Politisches Verhaltensrepertoire von Teilen des ostelbischen Adels
Ein Familienbeispiel aus der deutschen Zeitgeschichte auf Mikro-
und Mesoebene
Nach dem zweiten Weltkrieges hatte Hasso v.Wedel (1898-1961) als
Abwehrmaßnahme des Ichs gegen Bedrohungen der eigenen Identität
betont, NS-Führung und Wehrmacht hätten keine ideologischen Berührungspunkte
miteinander gehabt und sich in ständigem Kompetenzkonflikt miteinander
befunden, wobei er auf Seiten der Wehrmacht – ab 1939 Chef der Abteilung
für Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht tätig –
sich gegen die Politisierung der Wehrmacht gewandt habe. So bekannte er
1951 bei einem Interview: „Nach meiner Ansicht darf eine Wehrmacht innerpolitisch
nicht interessiert sein.“ [1]
Ob diese Erkenntnis erst durch die Verarbeitung des Weltkriegserlebens
zustande kam oder bereits immer zu seinen Grundsätzen gehörte,
ist nicht ermittelbar. Im Jahre 1938 jedoch vertrat er folgende – gegenteilige
– Auffassung: „Entstanden aus dem soldatischen Erleben des Weltkrieges,
gereift in jahrelangem zähem Kampf, hat die NSDAP auf allen Gebieten
völkischer und staatlicher Lebensäußerung die Führung
in Händen. Sie ist damit die organisatorische Zusammenfassung aller
Menschen und Kräfte geworden, die die politische und weltanschauliche
Richtung im Reiche bestimmen. Der Reichsparteitag der NSDAP ist daher die
alljährliche große Heerschau dieser tragenden Kräfte des
Reiches.
Nach dem Willen Adolf Hitlers ruht das Dritte Reich auf den zwei
Säulen: Partei und Wehrmacht. Beide gehören damit auf Gedeih
und Verderb zusammen; die eine als Gestalterin des politischen Willens,
die and[e]re als Trägerin der Wehrkraft. Die Wehrmacht des Dritten
Reiches verdankt ihr Werden und Sein dem Willen des Führers, ihres
obersten Befehlshabers. Sie muß und wird deshalb allezeit fest in
der nationalsozialistischen Weltanschauung verankert sein. So sehr auch
manche Kreise im Auslande, und besonders unter den Emigranten diese unumstößlichen
Tatsachen verneinen und ableugnen mögen, so fest und sicher bekennt
sich die deutsche Wehrmacht selbst immer wieder zu ihnen.“ [2]
Die hier sich ausdrückende Spannung der Auffassungen desselben
Mannes durchzieht indes nicht nur das Leben des Offiziers Hasso von
Wedel, sondern auch das vieler anderer Zeitgenoss*innen. Exemplarisch hat
diese Spannung nun der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Wolf Christian von
Wedel Parlow [3] anhand von Befürwortung und Gegnerschaft einzelner
historischer Angehöriger seiner Familie in einem neu erschienenen
Buch – nach Westernhagenscher Manier [4] – nachgezeichnet. [5]
Derlei Werke, in denen Familienangehörige im Ruhestand die
Biographien früherer Vertreter*innen aufarbeiten, sind nun keine Seltenheit.
Im Gegenteil war die Beschäftigung mit der Genealogie und den Vorfahren
bis 1919 eine für den Adel und seit 1919 für die historische
Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen deutschen Adels geradezu notwendige
Distinktionsmaßnahme zur Aufrechterhaltung „adeliger“ Identität.
Adel kennzeichnete sich durch Anciennität, durch organisierte Frühzeitigkeit,
durch Tradition und möglichst weit zurückreichende Herkunft,
[6] sie legitimierte Herrschaftsstellungen durch bloßes Alter und
durch die Betonung des Erbcharismas. [7]
Bei dieser memorialen Arbeit jedoch galt es allgemein, gewisse ungeschriebene
Regeln zu beachten, die über die Sozialisation verinnerlicht wurden.
Hierzu zählte in Medien der Erinnerungskultur die Hervorhebung prestigemehrender
und die teils feinstufig erfolgenden verschiedenen Formen der Entinnerung
für Renegaten oder die devianten Familienangehörigen [8] als
Instrument der Familienpolitik. [9] Familienangehörige, die sich im
traditionellen Sinne betätigt hatten, wurden dabei sichtbar, andere
hingegen unsichtbar gemacht. [10] Dies war nach 1945 namentlich bei Straftäter*innen
und sich nationalsozialistisch betätigenden Personen der Fall und
hier macht auch die Familie von Wedel zunächst keine Ausnahme.
Allerdings hat sie von Familienverbandsseite aus im Jahre 2006 dennoch
die Bearbeitung des Themas „NS und Familie“ angeregt, die dann der Autor
des Buches übernommen hatte. [11] Doch auf ihn traf zu, was auf manche
Forschende zutraf. Das Forschen über Renegat*innen und NS-Vertreter*innen
in den eigenen Reihen des familiären Umfeldes (man müßte
eher sagen Vorfeldes), stigmatisierte den Verfasser selbst zu einem Renegaten;
ihm wurde, wie er an einer Stelle bemerkt, „Nestbeschmutzung“ vorgeworfen
(Seite 11). [12] Dies kennzeichnet die problematische und nicht konfliktfreie
Stellung, der sich der Verfasser mit der Übernahme dieser Aufgabe
aussetzte. Er war einerseits Mitglied der Familie, über die er selbst
forschte und schrieb, hatte dadurch Zugang zu manchen für externe
Forschende wohl eher verschlossen gebliebenen Quellen, war aber andererseits
auch bemüht, zu verstehen, welche Motive und Überzeugungen bei
seinen historischen Verwandten vorherrschten. Oft auf der Suche nach Hidden
Agendas, spekuliert der Verfasser vor allem aufgrund der familieninternen
Quellen über das Äußere und das Innere seiner Protagonist*innen
und läßt dabei auch Kinder und Enkel der Betroffenen selbst
zu Wort kommen. [13]
Das Buch beinhaltet also dreierlei: Quellenbelege aus dem Familienarchiv,
Einschätzungen und Erklärungsversuche eines kritischen und um
Aufklärung intrinsisch bemühten Familienmitglieds aus einer spätgeborenen
(noch nicht aber nachgeborenen) Generation (Wedel Parlow ist Jahrgang 1937),
zudem Ansichten der erinnernden Nachfolgegenerationen der Zeitgenoss*innen.
Analytisch ist dies Dreiergespann der Perspektiven im Werk nicht scharf
getrennt, sondern vielfach miteinander vermischt. Dies erschwert die Trennung
von eindeutigen Fakten einerseits und Meinungen andererseits. Hinzu tritt
eine andere Eigenart des Buches. So betont der Verfasser (Seite 13), er
habe die Beachtung der forschenden Literatur zum Thema „Adel und NS“ als
„gar nicht notwendig“ erachtet, weil Malinowski (2004) in seiner Studie
schon „einen großen Teil der vorhandenen Quellen aufgearbeitet“ habe.
[14]
Hier erliegt der Verfasser jedoch einem doppelten Mißverständnis.
Denn Malinowski hatte einerseits mitnichten einen überhaupt den Themenkomplex
betreffenden Quellengroßteil aufgearbeitet, sondern nur die ihm für
seine spezifische Fragestellung (Radikalisierung des Kleinadels bis 1933)
geeignet erscheinenden Quellen eingesehen und andererseits ist Literatur
nicht mit Quellen gleichzusetzen. Insofern übersieht Wedel Parlow
die zeitlich nach Malinowski (d.h. nach dem Jahre 2004) erschienenen Auseinandersetzungen
mit dem Thema geflissentlich, obschon sie andere Fragestellungen besaßen,
teils andere Zeiten behandelten und auch andere Quellen ausgewertet hatten.
[15] Das hier durch Wedel Parlow proklamierte Ende der Quellenauswertung
zum Thema „Adel und NS“ würde indes, wollte man ihm Folge leisten,
die Zunft der Historiker*innen künftig arbeitslos werden lassen, die
Malinowskischen Thesen zudem als finales Blickwinkelkonstrukt proklamieren.
Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß sich Wedel Parlow als
innerfamiliärer Frondeur redlich um die Aufklärung der Frage
bemüht hat, wie das Verhältnis der Wedels zum NS ausfiel. Er
schildert Voraussetzungen, sieht beispielsweise in sozialpsychologischen
und ökonomischen Rahmenbedingungen (Güternot in der Weimarer
Republik, Ende der Monarchie 1918, verlorener erster Weltkrieg) Gründe
für das Engagement einzelner Familienangehöriger im NS, untersucht
aber ebenso kleine und größere Taten des Widerstrebens und des
Widerstandes [16] – und kommt daher zu einem myrioramatischen Ergebnis,
dessen Gehalt sich durchaus nicht in einer pauschalen Einseitigkeit erschöpft.
Zu vielfältig waren Anpassungs- oder Trittbrettfahrer-Effekte, als
daß sich hier ein Urteil über die ganze Familie fällen
ließe. Wedel Parlow hat leider auf quantitative Untersuchungen verzichtet,
so z.B. auf die Fragen, welchen Berufen die in die NSDAP eingetretenen
Personen besaßen, in welchem Alter sie eintraten et cetera (obschon
er die entsprechenden Daten aus dem ehemaligen Berlin Document Center und
der dort verwahrten Mitgliederkarteien der NSDAP kannte; dies geht aus
Seite 40 und 180 hervor).
Gleichwohl hat Wedel Parlow ein bemerkenswertes Buch verfaßt.
Es ist der noch seltene Versuch, die Geschichte der Familien in Beziehung
ihrer Stellung zu einer politischen Ideologie zu untersuchen, ein bedeutendes
Zeugnis der Memorialkultur auf der Mikroebene und der Umgangsweise mit
der NS-Erinnerung. Aus diesem Grunde ist der Band auch zurecht weniger
als umfassende historische Darstellung als vielmehr als Zeugnis der Kontroversen
der Erinnerungspolitik der Familie und einzelner ihrer Mitglieder zu sehen
und von Jürgen Reulecke, einem Gießener Erinnerungskulturforscher,
in den Schriftenreihenrahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung
einrangiert worden (Geleitwort, Seite 7-9).
Der Titel des Werkes ist indes leider ein wenig irreführend.
Tatsächlich handelt es sich zwar um eine Arbeit über „ostelbischen
Adel im Nationalsozialismus“, allerdings hat Wedel Parlow es bewußt
vermieden, die Mesoebene außerhalb der Familienorganisation zu betrachten.
Es geht daher ausschließlich um ausgewählte Familienmitglieder
der Wedels, nicht um andere Familien des ostelbischen Adels, auch nicht
um Verbände wie Ritterschaften oder die Deutsche Adelsgenossenschaft;
ein Titel wie „Die Familie von Wedel im NS-Staat“ wäre daher passender
gewesen. Auf den ersten Blick jedoch scheint der Titel „Ostelbischer Adel
im Nationalsozialismus – Familienerinnerungen am Beispiel der Wedels“ logisch
aufgebaut zu sein. Tatsächlich gibt es im Buch zwei Kapitel, die die
Hinleitung der Induktion zum Gesamttitel des Buches rechtfertigen sollen.
Zunächst wird in einer Einleitung über „ostelbischen Kleinadel
im Nationalsozialismus“ (Seite 15-33) gesprochen, dann in einem Kapitel
deduktiv über „Die Wedel – typischer ostelbischer Kleinadel“ (Seite
35-38).
Doch anstatt über beide Kapitel die Argumentation weiterzuführen,
wird dort lediglich auf die Landgebundenheit als besondere Eigenschaft
der Wedels verwiesen; alle anderen Mentalitätskerne werden nicht behandelt.
[17] Insofern wird bedauerlicherweise der Zusammenhang der Ableitung nicht
ganz klar, die zwischen ostelbischem Adel einerseits und der Familie andererseits
bestehen soll. Ungeklärt bleibt damit auch die Frage, inwiefern denn
die Wedel typisch für den ostelbischen Kleinadel sein sollen. Wenn
damit tatsächlich Landbesitz gemeint sein sollte, dann ist diese Ableitung
nicht zielführend, weil viele Kleinadelige nicht über Landbesitz
verfügten, sondern landlos agierten. [18] Kleinadelige gehörten
aber, ebenso wie vermögende hochadelige Großgrundbesitzer, zum
heterogenen Adel dazu.
Sieht man jedoch von der Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt ab,
so bietet sich den Lesenden des Buches dennoch eine wertvolle Quelle an.
In erster Linie ist darin eine Form der Verarbeitung kritischen politischen
Engagements durch die Familie zu sehen, zudem wurden hier seitens des Verfassers
wichtige Quellen offengelegt. Allein deswegen und weil solche Arbeiten
noch höchst selten publiziert werden, ist der vorliegend besprochene
Band insgesamt als Diskursbeitrag zur familiären Vergangenheitsbearbeitung
lesens- und beachtenswert.
Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint
ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.
Annotationen:
-
[1] = Wolf Christian von Wedel Parlow: Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus,
Göttingen 2017, Seite 174.
-
[2] = Nomen Nescio: Wehrmacht und Reichsparteitag, in: Neues Wiener
Tagblatt (Wien), Nr. 246 vom 7. September 1938, Seite 12.
-
[3] = Die Familie wird (ungewöhnlicherweise für Doppelnamen)
in der Regel ohne Bindestrich geschrieben.
-
[4] = Das Buch steht in der Tradition der noch jungen familiärmonographischen
Erinnerungsliteratur zur Auseinandersetzung einer Adelsfamilie mit dem
NS. Als eines der Pionier*innen-Werke hierfür kann gelten: Dörte
von Westernhagen: Von der Herrschaft zur Gefolgschaft – Die von Westernhagens
im „Dritten Reich“, Göttingen 2012, 302 Seiten mit 77 Abbildungen
(Band XXVI der „Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs). In späterer
Zeit, wohl ab Mitte des XXI. Jahrhunderts, könnte diese Art Schrift
in der Adelsforschung als Übergangstypus klassifiziert werden, der
schließlich, befreit von persönlichen Emotionen der Kinder und
Enkel, zu einer weiteren Versachlichung der Analysen führen könnte
(gerade auch bedingt durch den zeitlichen Abstand von den Ereignissen,
die höchstens noch die je eigene Großelterngeneration tangiert
haben).
-
[5] = Wolf Christian von Wedel Parlow: Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus
– Familienerinnerungen am Beispiel der Wedel, Göttingen 2017, mit
einem Geleitwort von Prof. Dr. Jürgen Reulecke, erste Auflage 2017,
Verlag V&R Unipress in Göttingen, 199 Seiten mit 17 Abbildungen,
ISBN 978-3-8470-0758-6 (Band LXIV der Schriftenreihe „Formen der Erinnerung“),
erwerbbar zum Preis von 27,99 Euro im Buchhandel. Darin werden jedoch nicht
alle Familienmitglieder beachtet. So bleibt die Einordnung von Elka v.Wedel
als Leiterin des Auslandsamtes der Reichsjugendführung des Bundes
Deutscher Mädel bzw. „Reichsjugendreferentin im Auslandsamt“ außen
vor (sie fehlt im Personenverzeichnis auf den Seiten 197-199 bei den dort
genannten Wedels). Siehe dazu u.a. a) Nomen Nescio: BDM-Führerinnen
in Rumänien, in: Banater deutsche Zeitung (Timisoara), Nr. 29 vom
8. Feber 1940, Seite 3, b) Nomen Nescio (v.M.): Nachmittagstreffen der
Jung-Spanier mit der HJ, in: Hamburger Anzeiger (Hamburg), Nr. 189 vom
15. August 1938, Seite 6.
-
[6] = Siehe dazu Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe),
Tübingen 5. Auflage 1972, Seite 177-180 und 534-540.
-
[7] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Sechs adelige Mentalitätskerne,
in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte
1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für
die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg
på øen Als 2017, Seite 22-23.
-
[8] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Memoriale Kybernetik bei Fällen
von Adelsdevianz, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas
zur deutschen Adelsgeschichte 1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten
Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen,
Sønderborg på øen Als 2017, Seite 16-17 sowie Claus
Heinrich Bill: Doppelte Adels-Kohäsion, in: Ibidem, jedoch Seite 10-11.
-
[9] = So wurde um 1951 ein Familienmitglied von Vettern dazu aufgefordert,
den Namen „von Wedel“ für sich, seine Frau und seine Kinder abzulegen,
damit seine Tätigkeit als Mitarbeiter von Joseph Goebbels nicht weiter
mit dem Familiennamen öffentlich in Verbindung gebracht werden könne
(memoriale Flurbereinigung). Zu diesem Vorgang siehe im besprochenen Buch
Seite 102. Es finden sich überdies auch Zeugnisse und Bekundungen
von Betroffenen, die ihre Mitgliedschaft bei der SS im Nachhinein vor ihrer
Familie bedauerten (z.B. ibidem, Seite 71).
-
[10] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Adel als Meister der Sichtbarkeit,
in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte
1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für
die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg
på øen Als 2017, Seite 36-37.
-
[11] = Bis dahin dominierte in der zweiten Hälfte des XX. Centenariums
in der Familiengeschichtsschreibung des historischen deutschen Adels der
Typ der Familiengeschichte, der das Thema NS nur dann ansprach, wenn sich
widerständige Haltungen verorten ließen (Typ A) oder das betreffende
Familienmitglied, bei dem man ein NS-Engagement nicht umgehen konnte, als
Außenseiter etikettiert werden konnte (Typ B). Ein Beispiel für
den Typ A ist Vorstand des Familienverbandes derer von Kleist (Hg): Geschichte
des Geschlechtes von Kleist. Fortführung 1880-1980, Braunschweig 1982.
-
[12] = Daß die Beschäftigung mit Renegaten die entsprechenden
Akteur*innen mit dem Etikett eines wandernden Stigmas selbst deviant werden
lassen kann, zeigte Goffman (1988) in seiner Stigmastudie auf. Siehe dazu
Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter
Identität, Frankfurt am Main 8. Auflage 1988, Seite 42-43.
-
[13]= An diesen Äußerungen wird dann besonders offenbar,
wie Entinnerung funktioniert, u.a. dort, wo sich entsprechende Verantwortung
für Taten nicht leugnen ließ. Dies konnte durch Anwendung der
Technik der Veränderung der Wahrnehmung von Aktivität in Passivität
vollzogen werden. So präsentiert Wedel Parlow die Auffassung eines
Nachkommen eines Wedels auf Seite 108, daß bei der Abfassung eines
pronationalsozialistischen Buches die persönliche Einstellung des
Vaters nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Man könne mithin
diesem Vater gar keine persönliche Schuld an der Schrift geben, die
unter seinem Namen erschienen war. Die Schrift sei auch nicht aus politischer
Überzeugung, sondern lediglich aus Gründen der Karriereförderung
verfaßt worden. So wurden in der Memoria Handelnde zu innerlich Unbeteiligten
und politisch unbedarften Individuen formiert. Obgleich Wedel Parlow als
Verarbeiter dieser Sohnesaussage zunächst auf Distanz dazu geht, erliegt
er dieser Deutung dann doch in einer ergänzenden Textstelle (ibidem,
Fußnote 431). Darin schreibt er, es sei „vielleicht“ dem Betreffenden
sogar innerlich „ein Gräuel“ gewesen, daß er sich zum NS habe
bekennen müssen und dies habe ihn „womöglich belastet“. In diesen
Fällen wurden Adelige daher nicht als Herren des eigenen Lebens dargestellt,
sondern als „Opfer“ der Umstände (siehe dazu die ebenso bei Wedel
Parlow auf dessen Seite 92 publizierte Nachkommensaussage, man solle doch
die NSDAP-Parteibeitritte heute nicht mehr sonderlich gewichten, weil diese
ja „möglicherweise“ ebenfalls nur aus beruflichen Gründen erfolgt
seien. Zu dieser in Familiengeschichten üblichen Strategie siehe weiterführend
Claus Heinrich Bill: Merkmale des literarischen Typs der Adelsfamiliengeschichte,
in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte
1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für
die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg
på øen Als 2017, Seite 46-47. Eine weitere Position des Umgangs
mit der NS-Vergangenheit von Vorfahren stellt die humorige Bagatellisierung
dar. Auch dafür bringt Wedel Parlow ein Beispiel einer Aussage, ein
anderer Vater habe in der NSDAP lediglich Zigarre und Grog (für die
Veranstalter*innen?) bestellt und diese Handlung sei sein ganzer Beitrag
zur Parteiarbeit gewesen. Siehe dazu Wedel Parlow, Seite 92. Insgesamt
interessant wäre in diesem Kontext auch einmal eine Vermessung der
verschiedenen politischen Partizipationsformen der Familienmitglieder,
soweit sich diese überhaupt noch ermitteln lassen. Hierfür bietet
die politologische Subdisziplin der „Politischen Soziologie“ erste Ansätze
mittels ihrer Typologie-Entwürfe politischer Partizipation. Siehe
dazu Jan W. Deth: Politische Partizipation, in: Viktoria Kaina / Andrea
Römmele (Hg.): Politische Soziologie, Wiesbaden 2009, Seite 141-161.
Die Frage der Parteimitgliedschaft ist indes vielfach betreffend ihrer
politischer Bedeutung und ihrer Eintrittsbedingungen umstritten. Siehe
dazu den Sammelband von Wolfgang Benz: Wie wurde man Parteigenosse? Die
NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009. Nimmt man indes die
Aussagen der Nachkommen zum Verhalten ernst, fragt es sich, welche Selbstwirksamkeit
die betreffenden Ahnen überhaupt in ihrem Leben besaßen und
welche weiteren Lebensentscheidungen (Berufswahl, Ehe) gar nicht intrinsisch,
sonder nur extrinsisch motiviert gewesen sind. Auch ist es dann fraglich,
ob z.B. Beitritte zur DNVP, zum Kieler Yachtklub oder auch ein kommunalpolitisches
oder soziales Engagement in der Vergangenheit je aus dem eigenen Wollen
des Innersten herrührte. Derlei Einordnungen der Nachfahren über
die Motive ihrer Vorfahren ergibt daher die durchaus spannende und grundsätzliche
Frage, inwiefern die Betreffenden eigentlich ihr eigenes Leben gelebt haben
oder inwiefern sie gelenkte Produkte äußerer Umstände gewesen
sind? Gerade bei historischen Angehörigen des ehedem herrschaftsbetonten
Adels – Herrschaft gehört nach Reif (a.a.O) zu den wesentlichen Mentalitätskernen
des Adels – muß diese Variante der Auffassung erstaunen.
-
[14] = Gemeint war Stephan Malinowski: Vom König zum Führer.
Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen
Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2004. Dies ist jedoch ein Fehlschluß;
eine Geschichte der Erinnerungsgemeinschaft im NS-Staat steht noch weitgehend
aus.
-
[15] = Beispielhaft seien nur genannt a) Stephan Malinowski / Sven
Reichhardt: Die Reihen fest geschlossen? Adelige im Führerkorps der
SA bis 1934, in: Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne.
Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert,
Köln / Weimar / Wien 2004, Seite 119-150, b) Eckart Conze: Adel unter
dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen
der SS, in: Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland
im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln /
Weimar / Wien 2004, Seite 151-176, c) Tobias Sowade: Adel und Wehrmacht.
Betrachtung ausgewählter Persönlichkeiten adeliger Herkunft in
der Wehrmacht-Elite, München 2011, d) Zdenek Hazdra / Vaclav Horcicka
/ Jan Zupanic (Hg.): Der Adel Mitteleuropas in Konfrontation mit
den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, Prag 2011, e) Eckart
Conze: In den Katarakten der Moderne. Adel in Deutschland im 20. Jahrhundert,
in: Eckart Conze / Sönke Lorenz (Hg.): Die Herausforderung der Moderne.
Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern
2010, Seite 9-22, f) Eckart Conze: Rittergüter – Erbhöfe – Hegehöfe.
Neuadelsvorstellungen des Nationalsozialismus und des Widerstands, in:
Eckart Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.):
Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept
1890-1945, Köln / Weimar / Wien 2013, Seite 339-352, g) Claus Heinrich
Bill: Moderne Transformationen des Nobilitäts-Konzeptes in wandelbaren
Kongruenzen und Inkongruenzen (Teil 1/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung
(Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIX., Folge
? 92, Sønderborg på øen Als 2016, Seite 31-52; dasselbe
(Teil 2/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für
deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIX., Folge ? 93, Sønderborg på
øen Als 2016, Seite 1-52; dasselbe (Teil 3/3), in: Institut Deutsche
Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang
XIX., Folge ? 94, Sønderborg på øen Als 2016, Seite
1-40, h) Ekkehard Klausa: Die Rolle der nationalkonservativen Eliten aus
Adel und Bürgertum im Dritten Reich, in: Christoph Kopke / Werner
Treß (Hg.): Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933 und die Errichtung
der nationalsozialistischen Diktatur, Berlin 2013, Seite 147-162, i) Gudula
Walterskirchen: Adelige Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus
in Österreich, in: Christine Kanzler (Hg.): `Den Vormarsch dieses
Regimes einen Millimeter aufgehalten zu haben´. Österreichische
Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Wien 2015, Seite 310-330,
j) Andreas Thüsing: Sächsischer Adel in der Zeit des Nationalsozialismus,
in: Martina Schattkowsky (Hg.): Adlige Lebenswelten in Sachsen. Kommentierte
Bild- und Schriftquellen, Köln / Weimar / Wien 2013, Seite 472-479,
k) Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Adel und Nationalsozialismus
im deutschen Südwesten, Karlsruhe 2007, et cetera.
-
[16] = Indes ohne Reflektion des Widerstandsbegriffes. Siehe dazu jedoch
vertiefend u.a. a) Johannes Tuchel: Widerstand gegen den Nationalsozialismus,
Bonn 2016 sowie b) Claudia Honegger: Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte
weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt am Main 1984. Wedel Parlow erwähnt
auch weibliche Taten des Widerstrebens (Seite 124-128).
-
[17] = Siehe dazu beispielhaft für verschiedene Zeiten a) Gerhard
Dilcher: Der alteuropäische Adel, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.):Europäischer
Adel 1750-1950, Göttingen 1990, Seite 87-95, b) Oexle: Aspekte der
Geschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.):Europäischer Adel 1750-1950,
Göttingen 1990, Seite 19-56, c) Heinz Reif: Adeligkeit, in: Heinz
Reif: Adel, Aristokratie, Elite, Berlin 2016, Seite 324-326.
-
[18] = Näherungsweise siehe dazu exemplarisch die Liste der Berufe
der Mitglieder der ostelbischen Landesabteilungen der Deutschen Adelsgenossenschaft
in den Jahrbüchern und Kalendern der Deutschen Adelsgenossenschaft
der Weimarer Zeit und des NS-Staates, aber auch Spezialuntersuchungen über
einzelne Adelslandschaften und Adelszeiten, z.B. a) Hans-Jürgen Bömelburg:
Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat.
Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806), München
1995, Seite 100 und 360, b) Michael Jones: Gentry and lesser nobility in
late medieval Europe, Gloucester 1986. Zum Problem des massenhaft landlosen
Kleinadels in der Weimarer Zeit hat aber vor allem Malinowski publiziert
(Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang
und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und
NS-Staat, Berlin 2004, Seite 260-282 mit einem speziellen Kapitel über
den sozialen [vor allem aber ökonomischen] Niedergang des Kleinadels).
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