Institut Deutsche Adelsforschung
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Erinnerung und Memoria als formbares Identitätskapital

Beispiele aus europäischen Adelslandschaften der Frühen Neuzeit

Vergangenheit hat etwas ungemein Bestechendes, merkwürdigerweise. Sie hat die Eigenschaft einer seltsamen Authentizität, was ihr besonders deswegen leicht fällt, weil sie nur als Spolium und nur als Spur übrig und also gegenwärtig ist. Sie ist angewiesen auf Medien, in denen sie sich verewigt oder doch zumindest bestimmte Zeiten überdauert. Die Existenz von Vergangenheit in Medien, notwendig selektiv, reklamiert aber allgemein einen Absolutheitsanspruch für sich. Das was man im Bild, im Film, im Ölgemälde, in einem Musikstück – in der Schrift aber vor allem – vor sich sieht, scheint die Wahrheit zu sein, die einzig mögliche Deutungsweise. 

So sehr daher Vergangenheit scheinbar einzigartig existiert, so anfällig ist sie wegen ihres Spurencharakters für Deutungen und diese wiederum sind für Deutungshoheiten anfällig, für willentliche oder auch manchmal unwillentliche und unreflektierte Instrumentalisierungen. Vergangenheit ist eben nicht nur per se vorhanden, sie wird immer in einem Wechselspiel zwischen Gegenwart und Vergangenheit von gegenwärtigen Akteur*Innen und ihren Bedürfnissen gesteuert –und kann sich selbst a conto ihrer leichten `Gebrauchsanfälligkeit´ nicht wehren. So lautet zumindest die kulturwissenschaftliche Abkehr vom Rankeschen Motto, Geschichte zu zeigen, wie sie „eigentlich gewesen“ sei. 

Vergangenheit ist nach dieser (relativ) neuen Sichtweise nicht, sie wird gemacht, erscheint dabei aber seiend und nicht konstruiert. Das ist gefährlich, manchmal freilich auch lieblich und angenehm. Nehmen wir dazu zwei Beispiele aus dem Adel, weil Adel in ganz besonderem Maße von Vergangenheit(en) lebt, sie geradezu, vielleicht mehr als bei anderen historischen Sozialgruppen, als konstitutiv für die eigene Identität im jeweiligen Jetzt benützt hat. Erstens publizierte eine Wiener Zeitung eine scheinbar alltägliche Notiz: „Erzherzogin Renata, die Tochter des Erzherzogs Karl Stephan, hat sich in Schloß Saybusch bei Biala mit dem Prinzen Hieronymus Radziwill verlobt. Erzherzogin Renata ist die zweitälteste Tochter des Erzherzogs Karl Stephan und der Erzherzogin Maria Theresia. Die Braut steht gegenwärtig im 21. Lebensjahre. Der Bräutigam, Prinz Hieronymus Radziwill, entstammt einem alten lithauischen Bojarengeschlechte, das seinen Adel bis zum Jahre 1413 zurückführt. Der Bräutigam ist 23 Jahre und der älteste Sohn des Prinzen Dominikus, Herrschaftsbesitzer auf Schloß Balice bei Zabierow in Galizien.“ [1]

Dennoch war diese Notiz über den Vollzug einer genealogischen Verbindung der Vergangenheit verpflichtet und hatte diese im Sinne der Mehrung symbolischen Kapitals – Ehre, Ruhm, Ansehen oder Prestige, wie immer man es nennen mag – benützt. Alter und Verwandtschaft, beides keinesfalls Verdienste der genannten Personen, wurden herangezogen und als persönlich erklärt. Vor den Augen der Lesenden entstand eine Verwobenheit der Individuen mit dem Spätmittelalter – durch die geradezu als magisch inszenierte Jahreszahl der Ersterwähnung – ebenso wie mit der Erwähnung der Eltern aus regierenden und herrschaftlichen Häusern.  Diese von Zeitungsredakteuren im ehrfürchtigen Stile verbreitete Nachricht paßte gut in die Adelsstrategie der Erinnerung aus Gründen aktueller Selbstdarstellung. Kulturelles und soziales Kapital wurden aufgerufen und durch Performativität – die `Aufführung´ auf  der Pressebühne – perpetuiert; sicherlich ganz im Sinne der genannten Personen.

Adel hieß Vergangenheit haben. [2] Diese Charaktereigenschaft konnte aber auch negativ gewertet werden. Denn der Kikeriki veröffentlichte 1926 unter dem Titel „Noblesse oblige“ ein satirisches Gedicht folgenden Inhalts: „Hier ist die Herrengasse, hier wohnt Alt-Oesterreichs uralter Adel; der hat des Reiches Feinde bekämpft stets ohne Furcht und Tadel. Er hat gekämpft in älterer Zeit mit Schwertern und mit Spießen, dann kam die Moderne und es ging an ein immer entfernteres Schießen. Jetzt ist die neueste Zeit; man kämpft nun äußerst selten nach Außen: Der Feind, der steckt jetzt im Innern mehr, er steckt jetzt weniger draußen. Im Innern wird jetzt gewaltig gekämpft und um mehr als um Landesfetzen, es ist ein Kampf, gar gewaltig und groß, wenn auch ohne Blut und Entsetzen. Man kämpft fast um Alles: um Heimat und Recht, um Glauben und alte Sitten, und um das mangelnde tägliche Brot wird natürlich am meisten gestritten. Doch wär es gefehlt, zu glauben, der Kampf wär ein nied´rer, bloß materieller; bei Gott! Er ist auch ein hoher Kampf, ein edler und ideeller. Bei Gott! Man kämpft wahrhaftig nicht bloß um des Bauches weitere Rundung: Man kämpft vor allem mit äußerster Kraft um moralische Wiedergesundung. Es ist ein wahrer Verzweiflungskampf mit übermächtigen Feinden, und der müde Kämpfer ermattet schier, schaut um sich nach mächtigen Freunden. Doch schaut er sich leider vergeblich um, er bleibt auf sich selbst angewiesen; er muß ihn erlegen allein, so allein, den schmutzigen, mächtigen Riesen. Hier ist die Herrengasse, hier wohnt Alt-Oesterreichs uralter Adel; der hatte des Reiches Feinde bekämpft stets ohne Furcht und Tadel.“ [3]

Ebenso wie schon in der Verlobungsmeldung findet sich in dieser Quelle der Rückgriff auf die Vergangenheit des spätmittelalterlichen Rittertums, allerdings kontrastiert mit den Herausforderungen eines Standes in der Formierungsphase der Moderne. Vergangenheit kann Fluch, kann aber auch Segen sein – sie kann aber leicht gelenkt werden, indem man Deutungshoheiten erlangt und Versionen von Vergangenem – je nach aktueller Zweckverfolgung – inszeniert. 

Der Historiker Martin Wrede hat diesen Umgang mit der Vergangenheit in Form der Erinnerung in seiner Habilitationsschrift mit dem Titel „Ohne Furcht und Tadel für König und Vaterland“ – einen Titel, den er im Laufe der Untersuchung mikrochirurgisch dekonstruiert – anhand von fünf europäischen Hochadelsfamilien (die sich alle im niederländischen Raum trafen), vortrefflich herausgearbeitet (Croÿ, Arenberg, Nassau, La Trémoille, La Tour d´Auvergne). Er beobachtet ihre Vergangenheitspolitik als Identitätskapital, untersucht deren Umgang mit der Memoria, mit passenden und unpassenden Familienvertretern in Memoiren, genealogischen Tafeln und sonstigen Medien vom 16. bis 18. Jahrhundert. 

Dabei nutzt er die Assmannsche Gedächtnistheorie ebenso wie er  Ansätze der Adels-, Dynastie- und Erinnerungsforschung miteinander kombiniert, stellt aber bedauerlicherweise keine Klassifikation oder Typologie der Erinnerungstechniken auf. Er bleibt als fünffache Fallstudie in einer `dichten Beschreibung´ und daher eng an den Familien, was die Arbeit als Tiefenbohrung mit Detailtreue durch myrioramatische Beobachtungsgabe auszeichnet. Aber auch Wrede kommt zu dem Schluß, dass es, wie dies schon in dem eingangs erwähnten Beispiel anklang, vor allem die Faktoren von Alter und Verwandtschaft waren, die als maßgebliche Bausteine einer gegenwartskonstruierten Memoria wichtig waren. Er geht dabei auch ein auf die Gegenphänomene, d.h. den memorialen Umgang mit teils als mißliebig betrachteten Individuen in der Familie, der je nach Anspruch wechseln konnte. Bestimmte Vergangenheitsaspekte wurden in unterschiedlichen Lagern des Hauses und der Familie verschiedentlich gewichtet, verkürzt, ausgeschmückt, vernachlässigt oder verschwiegen. [4] 

Dies zeigt Wrede aber nicht nur anhand von Bildern, genealogischen Tafeln und Schriften, sondern auch anhand leibhaftiger Vorstellungen wie Ordensveranstaltungen und Turnieren. Und er geht ausführlich auch auf das reiche Spannungsverhältnis zwischen Adel und Moderne, Tradition und Fortschritt, Geldhaben und Geldverdienen, auf verarmten Adel, auf Adelskrisen und -reformen ein, um den adeligen `Kampf ums Obenbleiben´ aus Sicht des Erinnerungstheoretikers in der aufziehenden Moderne nachzuzeichnen. Gerade die Erörterung dieser Gegenphänomene und ihres Platzes in der Memoria läßt das Bild abgerundet erscheinen. 

Vom Adel ist angenommen worden, daß er ein `Meister der Sichtbarkeit´ gewesen sei. [5] Dies arbeitet Wrede in vielen Facetten (u.a. auch an dem historisch-hochadeligen Umgang mit den Begriffen `Haus´ und `Rittertum´) heraus; er zeigt aber auch das `unsichtbar´ Gehaltene, das von Historiker*innen wie ihm (und anderen der Profession) gleichwohl aber sichtbar gemacht werden kann –und auch gemacht wurde. [6] Über den Rahmen der fünf Familien hinaus ist Wredes Beitrag eine konzise Studie über die Instrumentalisierung von adeliger Erinnerung und ihrer stets mitzudenkenden gegenwärtigen Bedingtheiten. Seine Stärke liegt in der Dekonstruktion und so kann auch konstatiert werden, daß sowohl in der Radziwillmeldung als auch im Kikeriki mit seiner Anspielung auf die großen Adelsstadtpaläste im ersten Wiener Bezirk nicht Vergangenheit als beliebiges Komposit eines Narrativs auftauchte, sondern als gelenkter Faktor bestimmten Zwecken diente. Diese grundlegende Ontoformativität von Vergangenheit sollte nicht aus dem Blickfeld geraten, wenn historische Arbeit geleistet wird; sie ist hier in dieser Mikro- wie Mesostudie überzeugend verwirklicht worden. Und Adel, so muß man mit Wrede nun konstatieren, war in bestimmten Fällen eben auch ein `Meister der Unsichtbarkeit´.

Wrede hat darüber hinaus auch – im Prinzip als Exkurs weitgehend außerhalb seiner Fünffamilienstudie – Bemerkungen zum Quellenbegriff des europäischen (Gegen-) Phänomens des `Halbadels´ gebracht, den er gern zu einem Methodenbegriff aufgewertet wissen will (Seite 381 und 401); dieser Ansatz für eine Bezeichnung des Adelsproletariats, bisher eher Forschungsgegenstand des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, [7] aber eben auch schon ein im 18. Jahrhundert wahrgenommenes Phänomen, ist überdenkenswert. 

Der Adelstheoretiker Johann Michael von Loën hatte ihn einst 1752 etabliert oder verarbeitet, [8] er wurde dann weitergetragen für mindestens ökonomisch – wenn nicht auch kulturell und sozial – `deklassierten´ Adel, für  die „jungen Damen der Viertel-Aristokratie, die von Grafen träumen und wissen, daß sie Lederhändler werden heiraten müssen.“ [9] Dieser weitgehend noch unerforschte Begriff lohnt indes in der Tat eine weitere Beschäftigung und nähere Betrachtung. Sie wird dankbar ausfallen, verstand sich Adel doch in der Frühen Neuzeit und teils auch noch in der Formierungsphase der Moderne als klar abgrenzbarer Stand. 

Genau wegen dieser Wahrnehmung eignet er sich auch hervorragend für die Beobachtung devianter Momente. Das gilt ebenso für den Bereich der Marginal Man und Randseiter des Adels in der erwähnten ökonomischen Sphäre als auch für die Behandlung der plèbe nobiliaire (Seite 389) in den illokutionären Schrift-, Sprach- oder Malakten der Adelsfamilien. Insofern kann Wredes Studie als anregende Lektüre – mit vielen französischen Einsprengseln eines erkennbar frankophilen Verfassers – verstanden und empfohlen werden, zumal sie nicht an Landesgrenzen Halt macht und so europäische Adelsstrategien offenbaren kann, selbst komparatistisch arbeitet, aber auch zu vergleichenden Studien anregen kann.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio: Verlobung im Kaiserhause, in: Illustrierte Kronen-Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 3105 vom 22. August 1908, Seite 2.
  • [2] = Dazu auch Gregor v.Rezzori: Idiotenführer durch die deutsche Gesellschaft 2 – Adel. Aus guten Kisten und, wenn möglich, noch besseren Ställen. Wertvolle Anleitungen zu Kenntnis und Verständnis der vorbildgebenden, tonangebenden sowie schlichthin angebenden Gesellschaftsschicht, Reinbek bei Hamburg 1962, Seite 8, 23, 25, 46-47 und 54. 
  • [3] = Nomen Nescio: Nobelsse oblige, in: Kikeriki. Humoristisches Volksblatt (Wien), Ausgabe Nr. 1 vom 2. Jänner 1896, Seite 3.
  • [4] = In der Fremdwahrnehmung aber konnte dieses Pochen auf die Vergangenheit und auf das Rittertum, wie eingangs ebenfalls gezeigt, rasch ins Gegenteil verkehrt werden; Fremdwahrnehmungen stehen jedoch nicht im Fokus von Wredes Arbeit.
  • [5] = So Heinz Reif: Einleitung, in: Heinz Reif (Hg.): Adel und Bürgertum in Deutschland I. – Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, Seite 14.
  • [6] = Martin Wrede: Ohne Furcht und Tadel – Für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal und Fürstendienst (Band 75 der Beihefte der Francia, herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut Paris), erschienen im Verlag Jan Thorbecke, Tübingen 2012, Format 17 x 24 cm, 484 Seiten, Leinenband mit Schutzumschlag und Personenregister, ISBN: 978-3-7995-7466-2 Preis: 64 €.
  • [7] = Eckart Conze: Adelsproletariat, in: Eckart Conze (Hg.): Kleines Lexikon des Adels, München 2005, Seite 36.
  • [8] = Johann Michael von Loën: Der Adel, Ulm 1752, Seite 59.
  • [9] = Nomen Nescio: Kranke Kunst, in: Neue Freie Presse (Wien), Morgenblatt-Ausgabe Nr. 12808 vom 21. April 1900, Seite 2.

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