Institut Deutsche Adelsforschung
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Interkulturelle Motive und Folgen frühneuzeitlicher Reiseberichte

Rezension einer 2014 erschienenen Buchnovität aus dem Schönigh-Verlag Paderborn

Reisen hat in je individuellen Hintergründen, aber auch in kollektiven Erfahrungen, Wünschen und Vorstellungen seine Motivationsgründe. Die Entwicklung des massenhaften Tourismus im XIX. Jahrhundert hatte dabei ebenso wie die Pilgerfahrten des Mittelalters, die gewaltreichen Kreuzzüge oder die Grand Tour (Peregrination) der jungen Adelssöhne im XVII. und XVIII. Jahrhundert eine je eigene Prägung und unterschiedliche Ziele. Allgemeine oder manierliche Standesbildung, Abwechslung vom Alltag oder spirituelles Erlebnis konnten hier mannigfaltige Gründe sein.  Davon zeugen nicht zuletzt auch viele Reiseberichte, die Aufschluß geben über Reisemotive und Reisegründe (sie sind für den deutschsprachigen Raum u.a. über die Eutiner Landes- und Reisebiliothek unter der Adresse Lb-eutin.de online als hervorragende bibliographische Datenbank, derzeit rund 20.000 Titel enthaltend, erschließbar). Motive und Gründe des Reisens waren und sind aber nicht zuletzt auch über die Literatur erkennbar, sei es beim Werther oder bei Wilhelm Meisters Lehrjahren. Der eine Protagonist zieht aus, um zu vergessen, der andere, zum zu lernen und sich zu entwickeln, Lebensaufgaben kennenzulernen und zu meistern.

Darüber hinaus aber waren mit Reisen auch bestimmte andere Motive verbunden. Philobatismus oder Abenteuerlust war eines von ihnen, ein anderes die gesuchte gesellschaftliche Anerkennung und die daraus sich zumeist ergebende erwünschte Zuschreibung von Prestige. Allgemein gilt, daß Reisende welterfahren waren, genügend Zeit und Geld besaßen, um es — der Theorie des Soziologen Thorstein Bundle Veblen nach — für unproduktive Tätigkeiten zu „verschwenden“ und damit demonstrativ zur Schau zu stellen, daß sie nicht arbeiten mußten. Denn wer es sich im Zeitalter des Kapitalismus leisten konnte, unproduktiv zu sein, mußte über genügend pekuniäre Ressourcen verfügen, die er wohl über seinen Lebensunterhalt hinaus erwirtschaften konnte. Reisen in diesem Sinne war das äußere Anzeichen von Wohlhabenheit und vielfach gilt dies auch noch heute in der Postmoderne. Gleichwohl galt für Vergangenheit wie Gegenwart, daß nicht alle Reisenden wohlhabend waren. 

Es gab auch Reisemotivationen von wirtschaftlich schlecht Gestellten, die gerade aus pekuniären Gründen reisten, denkt man an kleinste und meist einzeln oder in kleinen Gruppen reisende Spartenunternehmer wie Bärentreiber vom Balkan, Drahtbinder aus Ungarn oder Mausefallenhändler. Bei ihnen war ebenso wie bei Sinti und Roma das Reisen andersgründig motiviert — und oft etablierten und seßhaften Akteuren mit anderen Mentalitäten ein Dorn im Auge. Reisen freilich hat immer auch eine besondere Dimension der Andersheitserfahrungen mit sich gebracht. 

Auf Reisen begegnet „das Eigene“ „dem Eigenen“ durch die Konfrontation mit „dem Anderen“, werden Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt oder geben Anlaß zur Bereicherung und freiwilligen wie auch erzwungenen Hybridisierung, zum Zurückzug oder zur Ablehnung und Bekämpfung „des Anderen“. Der Grat zwischen apozyklischem und enzyklischem Verstehen ist hier schmal. Apozyklisches Denken nach Yousefi (Hamid Reza Yousefi: Interkulturelle Kommunikation, Darmstadt 2014, Seite 100-106) besieht sich in der interkulturellen Begegnung nur,  wie „das Eigene“ „das Eigene“ und „das Fremde“ sieht. Enzyklisches Denken aber bemüht sich darum, wie „das Eigene“ „das Eigene“, „das Eigene“„das Fremde“ und — ganz entscheidend für eine interkulturelle Hermeneutik — „das Fremde“ „das Eigene“ besieht.

Daß dieses — trotz aller Globalisierung — noch nicht all zu weit verbreitete Modell einer interkulturellen Hermeneutik an gegenwärtigen wie auch historischen Beispielen nur selten angewendet wird, muß verwundern. Die Gegenwart lehrt den Menschen und die Weltgesellschaft des XXI. Jahrhundert vermehrt, interkulturell zu denken, will sie den Weltfrieden bewahren oder ihn wieder herstellen. Denn überall dort, wo sich apozyklische Denkweisen festsetzen, entstehen geistige Verhärtungen und Ideologien, die nicht einmal die Möglichkeit des Verstehens der angeblichen „Gegenseite“ (die natürlich in erster Linie ein durch Agenda-Setting formiertes diskursives Konstrukt ist) zulassen möchten.

Der Ruhrgebietler Dr. phil. Wolfgang Treue (*1963, seit 1994 promoviert) hat dagegen, ohne Yousefis Modell zu nennen und zu kennen, diese interkulturellen Begegnungs- und Verwertungsszenarien für spätmitterlalterliche und frühneuzeitliche Reiseberichte benutzt. Ihm geht es darum, wie „das Andere“ auf „das Eigene“ wirkte, einmal unmittelbar auf die Reisenden selbst, aber auch auf die Gesellschaft der damaligen Zeit. Es dürfte mittlerweile als Allgemeinplatz gelten, daß die europäische Moderne ohne außereuropäischen Einfluß so gar nicht existieren würde. Kaffee, Tee und Zucker, im XXI. Jahrhundert unter anderem integrale Bestandteile einer genuin „deutschen Kultur“, sind außereuropäisch verortet, mithin außereuropöische Erinnerungsorte im Europäischen. 

An dieser schleichenden Verwandlung Europas, aber auch an dem aus einem streng dichotomistischen Denken entstandene Begriff des „Okzidents“, der nur noch in betont apozyklischer Manier als monolithischer Block betrachtet werden kann, haben auch Reisende und Reiseberichte mitgewirkt. Sie veränderten vor allem seit dem Columbian Exchange und der Ablösung des in sich geschlossenen Wissenssystems der Scholastik nicht nur das Wissen um andere außereuropäische Erdteile, sondern auch das europäische Bewußtsein, ebenso wie natürlich das europäische Eindringen in indigene Kulturen Süd- oder Nordamerikas zu einer Wissens- und Bewußtseinsveränderung daselbst geführt hat.

Der Historiker Wolfgang Treue hat sich nun 2008 mit einer Schrift an der Universität Duisburg-Essen habilitiert, die den Titel „Abenteuer und Anerkennung. Reisende und Gereiste in Spätmittelalter und Früher Neuzeit“ trägt und die sich diesen interkulturell fruchtbaren Austauschprozessen widmet. Das Buch — 2014 erschienen — umfaßt 377 Seiten, ist gebunden mit Lesebändchen, wurde vom Verlag Schöningh zu Paderborn verlegt, besitzt 53 schwarz-weiße und 22 farbige Abbildungen und kostet 44,90 Euro. Seiner Gliederung nach teilt es sich ein in vier große Abschnitte. Kapitel 1 befaßt sich mit den Voraussetzungen der Reisen, wobei insbesondere die „Erweiterung des europäischen Horizonts“ (Treue hantiert hier etwas veraltet noch mit dem fast an apozyklische Sichtweise erinnernden Begriff „des Fremden“ statt „des Anderen“) angesprochen wird (Seite 15-40).

Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen und Bewußtseinsänderungen wurden die Vorbereitungen für neue Reisen von neuen Reisenden getroffen, die in Kapitel 2 geschildert werden (Seite 71-70). Hauptteil der Arbeit ist Kapitel 3, das sich der Reise selbst widmet (Seite 71-253). Allerdings gilt dies in der forschenden Retrospektive nur selten für unmittelbare Erlebnisse. Vielmehr benutzt Treue neben Tagebüchern hauptsächlich später publizierte Reiseberichte, was unter anderem bedeutet, daß auch sie schon wieder diskursiv beeinflußt und verwässert worden sind (durch Einflüsse der Gesellschaft des Reisenden ebenso wie durch verklärende oder selektive Erinnerungen mit Zeitverzug zwischen Erlebten und Niedergeschriebenem). Insofern ist dies Kapitel nicht ganz trennscharf zu absentieren von dem letzten Abschnitt 4, der sich mit „Rückkehr und Resultaten“ (der Reisenden) beschäftigt, namentlich der Reisememoria und ihren Funktionen. In allen Abschnitten aber geht Treue sowohl auf die Wirkung der Reisen, auf die Reisenden selbst als auch auf die sie umgebenden Heimat-Gesellschaften ein. 

Und er weist in enzyklischer Manier nach, daß Europa sich eben auch auf außereuropäische Erfahrungen berief, herangebildet wurde, sich ständig veränderte und seine Identität herleitete. Treues Verdienst ist es, diesen Aspekt bedacht zu haben. Man könnte Treues Ansatz daher als so etwas wie den „New Historicism“ der Reiseliteraturforschung nennen. Nicht mehr nur die unmittelbare Erfahrung der Reisenden, auch deren mittelbare gesellschaftliche Wirkung werden untersucht. Dies ist in der Forschung ein erfrischender Ansatz, auch wenn gerade die Wirkungs- und Rezeptionsforschung literarisch oder bildlich niedergelegter Entitäten ein heikles Thema ist. Man sieht es am Werther. Die Forschung ist sich bis heute nicht darüber ganz klar, ob denn nun durch die Lektüre des Werthers tatsächlich Selbstmorde ausgelöst wurden oder nicht. Denn selbst aus der Lektüre eines Werkes kann nicht monokausal auf dessen Wirkungen geschlossen werden, da Literatur und Bilder keinen Automatismus in der Folgewirkung aufweisen. 

Die je eigene und individuelle Veranlagung, die Rezeptionsvoreingenommenheit oder der ideologische Standpunkt waren und sind dabei stets ebenso mitwirkend wie kollektive Haltungen, Erfahrungen, Ängste oder Wünsche. Dies zeigt Treue beispielhaft an vielen Reiseberichten, die er unter neuer Perspektive analysiert und die sich im Hauptteil vor allem interkulturellen Begegnungsszenarien  auf den Gebieten Sprache, Kleidung, Religion, Frauenrolle und Ernährung widmet. 

Die von Treue stets verwendete Kontextualisierung anhand der historischen Quellen machen seine Ausführungen lebendig und farbenfroh, füttern sie mit Leben. Treues Werk kann daher als ein leitbildgebendes Exempel interkulturell bemühter und orientierter historischer Forschung gelten, das in ähnlicher Manier hoffentlich in Zukunft noch weitere Nachahmer finden möge.

Diese Besprechung stammt von Claus Heinrich Bill (B.A.) und erscheint zugleich gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.


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