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Wachsfiguren von Fürsten in der Frühen NeuzeitMittel zur Verwirrung, Repräsentation und AufmerksamkeitsökonomieIm Jahre 1824 kritisierte ein anonymer Schriftsteller in einer Erzählung, daß das Schauspiel zur Zeit seine wahre Aufgabe verlöre und Alltagsdinge auf die Bühne bringen würde, die dem eigentlichen Erziehungsziel des Theaters widersprächen. Im Zuge dieser Argumentation erwähnte er auch ein pejoratives Gleichnis bezüglich der Keroplastik oder der Kunst der Wachskörperfertigung, deren Grundcharakteristik die Lüge und arglistige Täuschung sei: „Erniedrigend aber ist es für das Weib, in jeder Rolle, auch der zweydeutigsten, zu täuschen. Darum verbannten die Griechen das Frauenzimmer von der Bühne. Ihrer Künste Element war und blieb die Form. Die Formen des Lebens aber sind Charakter und Schicksal, diese entwickelten sie genügend durch Wort und That; daher die göttliche, tragische Larve der Alten, welche die kleinlichen Künste unserer Mimen in Gesichts- und Augenverdrehungen nicht kannte. Das Geschlecht der Helden war ihnen gleichgültig, die Größe der Seele ist ja weder Mann noch Weib. Unser Schauspiel gesellt das Alltagsleben dem idealen hinzu, und störend tritt es oft dann hervor aus seinen Grenzen. Wir haben den pentelischen Marmor der antiken Venus künstlich gefärbt, zur Täuschung für Wollüstlinge, die Haare nachgemeiselt in des Herkules Locken, aber die ideale Gestalt der beyden schaffen wir nicht mehr. Eine Wachsfigur gibt zwar das Bild eines Menschen bis auf die Farbe der Augen und der Haare getreu wieder, aber wer zieht nicht das bleiche Marmorbild eines großen Mannes dem bunten Wachs-Conterfey desselben vor? Dieses will täuschen, und ist ein wahrer Betrieger, jenes bleibt wahr in idealer Nachbildung seines Urbildes; es kündigt sich als kalter Marmor an, während das Wachs die Wärme des lebendigen Leibes durch die Farbe des Blutes sich zu erlügen trachtet, wenn es gleich für den aufmerksamen Betrachter immer nur eine geschminkte Leiche bleibt. Eine Marmorgruppe war das Theater der Griechen; das unsere ist eine Wachspuppen-Gallerie. Darum hasse ich unserer Schauspieler Treiben als einen Apparat weichlicher Künsteleyen, die das Leben verderben, das sie veredeln sollten.“ [1] Die deutlich hier auftretende Abwertung „des Weiblichen“ als „das Schlechte“ läßt vermuten, daß die Figur, die in der Erzählung diese Sätze spricht, ein Vertreter konservativer politischer Meinungen war. Auffallend ist an diesem Beispiel zudem, daß die Einordnung der Keroplastik durchweg negativ gezeichnet wurde. Dabei war gerade das Moment der Verwirrung und Irritation in den Sekunden des Erstanblicks und die Frage, ob es sich bei der Figur um einen lebendigen Menschen oder nur eine täuschend echte „Kopie“ eines menschlichen Körpers handelt, durchaus ein beabsichtigter Effekt der Aufmerksamkeitserheischung. Denn alles Ungewöhnliche zog Aufmerksamkeit auf sich und in Zeiten der Ständekämpfe – ebenso wie im XXI. Jahrhundert in der Massenkommunikationsgesellschaft – war Aufmerksamkeit als Mittel der Repräsentation und der Performanz „höherer“ Stände ein notwendiges Mittel zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten und des Adelsprestiges. Insofern kann Keroplastik, namentlich im repräsentativen Rahmen, durchaus auch noch mit anderen Funktionen als denen der Lüge assoziiert werden. Untersucht hat diesen „anderen“ Gebrauch der Wachsfiguren- und auch der Wachsportraitkunst nun in einer Dissertation die Kunsthistorikern Marthe Kretschzmar an der Universität Stuttgart. Sie nimmt einen Artefaktstoff und deren Modellierung im höfischen Kontext zwischen der Antike und 1900 – mit einer Fokussierung auf den deutschsprachigen Raum sowie zeitlich auf die Frühe Neuzeit und die Neuzeit – in den Blick und zeigt anhand vieler Beispiele die geradezu myrioramatischen Verwendungszwecke jener Keroplastiken. Hierzu gehörte die Perpetuierung herrschaftlicher Würden und Ansprüche bei fürstlichen Funeralzeremonien verstorbener Herrscher, die durch Wachsfiguren repräsentiert wurden. Zugleich gehörten dazu aber auch Prestigefunktionen zur Einprägung gekrönter Häupter namentlich bei standeserhobenen Personen, beispielsweise als Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg 1701 zum König von Preußen avancierte und dann nicht etwa als Kurfürst, sondern mit königlichen Attributen in Wachs modelliert worden war. Wachsfiguren konnten aber auch in Kunstkammern und musealen Sammlungen vertreten sein, als fürstliches Geschenk an entfernt lebende Verwandte konzipiert sein oder einer Herrscherbegegnungssimulation dienlich gemacht werden. In allen diesen Fällen waren höhergestellte Personen die Zielgruppe der Wirkungen von Wachsfiguren, z.B. Gesandte. [2] Schließlich aber gab es für die Adressaten des Volkes in den anderen Ständen im Feudalzeitalter auch fahrende Wachsfigurenkabinette, wie sie beispielsweise in Wien auf dem Kohlmarkt im März 1788 zu sehen waren; auch sie enthielten vorwiegend Monarchenfiguren (hier: „mehr als 40“), [3] wenn sie auch eher der Popularisierung der Monarchie und der Schaulust der (zahlenden) Massen dienten als einer Begegnungssimulation. Dabei versuchten sich die fahrenden Aussteller gegenseitig zu übertrumpfen, wobei sie vor allem auf den Imitations- und Irritationseffekt setzten, der u.a. durch fehlende Schaukästen unterstrichen werden konnte. So warb ein reisender Wachsfigurinist im Jahre 1791 in Wien mit folgendem Text um Kunden: „Seit vielen Jahren hindurch hat man verschiedene Sammlungen Wachsfiguren; die alle nicht zahlreich waren, und die Kenner nur mittelmäßig haben begnügen können, alhier sehen lassen. Dieses hat den Hrn. Lebogne, Künstler von Paris, da er fast bey allen Höfen, und in allen Hauptstädten Deutschlands seinen mit 90 Wachsfiguren versehenen Saal hat sehen lassen, und sich dadurch den grösten Beyfall erworben, veranlasset, sich in diese Residenzstadt zu begeben, um allen Liebhabern und Kennern zu zeigen, dass die kleine [sic!] Sammlungen der Wachsfiguren, die bisher hier gesehen worden, niemals seinem zahlreichen Saal zu vergleichen waren; dieser Saal besteht in 2 Galerien, die einen Contrast ausmachen: nemlich in dem ersten Saal werden die Abbildungen der grossen und berühmten Männern, die in diesem Jahrhundert gelebt haben, und in dem andern jene, die selbes verunehret haben, gezeiget. Alle diese Abbildungen sind nach Lebensgrösse, die Kleidungen nach dessen Range, und nicht hinter einem Glas, noch minder im kleinen dargestellt, wie man bishero derer oft gesehen hat. Nebst dieser Sammlung der 90 Abbildungen wird man noch Stücke Bas-Reliefs, und Mechanik sehen – kurz, alles was eine so prächtige Sammlung zieren kann.“ [4] Wie zu sehen war, übertrumpften sich die fahrenden Anbieter von derlei Attraktionen in rollenden Freizeitsälen zu Zeiten, bevor Freizeit definiert worden war. Verstärkt teils durch den Bewegungseffekt (von bisweilen eingebauten Mechaniken wächsener Androiden) boten diese Wachsfigurensäle mit ihrer Ars magna der Keroplastik den Besuchenden ein hohes Maß einer Delectatio emotionalis und sensibilis, während andere Lusterlebungsarten wie die Delectatio cognitionis und die Delectatio reflexiva dabei keine Rolle spielten. [5] Marthe Kretzschmar nun hat diesen fürstlichen Keroplastiken als Kunsthistorikerin nachgespürt und in Ihrer für 49 Euro im Buchhandel erwerbbaren Dissertation „Herrscherbilder aus Wachs. Lebensgroße Portraits politischer Machthaber in der Frühen Neuzeit“ auf 299 Seiten nachgespürt. Der im Dietrich-Reimer-Verlag zu Berlin erschienene Broschurband umfaßt 86 Schwarzweiß- und 10 ganzseitige Farbtafeln, die einen bleibenden Eindruck von der Gegenständlichkeit der Plastiken vermitteln, zudem Nähe und Authentizität suggerieren. In ihrer Arbeit geht es Kretzschmar vor allem um die höfischen Kontexte der Wachsfiguren, die sie nach ihrer ermittelten oder auch vermuteten Funktion untersucht. Neben grundlegenden Kapiteln zur Wachsbildekunst, zu Portraittheorien und Effigies in der Frühen Neuzeit widmen sich die Hauptkapitel dann den Auftrittssphären und Umwelten der Figuren. Kretzschmar untersucht daher vor allem Repräsentation, Memorialkultur und Prestigestreben der Fürsten, die mit allem Ungewöhnlichem in den Augen und Köpfen der Zeitgenoss*Innen und nachfolgenden Generationen zu reüssieren suchten, sei es mit kostspieligen Wachsfiguren oder, um ein anderes Exempel zu nennen, aufwendig gearbeiteten Kirschschitzsteinen. Mit ihrer Arbeit hat Kretzschmar indes ein nur vordergründig skurilles Gebiet der neuzeitlichen Kunst bearbeitet, [6] dem sie eine zeitgenössische ebenso wie wissenschaftlich-einordnende Rahmung in hermeneutisch-interpretativer Weise nicht versagt, um sie einer gelungenen Typologie der Verwendungsmöglichkeiten und Kontexte in mentefaktischer wie soziofaktischer Dimension zuzuführen. Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill B.A. Annotationen:
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