Institut Deutsche Adelsforschung
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Politisches Verhaltensrepertoire von Teilen des ostelbischen Adels

Ein Familienbeispiel aus der deutschen Zeitgeschichte auf Mikro- und Mesoebene

Nach dem zweiten Weltkrieges hatte Hasso v.Wedel (1898-1961) als Abwehrmaßnahme des Ichs gegen Bedrohungen der eigenen Identität betont, NS-Führung und Wehrmacht hätten keine ideologischen Berührungspunkte miteinander gehabt und sich in ständigem Kompetenzkonflikt miteinander befunden, wobei er auf Seiten der Wehrmacht – ab 1939 Chef der Abteilung für Wehrmachtpropaganda im Oberkommando der Wehrmacht tätig –  sich gegen die Politisierung der Wehrmacht gewandt habe. So bekannte er 1951 bei einem Interview: „Nach meiner Ansicht darf eine Wehrmacht innerpolitisch nicht interessiert sein.“ [1] 

Ob diese Erkenntnis erst durch die Verarbeitung des Weltkriegserlebens zustande kam oder bereits immer zu seinen Grundsätzen gehörte, ist nicht ermittelbar. Im Jahre 1938 jedoch vertrat er folgende – gegenteilige – Auffassung: „Entstanden aus dem soldatischen Erleben des Weltkrieges, gereift in jahrelangem zähem Kampf, hat die NSDAP auf allen Gebieten völkischer und staatlicher Lebensäußerung die Führung in Händen. Sie ist damit die organisatorische Zusammenfassung aller Menschen und Kräfte geworden, die die politische und weltanschauliche Richtung im Reiche bestimmen. Der Reichsparteitag der NSDAP ist daher die alljährliche große Heerschau dieser tragenden Kräfte des Reiches. 

Nach dem Willen Adolf Hitlers ruht das Dritte Reich auf den zwei Säulen: Partei und Wehrmacht. Beide gehören damit auf Gedeih und Verderb zusammen; die eine als Gestalterin des politischen Willens, die and[e]re als Trägerin der Wehrkraft. Die Wehrmacht des Dritten Reiches verdankt ihr Werden und Sein dem Willen des Führers, ihres obersten Befehlshabers. Sie muß und wird deshalb allezeit fest in der nationalsozialistischen Weltanschauung verankert sein. So sehr auch manche Kreise im Auslande, und besonders unter den Emigranten diese unumstößlichen Tatsachen verneinen und ableugnen mögen, so fest und sicher bekennt sich die deutsche Wehrmacht selbst immer wieder zu ihnen.“ [2] 

Die hier sich ausdrückende Spannung der Auffassungen desselben Mannes durchzieht indes nicht nur das Leben des  Offiziers Hasso von Wedel, sondern auch das vieler anderer Zeitgenoss*innen. Exemplarisch hat diese Spannung nun der Wirtschaftswissenschaftler Dr. Wolf Christian von Wedel Parlow [3] anhand von Befürwortung und Gegnerschaft einzelner historischer Angehöriger seiner Familie in einem neu erschienenen Buch – nach Westernhagenscher Manier [4] – nachgezeichnet. [5] 

Derlei Werke, in denen Familienangehörige im Ruhestand die Biographien früherer Vertreter*innen aufarbeiten, sind nun keine Seltenheit. Im Gegenteil war die Beschäftigung mit der Genealogie und den Vorfahren bis 1919 eine für den Adel und seit 1919 für die historische Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen deutschen Adels geradezu notwendige Distinktionsmaßnahme zur Aufrechterhaltung „adeliger“ Identität. Adel kennzeichnete sich durch Anciennität, durch organisierte Frühzeitigkeit, durch Tradition und möglichst weit zurückreichende Herkunft, [6] sie legitimierte Herrschaftsstellungen durch bloßes Alter und durch die Betonung des Erbcharismas. [7] 

Bei dieser memorialen Arbeit jedoch galt es allgemein, gewisse ungeschriebene Regeln zu beachten, die über die Sozialisation verinnerlicht wurden. Hierzu zählte in Medien der Erinnerungskultur die Hervorhebung prestigemehrender und die teils feinstufig erfolgenden verschiedenen Formen der Entinnerung für Renegaten oder die devianten Familienangehörigen [8] als Instrument der Familienpolitik. [9] Familienangehörige, die sich im traditionellen Sinne betätigt hatten, wurden dabei sichtbar, andere hingegen unsichtbar gemacht. [10] Dies war nach 1945 namentlich bei Straftäter*innen und sich nationalsozialistisch betätigenden Personen der Fall und hier macht auch die Familie von Wedel zunächst keine Ausnahme. 

Allerdings hat sie von Familienverbandsseite aus im Jahre 2006 dennoch die Bearbeitung des Themas „NS und Familie“ angeregt, die dann der Autor des Buches übernommen hatte. [11] Doch auf ihn traf zu, was auf manche Forschende zutraf. Das Forschen über Renegat*innen und NS-Vertreter*innen in den eigenen Reihen des familiären Umfeldes (man müßte eher sagen Vorfeldes), stigmatisierte den Verfasser selbst zu einem Renegaten; ihm wurde, wie er an einer Stelle bemerkt, „Nestbeschmutzung“ vorgeworfen (Seite 11). [12] Dies kennzeichnet die problematische und nicht konfliktfreie Stellung, der sich der Verfasser mit der Übernahme dieser Aufgabe aussetzte. Er war einerseits Mitglied der Familie, über die er selbst forschte und schrieb, hatte dadurch Zugang zu manchen für externe Forschende wohl eher verschlossen gebliebenen Quellen, war aber andererseits auch bemüht, zu verstehen, welche Motive und Überzeugungen bei seinen historischen Verwandten vorherrschten. Oft auf der Suche nach Hidden Agendas, spekuliert der Verfasser vor allem aufgrund der familieninternen Quellen über das Äußere und das Innere seiner Protagonist*innen und läßt dabei auch Kinder und Enkel der Betroffenen selbst zu Wort kommen. [13] 

Das Buch beinhaltet also dreierlei: Quellenbelege aus dem Familienarchiv, Einschätzungen und Erklärungsversuche eines kritischen und um Aufklärung intrinsisch bemühten Familienmitglieds aus einer spätgeborenen (noch nicht aber nachgeborenen) Generation (Wedel Parlow ist Jahrgang 1937), zudem Ansichten der erinnernden Nachfolgegenerationen der Zeitgenoss*innen. Analytisch ist dies Dreiergespann der Perspektiven im Werk nicht scharf getrennt, sondern vielfach miteinander vermischt. Dies erschwert die Trennung von eindeutigen Fakten einerseits und Meinungen andererseits. Hinzu tritt eine andere Eigenart des Buches. So betont der Verfasser (Seite 13), er habe die Beachtung der forschenden Literatur zum Thema „Adel und NS“ als „gar nicht notwendig“ erachtet, weil Malinowski (2004) in seiner Studie schon „einen großen Teil der vorhandenen Quellen aufgearbeitet“ habe. [14]

Hier erliegt der Verfasser jedoch einem doppelten Mißverständnis. Denn Malinowski hatte einerseits mitnichten einen überhaupt den Themenkomplex betreffenden Quellengroßteil aufgearbeitet, sondern nur die ihm für seine spezifische Fragestellung (Radikalisierung des Kleinadels bis 1933) geeignet erscheinenden Quellen eingesehen und andererseits ist Literatur nicht mit Quellen gleichzusetzen. Insofern übersieht Wedel Parlow die zeitlich nach Malinowski (d.h. nach dem Jahre 2004) erschienenen Auseinandersetzungen mit dem Thema geflissentlich, obschon sie andere Fragestellungen besaßen, teils andere Zeiten behandelten und auch andere Quellen ausgewertet hatten. [15] Das hier durch Wedel Parlow proklamierte Ende der Quellenauswertung zum Thema „Adel und NS“ würde indes, wollte man ihm Folge leisten, die Zunft der Historiker*innen künftig arbeitslos werden lassen, die Malinowskischen Thesen zudem als finales Blickwinkelkonstrukt proklamieren. 

Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß sich Wedel Parlow als innerfamiliärer Frondeur redlich um die Aufklärung der Frage bemüht hat, wie das Verhältnis der Wedels zum NS ausfiel. Er schildert Voraussetzungen, sieht beispielsweise in sozialpsychologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (Güternot in der Weimarer Republik, Ende der Monarchie 1918, verlorener erster Weltkrieg) Gründe für das Engagement einzelner Familienangehöriger im NS, untersucht aber ebenso kleine und größere Taten des Widerstrebens und des Widerstandes [16] – und kommt daher zu einem myrioramatischen Ergebnis, dessen Gehalt sich durchaus nicht in einer pauschalen Einseitigkeit erschöpft. Zu vielfältig waren Anpassungs- oder Trittbrettfahrer-Effekte, als daß sich hier ein Urteil über die ganze Familie fällen ließe. Wedel Parlow hat leider auf quantitative Untersuchungen verzichtet, so z.B. auf die Fragen, welchen Berufen die in die NSDAP eingetretenen Personen besaßen, in welchem Alter sie eintraten et cetera (obschon er die entsprechenden Daten aus dem ehemaligen Berlin Document Center und der dort verwahrten Mitgliederkarteien der NSDAP kannte; dies geht aus Seite 40 und 180 hervor).

Gleichwohl hat Wedel Parlow ein bemerkenswertes Buch verfaßt. Es ist der noch seltene Versuch, die Geschichte der Familien in Beziehung ihrer Stellung zu einer politischen Ideologie zu untersuchen, ein bedeutendes Zeugnis der Memorialkultur auf der Mikroebene und der Umgangsweise mit der NS-Erinnerung. Aus diesem Grunde ist der Band auch zurecht weniger als umfassende historische Darstellung als vielmehr als Zeugnis der Kontroversen der Erinnerungspolitik der Familie und einzelner ihrer Mitglieder zu sehen und von Jürgen Reulecke, einem Gießener Erinnerungskulturforscher, in den Schriftenreihenrahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung einrangiert worden (Geleitwort, Seite 7-9). 

Der Titel des Werkes ist indes leider ein wenig irreführend. Tatsächlich handelt es sich zwar um eine Arbeit über „ostelbischen Adel im Nationalsozialismus“, allerdings hat Wedel Parlow es bewußt vermieden, die Mesoebene außerhalb der Familienorganisation zu betrachten. Es geht daher ausschließlich um ausgewählte Familienmitglieder der Wedels, nicht um andere Familien des ostelbischen Adels, auch nicht um Verbände wie Ritterschaften oder die Deutsche Adelsgenossenschaft; ein Titel wie „Die Familie von Wedel im NS-Staat“ wäre daher passender gewesen. Auf den ersten Blick jedoch scheint der Titel „Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus – Familienerinnerungen am Beispiel der Wedels“ logisch aufgebaut zu sein. Tatsächlich gibt es im Buch zwei Kapitel, die die Hinleitung der Induktion zum Gesamttitel des Buches rechtfertigen sollen. Zunächst wird in einer Einleitung über „ostelbischen Kleinadel im Nationalsozialismus“ (Seite 15-33) gesprochen, dann in einem Kapitel deduktiv über „Die Wedel – typischer ostelbischer Kleinadel“ (Seite 35-38). 

Doch anstatt über beide Kapitel die Argumentation weiterzuführen, wird dort lediglich auf die Landgebundenheit als besondere Eigenschaft der Wedels verwiesen; alle anderen Mentalitätskerne werden nicht behandelt. [17] Insofern wird bedauerlicherweise der Zusammenhang der Ableitung nicht ganz klar, die zwischen ostelbischem Adel einerseits und der Familie andererseits bestehen soll. Ungeklärt bleibt damit auch die Frage, inwiefern denn die Wedel typisch für den ostelbischen Kleinadel sein sollen. Wenn damit tatsächlich Landbesitz gemeint sein sollte, dann ist diese Ableitung nicht zielführend, weil viele Kleinadelige nicht über Landbesitz verfügten, sondern landlos agierten. [18] Kleinadelige gehörten aber, ebenso wie vermögende hochadelige Großgrundbesitzer, zum heterogenen Adel dazu. 

Sieht man jedoch von der Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt ab, so bietet sich den Lesenden des Buches dennoch eine wertvolle Quelle an. In erster Linie ist darin eine Form der Verarbeitung kritischen politischen Engagements durch die Familie zu sehen, zudem wurden hier seitens des Verfassers wichtige Quellen offengelegt. Allein deswegen und weil solche Arbeiten noch höchst selten publiziert werden, ist der vorliegend besprochene Band insgesamt als Diskursbeitrag zur familiären Vergangenheitsbearbeitung lesens- und beachtenswert.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Wolf Christian von Wedel Parlow: Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus, Göttingen 2017, Seite 174.
  • [2] = Nomen Nescio: Wehrmacht und Reichsparteitag, in: Neues Wiener Tagblatt (Wien), Nr. 246 vom 7. September 1938, Seite 12.
  • [3] = Die Familie wird (ungewöhnlicherweise für Doppelnamen) in der Regel ohne Bindestrich geschrieben. 
  • [4] = Das Buch steht in der Tradition der noch jungen familiärmonographischen Erinnerungsliteratur zur Auseinandersetzung einer Adelsfamilie mit dem NS. Als eines der Pionier*innen-Werke hierfür kann gelten: Dörte von Westernhagen: Von der Herrschaft zur Gefolgschaft – Die von Westernhagens im „Dritten Reich“, Göttingen 2012, 302 Seiten mit 77 Abbildungen (Band XXVI der „Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs). In späterer Zeit, wohl ab Mitte des XXI. Jahrhunderts, könnte diese Art Schrift in der Adelsforschung als Übergangstypus klassifiziert werden, der schließlich, befreit von persönlichen Emotionen der Kinder und Enkel, zu einer weiteren Versachlichung der Analysen führen könnte (gerade auch bedingt durch den zeitlichen Abstand von den Ereignissen, die höchstens noch die je eigene Großelterngeneration tangiert haben).
  • [5] = Wolf Christian von Wedel Parlow: Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus – Familienerinnerungen am Beispiel der Wedel, Göttingen 2017, mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Jürgen Reulecke, erste Auflage 2017, Verlag V&R Unipress in Göttingen, 199 Seiten mit 17 Abbildungen, ISBN 978-3-8470-0758-6 (Band LXIV der Schriftenreihe „Formen der Erinnerung“), erwerbbar zum Preis von 27,99 Euro im Buchhandel. Darin werden jedoch nicht alle Familienmitglieder beachtet. So bleibt die Einordnung von Elka v.Wedel als Leiterin des Auslandsamtes der Reichsjugendführung des Bundes Deutscher Mädel bzw. „Reichsjugendreferentin im Auslandsamt“ außen vor (sie fehlt im Personenverzeichnis auf den Seiten 197-199 bei den dort genannten Wedels). Siehe dazu u.a. a) Nomen Nescio: BDM-Führerinnen in Rumänien, in: Banater deutsche Zeitung (Timisoara), Nr. 29 vom 8. Feber 1940, Seite 3, b) Nomen Nescio (v.M.): Nachmittagstreffen der Jung-Spanier mit der HJ, in: Hamburger Anzeiger (Hamburg), Nr. 189 vom 15. August 1938, Seite 6.
  • [6] = Siehe dazu  Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe), Tübingen 5. Auflage 1972, Seite 177-180 und 534-540.
  • [7] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Sechs adelige Mentalitätskerne, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg på øen Als 2017, Seite 22-23.
  • [8] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Memoriale Kybernetik bei Fällen von Adelsdevianz, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg på øen Als 2017, Seite 16-17 sowie Claus Heinrich Bill: Doppelte Adels-Kohäsion, in: Ibidem, jedoch Seite 10-11.
  • [9] = So wurde um 1951 ein Familienmitglied von Vettern dazu aufgefordert, den Namen „von Wedel“ für sich, seine Frau und seine Kinder abzulegen, damit seine Tätigkeit als Mitarbeiter von Joseph Goebbels nicht weiter mit dem Familiennamen öffentlich in Verbindung gebracht werden könne (memoriale Flurbereinigung). Zu diesem Vorgang siehe im besprochenen Buch Seite 102. Es finden sich überdies auch Zeugnisse und Bekundungen von Betroffenen, die ihre Mitgliedschaft bei der SS im Nachhinein vor ihrer Familie bedauerten (z.B. ibidem, Seite 71).
  • [10] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Adel als Meister der Sichtbarkeit, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg på øen Als 2017, Seite 36-37.
  • [11] = Bis dahin dominierte in der zweiten Hälfte des XX. Centenariums in der Familiengeschichtsschreibung des historischen deutschen Adels der Typ der Familiengeschichte, der das Thema NS nur dann ansprach, wenn sich widerständige Haltungen verorten ließen (Typ A) oder das betreffende Familienmitglied, bei dem man ein NS-Engagement nicht umgehen konnte, als Außenseiter etikettiert werden konnte (Typ B). Ein Beispiel für den Typ A ist Vorstand des Familienverbandes derer von Kleist (Hg): Geschichte des Geschlechtes von Kleist. Fortführung 1880-1980, Braunschweig 1982.
  • [12] = Daß die Beschäftigung mit Renegaten die entsprechenden Akteur*innen mit dem Etikett eines wandernden Stigmas selbst deviant werden lassen kann, zeigte Goffman (1988) in seiner Stigmastudie auf. Siehe dazu Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 8. Auflage 1988, Seite 42-43.
  • [13]= An diesen Äußerungen wird dann besonders offenbar, wie Entinnerung funktioniert, u.a. dort, wo sich entsprechende Verantwortung für Taten nicht leugnen ließ. Dies konnte durch Anwendung der Technik der Veränderung der Wahrnehmung von Aktivität in Passivität vollzogen werden. So präsentiert Wedel Parlow die Auffassung eines Nachkommen eines Wedels auf Seite 108, daß bei der Abfassung eines pronationalsozialistischen Buches die persönliche Einstellung des Vaters nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Man könne mithin diesem Vater gar keine persönliche Schuld an der Schrift geben, die unter seinem Namen erschienen war. Die Schrift sei auch nicht aus politischer Überzeugung, sondern lediglich aus Gründen der Karriereförderung verfaßt worden. So wurden in der Memoria Handelnde zu innerlich Unbeteiligten und politisch unbedarften Individuen formiert. Obgleich Wedel Parlow als Verarbeiter dieser Sohnesaussage zunächst auf Distanz dazu geht, erliegt er dieser Deutung dann doch in einer ergänzenden Textstelle (ibidem, Fußnote 431). Darin schreibt er, es sei „vielleicht“ dem Betreffenden sogar innerlich „ein Gräuel“ gewesen, daß er sich zum NS habe bekennen müssen und dies habe ihn „womöglich belastet“. In diesen Fällen wurden Adelige daher nicht als Herren des eigenen Lebens dargestellt, sondern als „Opfer“ der Umstände (siehe dazu die ebenso bei Wedel Parlow auf dessen Seite 92 publizierte Nachkommensaussage, man solle doch die NSDAP-Parteibeitritte heute nicht mehr sonderlich gewichten, weil diese ja „möglicherweise“ ebenfalls nur aus beruflichen Gründen erfolgt seien. Zu dieser in Familiengeschichten üblichen Strategie siehe weiterführend Claus Heinrich Bill: Merkmale des literarischen Typs der Adelsfamiliengeschichte, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 1 – Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sønderborg på øen Als 2017, Seite 46-47. Eine weitere Position des Umgangs mit der NS-Vergangenheit von Vorfahren stellt die humorige Bagatellisierung dar. Auch dafür bringt Wedel Parlow ein Beispiel einer Aussage, ein anderer Vater habe in der NSDAP lediglich Zigarre und Grog (für die Veranstalter*innen?) bestellt und diese Handlung sei sein ganzer Beitrag zur Parteiarbeit gewesen. Siehe dazu Wedel Parlow, Seite 92. Insgesamt interessant wäre in diesem Kontext auch einmal eine Vermessung der verschiedenen politischen Partizipationsformen der Familienmitglieder, soweit sich diese überhaupt noch ermitteln lassen. Hierfür bietet die politologische Subdisziplin der „Politischen Soziologie“ erste Ansätze mittels ihrer Typologie-Entwürfe politischer Partizipation. Siehe dazu Jan W. Deth: Politische Partizipation, in: Viktoria Kaina / Andrea Römmele (Hg.): Politische Soziologie, Wiesbaden 2009, Seite 141-161. Die Frage der Parteimitgliedschaft ist indes vielfach betreffend ihrer politischer Bedeutung und ihrer Eintrittsbedingungen umstritten. Siehe dazu den Sammelband von Wolfgang Benz: Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009. Nimmt man indes die Aussagen der Nachkommen zum Verhalten ernst, fragt es sich, welche Selbstwirksamkeit die betreffenden Ahnen überhaupt in ihrem Leben besaßen und welche weiteren Lebensentscheidungen (Berufswahl, Ehe) gar nicht intrinsisch, sonder nur extrinsisch motiviert gewesen sind. Auch ist es dann fraglich, ob z.B. Beitritte zur DNVP, zum Kieler Yachtklub oder auch ein kommunalpolitisches oder soziales Engagement in der Vergangenheit je aus dem eigenen Wollen des Innersten herrührte. Derlei Einordnungen der Nachfahren über die Motive ihrer Vorfahren ergibt daher die durchaus spannende und grundsätzliche Frage, inwiefern die Betreffenden eigentlich ihr eigenes Leben gelebt haben oder inwiefern sie gelenkte Produkte äußerer Umstände gewesen sind? Gerade bei historischen Angehörigen des ehedem herrschaftsbetonten Adels – Herrschaft gehört nach Reif (a.a.O) zu den wesentlichen Mentalitätskernen des Adels – muß diese Variante der Auffassung erstaunen.
  • [14] = Gemeint war Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2004. Dies ist jedoch ein Fehlschluß; eine Geschichte der Erinnerungsgemeinschaft im NS-Staat steht noch weitgehend aus.
  • [15] = Beispielhaft seien nur genannt a) Stephan Malinowski / Sven Reichhardt: Die Reihen fest geschlossen? Adelige im Führerkorps der SA bis 1934, in: Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2004, Seite 119-150, b) Eckart Conze: Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS, in: Eckart Conze / Monika Wienfort (Hg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2004, Seite 151-176, c) Tobias Sowade: Adel und Wehrmacht. Betrachtung ausgewählter Persönlichkeiten adeliger Herkunft in der Wehrmacht-Elite, München 2011, d) Zdenek Hazdra / Vaclav Horcicka /  Jan Zupanic (Hg.): Der Adel Mitteleuropas in Konfrontation mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, Prag 2011, e) Eckart Conze: In den Katarakten der Moderne. Adel in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Eckart Conze / Sönke Lorenz (Hg.): Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2010, Seite 9-22, f) Eckart Conze: Rittergüter – Erbhöfe – Hegehöfe. Neuadelsvorstellungen des Nationalsozialismus und des Widerstands, in: Eckart Conze / Wencke Meteling / Jörg Schuster / Jochen Strobel (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept 1890-1945, Köln / Weimar / Wien 2013, Seite 339-352, g) Claus Heinrich Bill: Moderne Transformationen des Nobilitäts-Konzeptes in wandelbaren Kongruenzen und Inkongruenzen (Teil 1/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIX., Folge ? 92, Sønderborg på øen Als 2016, Seite 31-52; dasselbe (Teil 2/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIX., Folge ? 93, Sønderborg på øen Als 2016, Seite 1-52; dasselbe (Teil 3/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIX., Folge ? 94, Sønderborg på øen Als 2016, Seite 1-40, h) Ekkehard Klausa: Die Rolle der nationalkonservativen Eliten aus Adel und Bürgertum im Dritten Reich, in: Christoph Kopke / Werner Treß (Hg.): Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933 und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, Berlin 2013, Seite 147-162, i) Gudula Walterskirchen: Adelige Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Österreich, in: Christine Kanzler (Hg.): `Den Vormarsch dieses Regimes einen Millimeter aufgehalten zu haben´. Österreichische Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Wien 2015, Seite 310-330, j) Andreas Thüsing: Sächsischer Adel in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Martina Schattkowsky (Hg.): Adlige Lebenswelten in Sachsen. Kommentierte Bild- und Schriftquellen, Köln / Weimar / Wien 2013, Seite 472-479, k) Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, Karlsruhe 2007, et cetera.
  • [16] = Indes ohne Reflektion des Widerstandsbegriffes. Siehe dazu jedoch vertiefend u.a. a) Johannes Tuchel: Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 2016 sowie b) Claudia Honegger: Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt am Main 1984. Wedel Parlow erwähnt auch weibliche Taten des Widerstrebens (Seite 124-128).
  • [17] = Siehe dazu beispielhaft für verschiedene Zeiten a) Gerhard Dilcher: Der alteuropäische Adel, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.):Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, Seite 87-95, b) Oexle: Aspekte der Geschichte, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.):Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, Seite 19-56, c) Heinz Reif: Adeligkeit, in: Heinz Reif: Adel, Aristokratie, Elite, Berlin 2016, Seite 324-326.
  • [18] = Näherungsweise siehe dazu exemplarisch die Liste der Berufe der Mitglieder der ostelbischen Landesabteilungen der Deutschen Adelsgenossenschaft in den Jahrbüchern und Kalendern der Deutschen Adelsgenossenschaft der Weimarer Zeit und des NS-Staates, aber auch Spezialuntersuchungen über einzelne Adelslandschaften und Adelszeiten, z.B. a) Hans-Jürgen Bömelburg: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806), München 1995, Seite 100 und 360, b) Michael Jones: Gentry and lesser nobility in late medieval Europe, Gloucester 1986. Zum Problem des massenhaft landlosen Kleinadels in der Weimarer Zeit hat aber vor allem Malinowski publiziert (Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2004, Seite 260-282 mit einem speziellen Kapitel über den sozialen [vor allem aber ökonomischen] Niedergang des Kleinadels). 
 

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