zu verdanken, sondern auch Wunders hingebungsvoller Heuristik (die er freilich leider nicht in einem heuristischen Protokoll nachweist, was aber auch angesichts dessen, dass es sich bei Wunders Arbeit nicht um eine akademische Qualifikationsschrift handelt, nicht weiter verwunderlich ist), die die Verständnistiefe für den hessischen Adel im Alten Reich weiter vorangetrieben hat – und als unumgängliche Grundlage künftiger hessischer Adelsforschungen für das Ende der Frühen Neuzeit gelten darf.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Dieter Wunder: Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts – Herrenstand und Fürstendienst. Grundlagen einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen (Band LXXXIV.  Der Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen), Marburg an der Lahn 2016, XIV und 844 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Tabellen, Festeinband mit farbigem Schutzumschlag, ISBN: 978-3-942225-34-2, erhältlich im Buchhandel für den sehr günstigen Preis von € 39,00.
  • [2] = Dazu siehe ersatzweise a) das Lemma der Korporation bei Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band VII., Stuttgart 2008, Spalte 59-74, b) das Lemma der Sozialgeschichte bei Christoph Cornelssen: Geschichtswissenschaften, Frankfurt am Main 32004, Seite 149-161“, c) das Lemma der Wirtschaftsgeschichte bei Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Band III., Stuttgart 2004, Seite 185-270.
  • [3] = Siehe dazu a) Walter Demel: Der europäische Adel vor der Revolution: Sieben Thesen, in: Ronald G. Asch: Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (1600-1789), Köln / Weimar / Wien 2001, Seite 409-433, sowie b) Gerrit Walther: Freiheit, Freundschaft, Fürstengunst. Kriterien der Zugehörigkeit zum Adel in der Frühen Neuzeit, in: Hans Beck (Hg.): Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und `edler´ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit, München 2008, Seite 301-322.

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