Vormärzlicher Adel in interdisziplinärer geisteswissenschaftlicher Perspektive
Aspekte zu Adelskultur und Adelsleben zwischen den Revolutionen von 1789 und 1848
Ein
progressiv eingestellter Anonymus beklagte sich 1917, mitten im ersten
Weltkrieg, darüber, daß die Gegenwart des Alltagslebens nicht nur aus
gegenwärtig Nötigem bestehe, sondern viele soziale Entitäten und
Umgangsweisen zur Erzeugung von Gesellschaft aus der Vergangenheit
stammen würden, oft ungeprüft und langwierig weiterlebten, ohne daß
noch recht ein vernünftiger Grund für deren Dasein und Existenz zu
bestimmen wäre. Er spielte damit auf die „faits sociaux“ an, die
sozialen Tatsachen, wie sie von Durkheim formuliert worden sind, die
nur schwerfällig und langsam veränderbar seien. [1] In diesem Sinne
äußerte sich der Anonymus auch über Umgangsweisen zwischen Ständen, die
ihm, zum gefühlten (und dann ja kurze Zeit später tatsächlich auch
eintretenden) Ende einer Epoche, einer Zeitenwende, deplaziert
vorkamen.
Dazu
notierte er kritisch: „[noch Seite 3] Man darf nicht glauben, daß das
Leben, in das wir hineingeboren werden, diese sogenannte Gegenwart, ein
Haus ist, das nach einem zeitgemäßen Plan alle Bequemlichkeiten der
Neuzeit schon in der Anlage vorgesehen enthält und gestern gebaut
wurde, um uns heute aufzunehmen. Diese Gegenwart ist viel mehr ein
bejahrter und geflickter Kasten, dessen Grundmauern fast so alt sind
wie die Zeit, während seine Wände von jeder Generation verändert
wurden, die ihre Um- und Anbauten machte, soweit es ihr unbedingt nötig
erschien, bis endlich die heutige Gestalt herauskam. Wir haben die
‚Gleichheit aller Staatsbürger‘, da neben haben wir aber auch den
Ausdruck ‚jemanden in den Adelsstand erheben‘ und die Gepflogenheit,
einem Adeligen den Bürgerstand zu verleihen, wenn er wegen eines
Verbrechens verurteilt wurde. Wir haben die ritterliche Genugtuung und
daneben den Ehrenbeleidigungsprozeß. Die Freiheit der Meinung und die
[folgt Seite 4] Theaterzensur, welche zwar die Schlüpfrigkeiten eines
Pariser Schwanks durchläßt, dem Ausdruck einer ernsten künstlerischen
Ueberzeugung aber gewöhnlich Schwierigkeiten bereitet. Wir haben
gesetzlich die Freiheit des Glaubens zugestanden, dulden aber in
Wirklichkeit lieber die Freiheit des Unglaubens, wenigstens gestatten
wir jedem, der kein guter Christ oder Jude ist, ein so lauer zu sein,
wie er nur mag – bereiten ihm aber in dem Augenblick große
Schwierigkeiten, wo er kein lauer sein will, so er ein guter nun einmal
nicht sein kann.
Wir
tun auch viele Dinge zum Teil, deren andrer Teil längst in der Ewigkeit
versunken ist. So verleihen wir mit jedem Orden die Zugehörigkeit zu
einer Ordensgemeinschaft, die gar nicht existiert. Wundern uns, daß
einst das öffentliche Rauchen mit Strafen belegt war, und wollen es
doch den Frauen nicht gestatten. Fühlen uns über die Zeit der
Kleiderordnungen erhaben, sind aber sittlich verletzt, wenn eine Frau
beim Sport Hosen trägt. Man könnte in solcher Art tagelang fortfahren,
Widersprüche aufzuzählen, ohne ein Ende zu finden. Niemals hatte eine
Zeit das Ungestüm, ihren Willen allen Erscheinungen des öffentlichen
Lebens aufzudrücken, jede hinterließ Reste der von ihr im übrigen
überwundenen Vorzeit und späteren Zeiten lohnte es erst recht nicht
mehr der Mühe, sie aufzulösen. Wenn nirgend anders, so erhalten sie
sich in den Formen und Formeln, vor allem denen der Höflichkeit und
guten Sitte. Auch unsere Briefanreden stammen aus solchen Tiefen der
Vergangenheit und die Art, in der man sich ihrer bedient, läßt wie ein
Leitfossil das Alter der Schichte erkennen. Wer um keinen Preis einem
Nichtadeligen Hochwohlgeboren schreibt, lebt für diese Minute in einer
Zeit, wo es noch starr geschiedene ‚Stände‘ gab, mit Adelsrecht und
Bürgerrecht. Wer aber nicht widerstehen kann, diese Ehrfurcht auch auf
höhergestellte Beamte zu erstrecken, macht eine Verbeugung vor jener
Zeit, wo alles Untertan und untertänig war und der Mensch mangels
Gegenbeweis als verdächtig galt, wer sich damals weder durch einen
Adelsbrief noch durch ein Beamtendiplom ausweisen konnte, wurde als ein
‚Individuum‘ bezeichnet, als ein ‚gewisser‘ oder ‚sicherer‘ So und so,
auf den eine ‚hohe‘ Polizei ein doppelt scharfes Auge hatte. Ganz
allmählich wird auch diese Sitte absterben und von etwas weniger Altem
ersetzt werden, das aber dann auch schon alt sein wird. Es sind
unschuldige Gedankenlosigkeiten, die so mitgeschleppt werden, denn je
weniger solche Gebräuche vom Nachdenken berührt werden, desto besser
erhalten sie sich. Sie strömen in ihrer Abgestorbenheit aber doch eine
leise Ungesundheit aus.“ [2]
Diese kritischen Worte bezogen sich auch auf den Adel als ständisches
„Überbleibsel“, als Rudiment einer vergangenen und doch auch noch
andauernden Zeit, die erst 1918 einem gewissen Ende entgegensehen
sollte. Übergangszeiten nun waren schon immer gern untersuchte
Gegenstände der historischen Wissenschaften, das gilt auch für den in
der Überschrift angesprochenen Vormärz, die Zeit zwischen französischer
und deutscher Revolution, die Ära zwischen 1789 und 1848/49, die Zeit
der Metternichschen Restauration. Hier kämpften Adelige ebenso wie
Nichtadelige für neue Ideen oder den Beibehalt bisheriger Zustände, auf
politischem wie sozialem Gebiet. Ein neuer Sammelband nun beschäftigt
sich ebenfalls wieder einmal mit dem Themenkomplex von „Adel im
Vormärz“. In einem Vorwegwort wird in das Thema eingeführt (Seite
7-32), Kontinuitäten und Bruchlinien werden betont, auch die sich
daraus ergebenden Spannungen. [3]
En Passant entwirft das Vorwort außerdem, recht unerwartet aus dem
Moment heraus, nachdem es bisher um Fragen des Blicks auf den Adel –
Krise oder Beharrungskraft des Adels in der Krise? (Seite 9-11) – ging,
einen doch ganz eigenständig-solitären Beitrag zur Frage des
Wesenskerns des Adels, der zwar bisher schon vielfach formuliert worden
ist, im Grunde aber keinen Konsens finden konnte, vor allem deswegen,
weil sich die Autor:innen meistens nicht aufeinander bezogen haben. [4]
So wird auch hier, sozusagen frei schwebend, ein neuer – aber durchaus
origineller und bedenkenswerter – Versuch gewagt (Seite 12-13). „Adel“
beruhe demnach auf vorgeblich fünf Säulen; dazu zählten erstens in
diesem Modell ein herausgehobener Erbstatus in einer ungleichen
Gesellschaft (von Humandifferenzierungen, könnte man hier ergänzend
vermerken) [5] und ein Zurückstehen von Individualinteressen hinter das
Familienwohl, das zweitens auf dem Prinzip der familiären Ehre beruhe,
drittens standesgemäß eingehegte In-Group-Heiratskreise fordere,
viertens die Verfügung über Grund und Boden innehabe, die fünftens
schließlich in einen Herrschaftsanspruch münde. Dieses Modell hat
einiges für sich, bewegt es sich doch im Rahmen der „offenen
Horizonte“, die mit dem Adelsbegriff assoziiert werden. [6] Leider läßt
aber auch dieses Modell außen vor, daß eben auch soziale Mitwelten den
Adel mit gestalten und erzeugen, so daß der Fokus in dem neuen Entwurf
leider zu sehr adelszentriert bleibt und damit nur unvollständig –
trotz des forschungsseitigen Standortes des 21. Jahrhunderts – in einer
eher altständischen Weise die Konstruktion, Hervorbringung und
Tradierung von Adel als sozialer Schicht und „Gedankending“
nachvollzieht. [7]
Positiv hervorzuheben ist indes am Sammelband die interdisziplinäre
Herangehensweise, da literatur- und geschichts- ebenso wie musik- und
kulturwissenschaftliche Blicke gleichberechtigt nebeneinander stehen,
auch Literaturstellen oft als Destillat bestimmter Gedanken
herangezogen werden, so aus Pückler-Muskaus „Tutti Frutti“ (1834), wo
es heißt: „[noch Seite 117] Da ich schon im Gasthof erfahren, daß die
Herrschaft abwesend sey, so meldete ich mich unverzüglich bei der alten
Schaffnerin, um die Erlaubniß zu erhalten, das Innere des Schlosses zu
besehen. Es war diese Person als Inventarienstück von der Familie [v.]
Niederthal mit dem Gute verkauft worden, und schien durch den
ehemaligen Dienst in einem hohen Hause sehr aristokratische Gesinnungen
eingesogen zu haben. Sie führte mich zuerst in den Speisesaal, wo ich
mit Verwunderung eine Menge Ahnenbilder erblickte. ‚Sind diese‘, frug
ich [folgt Seite 118] lächelnd, die Vorfahren Malecke's v.Goldsberg?‘ –
‚I Gott bewahre!‘ erwiederte [sic!] eifrig die Schaffnerin, ‚das sind
alles alte Niederthale.‘ ‚Hat man denn die auch mit verkauft?‘ frug ich
weiter. ‚Ach, du lieber Himmel! Die alte Herrschaft wußte wohl gar
nichts davon, und ästimirte das alte Zeug auch nicht.
Die
Bilder lagen zerrissen und verstaubt auf einer alten Rumpelkammer, wo
sie der neue Herr erst gefunden, und gleich sorgfältig hat repariren
und aufhängen lassen, damit es, wie er sagte, recht alterthümlich hier
aussehen möchte. Gleich daneben in der Frau ihrer Stube (sie nannte
ihre neue Gebieterin niemals anders als: die Frau, tout court), wo
unsere gnädige Gräfin auch wohnte, da hängen die Malecke's, die sehen
nun freilich ganz anders aus.‘- ‚Das macht die moderne Tracht,‘ sagte
ich, ‚denn es war allerdings nicht zu läugnen, daß die Ritter des
goldenen Vließes, die blau und roth bebänderten [folgt Seite 119]
Herren mit ihren strengen Gesichtszügen und großen Allongenperücken,
die stolzen Damen in ihren Reifröcken, denen Mohren und Zwerge die
Schleppe nachtrugen, ziemlich sonderbar mit dem Stillleben
contrastirten, welches die Familienbilder der Malecke's in ihren
modernen Jagdpikeschen und kurzen Damenröcken darboten. Indessen der
Glanz jener Alten ist erloschen, die Fracks und Jacken daneben sind in
Besitz der Herrschaften, und dabei des sichersten Adels unserer Tage,
nämlich des Geldes. In fünfhundert Jahren werden die jetzt Neuen
überdies ziemlich eben so vornehm sein, als es die Alten waren, ja
vielleicht geht es ihnen dann eben so wie Jenen, und ein neuer Mann von
2325 ersteht das Gut der alten Malecke's, und hängt ihre
halbvermoderten Ahnenbilder wiederum in seinem Eßsaal auf, ‚damit es
alterthümlich aussieht‘. Denn die divina Comoedia geht immer so fort,
und nichts wahrhaft [folgt Seite 120] Neues, wiewohl immer etwas anders
bestrahlt, entsteht unter der Sonne!“ [8]
Das
Vorwort des Sammelbandes liest diesen Abschnitt als den Gegensatz
zwischen einem in Jahrhunderten sozialisierten Altadel der Geburt und
dem rasch – und daher parvenühaft – sozial aufgestiegenen Neuadel des
Geldes, der sich aristokratisiert habe. Dabei sei der Altadel
vergangen, der Neuadel komme und werde aber auch in ferner Zukunft
wieder vergehen. Man kann diese Stelle aber auch als „un/doing
nobility“ lesen, wonach soziale Mitwelten, Adelsbeanspruchende und Zeit
maßgebliche Mit-Akteur:innen waren, um Adel überhaupt entstehen zu
lassen, da auch der Altadel irgendwann einmal in der verflossenen
Vergangenheit ein „Neuadel“ gewesen ist. [9] Auf „alt“ oder „neu“ kommt
es also eigentlich gar nicht an, lediglich auf die Erzeugung von Adel
in einem ganz grundsätzlichen Sinne. Auch hier wird daher wieder die
geradezu altständische Sichtweise dessen, was man als Adel bezeichnet
(nach dem herkömmlichen Konzept „being nobility“), verfolgt, im Grunde
eine Apologie des Adels geliefert, indem die Forschung kritiklos den
einstigen (wenngleich doch äußerst wirkmächtigen) Selbstdefinitionen
von Adel „aufsitzt“ und sie diskursiv weiterträgt. [10]
Abgesehen
von dieser Rahmung bieten die weiteren Beiträge des Sammelbaned teils
neuformulierte, teils auch nur neu gekleidete Sichtweisen, so auf „den
Gotha“ als adeliges Selbstverständigungs- und Identitätsinstrument, dem
„Pathos der Distanz“ verpflichtet. [11] Dort wird detailliert
nachgezeichnet, wie „der Gotha“ vom Staatskalender mit pragmatischem
Nutzen zum Standeskalender und Werkzeug des Wiedererkennens „entre
nous“ wurde. [12] Dabei werden auch spannende Einblicke in die
literarischen Verwendungsweisen „des Gotha“ präsentiert, deren
systematische Betrachtung indes derzeit aussteht und einen eigenen
künftig noch erst zu erstellenden Beitrag wert wäre. [13] Weiters
erfahren die Lesenden in einem Beitrag über die vormärzliche „Zeitung
für den deutschen Adel“ von einem beachtenswerten literarisch
(satirisch) ausgefochtenen Konflikt zwischen dem Sozialisten Friedrich
Engels und der aus Adeligen bestehenden Zeitungsredaktion (Seite
62-70). Ein weiterer Aufsatz des Sammelbandes widmet sich sodann Form
und Inhalt von Nobilitierungsgesuchen; der Beitrag kann als
Ausgliederung und Zusammenfassung einer noch nicht publizierten
Dissertation betrachtet werden. [14] Lobenswert ist hier hervorzuheben,
daß in dem Aufsatz nicht nur letztlich positiv beschiedene Gesuche um
eine Adelung berücksichtigt werden, sondern explizit auch abgelehnte
Eingaben zur Betrachtung kommen: Wer große Geldmengen durch Spekulation
schnell erworben hatte, schien es nicht wert zu sein, adelig zu werden;
zu suspekt kam den Behörden solche ein ökonomisches Verhalten vor
(Seite 87). [15]
Auf
sehr innovative Weise befassen sich zwei weitere Beiträge außerdem mit
interständischen Umgangsweisen (man könnte ergänzen: als immateriellen
Aktanten zur Adelserzeugung). Hier werden anhand zweier bürgerlicher
Reisender, die über ihre Reise und Begegnungen mit Adeligen Berichte
verfaßten, die positive Herablassung seitens Adeliger thematisiert,
mithin die temporäre Aufhebung ständischen Abstands im Bewußtsein einer
besonderen Auszeichnung der Nichtadeligen und bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung eben jener Distanz als notwendiges Mittel
humandifferenzierender Kategorien. [16] Anhand von Fanny Lehwalds
Erzählung „Jenny“ (1843) wird der Fokus außerdem auf die „Désinvolture“
gelenkt, die „Ungezwungenheit“, die ebenfalls als eine Art kurzzeitiger
Verringerung des „Pathos‘ der Distanz“ durch Leutseligkeit der Adeligen
gegenüber Nichtadeligen gelten darf. [17] Zu einer vollständigen
Erörterung alltäglicher vormärzlicher interständischer
Kommunikationsweisen würden zwar auch Gefühle und Handlungsweisen des
Nichtadels gegenüber dem Adel (so Ehrerbietigkeit, Ehrfurcht,
Passivität [18]) gehören, doch ist mit den beiden Aufsätzen schon
einmal ein Anfang gemacht, der darauf hoffen läßt, daß derlei
affektiv-immaterielle Tauschgeschäfte zwischen Adel und Nichtadel
zukünftig intensiver ausgeleuchtet würden. Schließlich spielen sie für
die kommunikative und performative Erzeugung von Adel eine ganz
wesentliche Rolle, werden bisher aber zu wenig beachtet.[19]
In
weiteren Facetten behandelt der Sammelband ferner unter anderem auch
die Bedeutung von Reiseberichten, hier ausgeführt am Beispiel der
Autorin Elise v.Hohenhausen und ihrer Schilderung „Natur, Kunst und
Leben“ (1820), indem sie unter anderem über interständische Begegnungen
spricht. Es ist ein Verdienst des Aufsatzes, daß er aufmerksam macht
auf das Potential vormärzlicher Reiseliteratur hinsichtlich des
adeligen Selbstverständnisses, das dort vielfach zum Ausdruck zu kommen
scheint, wenn eben nicht nur Orte, Sehenswürdigkeiten, Landschaften,
Städte und Sitten eines bereisten Landes geschildert werden, sondern
Selbsteinschätzungen am jeweils „generalisierten Anderen“ reflektiert
werden, etwa, wenn Hohenhausen über die Dummheit und Trägheit
Nichtadeliger, über „Menschen niedern Standes“ um Paderborn spricht und
schreibt (Seite 191). Hier wäre noch ein reiches Betätigungsfeld für
die Adelsforschung, indem einmal systematisch oder vielleicht auch nur
exemplarisch weitere Reiseberichte als Selbstvergewisserungsorgan und
-medium des Adel gelesen werden könnten. Auch wenn die
Selbstverständnisforschung zum Adel ein leider schon stark
ausgetretener breiter Pfad der Forschung ist und sich in
„aristokratischer Nabelschau“ ergeht (anstatt intensiver die
Wechselwirkungen mit der nichtadeligen Umwelt zu besehen), [20] könnte
doch dieser Zugriff noch recht erfolgversprechend sein. [21] Das gilt
wohl nicht zuletzt auch und gerade für Krisenzeiten des
gesellschaftlichen Umbruchs, für Zeiten der Renovation alter
Verhältnisse, in der der Adel indes fast permanent war, je nachdem, wie
groß man die Zeiträume fassen will. [22]
Aspekte
von Autorschaft und Adel, den Selbstverständnissen als adeliger
Schriftsteller und schriftstellernder Adeliger (am Beispiel der
Bekanntschaft zwischen Astolphe du Custine und Hermann Fürst
v.Pückler-Muskau), aber auch Spezifika adeliger „Salonliteratur“,
„Salonpoesie“ oder „Konversationsprosa“ werden in weiteren Beiträgen
des Sammelbandes erörtert (Seite 246-247). [23] Hier wird die Qualität
der Textsorte des speziellen Romans in zeitgenössischen
Aristokratiekreisen erörtert und definiert; sie stellt einen bislang
nur wenig betrachteten Gegenstand der Germanistik dar, eine Unterform
des Adelsromans. Damit teilt die „Salonliteratur“ das Schicksal des
ebenso bisher in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft wenig
analysierten Offiziersromans. [24]
Insgesamt
wird damit ein Kaleidoskop von Adelsthemen des Vormärz in den
unterschiedlichsten Bereichen angesprochen, die als innovativ gelten
dürfen, vielfältige Anregungen geben, teils auch explizit als Hinweis
auf Forschungsdesiderate verstanden werden wollen (Seite 255). Insofern
ist das Erscheinen des Bandes, mit geringen Abstrichen, überaus
begrüßenswert, nicht zuletzt als mannigfaltiger und breit aufgestellter
Impulsgeber für die Adelsforschung in Bezug auf die vormärzliche Epoche. Denn
eben jener Vormärz erwies sich als Epoche, in der der Adel zwar als
politische Institution gefährdet war und angegriffen wurde; aber er
war eben nicht nur, wie der obige Anonymus
vermeinte, eine „unschuldige Gedankenlosigkeit, die so
mitgeschleppt“ wurde, sondern
bewies ein gehöriges Maß an Innovations- und Renovationsvermögen
zum Überleben auch über die Revolution von 1848/49 hinaus.
Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A.,
M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche
Adelsforschung in gedruckter Form.
Annotationen:
- [1] = Dazu siehe Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hg.):
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band X., Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, Spalte 916-919; Gerd Reinhold
(Hg.): Soziologie-Lexikon, München: Oldenbourg 4. Auflage 2000, Seite
589.
- [2] = Soldaten-Zeitung („Im Felde“, eigentlich aber,
da es sich um eine südtirolische Zeitung handelte, in Bozen), Ausgabe
Nr. 39 vom 4. März 1917, Seite 3-4.
- [3] = Claude D. Conter / Urte
Stobbe (Hg.): Adel im Vormärz. Begegnungen mit einer umstrittenen
Sozialformation, Bielefeld 2023, 296 Seiten, erschienen im
Aisthesis-Verlag; erhältlich im Buchhandel um den Preis von 40,00 Euro
unter der Internationalen Standardbuchnummer „978-3-8498-1859-3“
(übrigens auch als eBook, dann jedoch unter der ISBN
„978-3-8498-1860-9“), angelegt als Sammelband mit 12 Aufsätzen aus den
drei Bereichen „Formen adliger Selbstvergewisserung“, „Adlige Salons“
und „Adligkeit und Schreiben“ und den Disziplinen der Literatur- und
Musikwissenschaft, der Geschichts- und Kulturwissenschaft und der
Philosophie; hervorgegangen aus der Tagung „Adel im Vormärz“ vom 15.
bis 17. Juli 2021 in der Nationalbibliothek in Luxemburg. Der Band
steht daher in der Tradition von Rudolf Brandmeyer: Biedermeierroman
und Krise der ständischen Ordnung. Studien zum literarischen
Konservatismus, Tübingen 1982, VI und 170 Seiten (Band 5 der Reihe
„Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur“; betrifft den
Adel im Vormärzroman). Leider wird allerdings an keiner Stelle des
Bandes auf dieses für das Thema einschlägige Werk Bezug genommen. Dass
der Forschungsstand im Vorwegwort allgemein bedauerlicherweise nicht
hinreichend ausgeleuchtet wurde, zeigt auch die Nichtberücksichtigung
von Literaturpositionen, die ebenso einschlägig gewesen wären. Dazu
zählen a) Laura Hirschberg: Die Rolle der adeligen Frau im Vormärz.
Annette Droste-Hülshoffs „Am Turme“, Norderstedt 2015, 13 Seiten
(Hausarbeit Universität Düsseldorf 2015), b) Harald Müller: Von der
Ungemütlichkeit des Geldes. Kraftprobe zwischen Bourgeoisie und Adel,
in: Aufbruch in die Bürgerwelt. Lebensbilder aus Vormärz und
Biedermeier, Münster in Westfalen 1994, 433-440, c) Karin Baumgartner:
„Der verarmte Edelmann wird Mäkler, Speculant, oder gemeiner Bauer“.
Geld, Ökonomie und Adel in den konservativen Texten des Vormärz, in:
Jutta Nickel (Hg.): Geld und Ökonomie im Vormärz (19. Jahrbuch des
Forum Vormärz-Forschung 2013), Bielefeld 2014, Seite 37-55, d) Carl
Heiner Beusch: Adlige Standespolitik im Vormärz. Johann Wilhelm Graf
von Mirbach-Harff (1784-1849), Münster 2001, 638 Seiten, e) Jost
Hermand: Adliger Schloßherr und bürgerlicher Fabrikant. Karl Leberecht
Immermanns „Die Epigonen“ (1836), in: Hermand, Jost (Hg.): Das liebe
Geld! Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur, Köln 2015,
Seite 91-104, f) Gert Zang: Der badische Adel im Vormärz (bis 1848),
in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hg.): 1848/49. Revolution der
deutschen Demokraten in Baden, Baden-Baden 1998, Seite 75-79, g)
Elisabeth Fehrenbach: Ein Rechtsstreit des Vormärz um die
Adelsprivilegien im Königreich Württemberg, in: Tiziana J. Chiusi
(Hg.): Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für
Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, Seite 215-228, h) Uta von
Pezold: Adelige Standesherrschaft im Vormärz. Die Tagebücher des Grafen
Carl von Giech (1795-1863), München 2003, XIII und 251 Seiten (Band 17
der Reihe „Materialien zur bayerischen Landesgeschichte“; zugleich Band
52 der Reihe „Die Plassenburg für Heimatforschung und Kulturpflege in
Ostfranken“), i) Nomen Nescio: Aus der Geschichte der Wiener
Gesellschaft im Vormärz (Teil 5). Österreichische Adelsverhältnisse im
Allgemeinen. Die zweite Gesellschaft Wiens und ihr Verhältniß zur
ersten, in: Neues Fremden-Blatt (Wien), Ausgabe Nr. 337 vom 8. Dezember
1867, Seite 4-5, j) Milan Hlavacka: Das Versagen der adligen Eliten in
Böhmen. Die Reformkonzepte des Grafen Wilhelm Wurmbrand in der
Vormärzzeit, in: Miloš Rezník / Lubos Velek (Hg.): Adelsgeschichte als
Elitenforschung, München 2012, Seite 121-138, k) Karin Schneider:
Höfische Eliten im Vormärz – Die Obersten Hofchargen als Beispiel, in:
Tatjana Tönsmeyer / Libos Velek (Hg.): Adel und Politik in der
Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und
Demokratie, München 2011, Seite 167-180, l) Gernot Stimmer: Kontinuität
und Wandel regionaler Eliten zwischen Ancien Régime und Vormärz. Zur
Einführung, in: Marco Bellabarba (Hg.): Eliten in Tirol zwischen Ancien
Régime und Vormärz, Innsbruck 2010, Seite 15-28.
- [4] = Dazu siehe beispielhaft a ) Marcus Funck / Stephan Malinowski:
Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und
Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer
Republik, in: Historische Anthropologie, Band 7, Heft 2, Köln: Böhlau
1999, Seite 236-270, b) Eckart Conze: Adel, in: Eckart Conze (Hg.):
Kleines Lexikon des Adels, München: C. H. Beck 2005, S. 15-16, c)
Heinrich Theodor Grütter / Magdalena Drexl / Axel Heimsoth / Reinhild
Stephan-Maaser (Hg.): Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr,
Essen 2021, Seite 10-11 und 17, d) Heinz Reif: Adel, Aristokratie,
Elite, Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2016, Seite 303-326, e) John H.
Kautsky: Funktionen und Werte des Adels, in: Peter Uwe Hohendahl / Paul
Michael Lützeler (Hg.): Legitimationskrisen des deutschen Adels
1200-1900, Stuttgart: J. B. Metzler 1979, Seite 1-16; Gerhard Dilcher:
Der alteuropäische Adel, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer
Adel 1750-1950, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, S. 87-95;
Otto Gerhard Oexle: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und
in der frühen Neuzeit, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.): Europäischer Adel
1750-1950, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990, Seite 19-56.
- [5] = Dazu siehe Dilek Dizdar / Stefan Hirschauer / Johannes Paulmann /
Gabriele Schabacher (Hg.): Humandifferenzierung. Disziplinäre
Perspektiven und empirische Sondierungen, Weilerswist: Velbrück
Wissenschaft 2021, 370 Seiten. Sowie grundlegend zu diesem innovativen
Konzept (auch als Impulsgeber für die Adelsforschung) Stefan
Hirschauer: Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer
Zugehörigkeiten, in: Zeitschrift für Soziologie, Band 43, Heft 3, Juni
2014, Seite 170-191.
- [6] = Dazu siehe Thomas Luckmann: Von der alltäglichen Erfahrung zum
sozialwissenschaftlichen Datum, in Ilja Srubar / Steven Vaitkus (Hg.):
Phänomenologie und soziale Wirklichkeit, Opladen: Leske & Budrich
2003, Seite 15. – Das Fünfsäulenmodell stellt, wie jede Abstraktion,
eine „Authentizitätsfiktion“ dar, zumal es seitens der Herausgebenden
des Sammelbandes leider ohne jede Quellenangabe isoliert entworfen
wird. Andere Modelle jedenfalls finden sich zuhauf in der Forschung, so
beispielhaft auch bei Marcus Funck / Stephan Malinowski: Geschichte von
oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des
deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Historische
Anthropologie, Band 7, Heft Nr. 2 (Dezember), Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 1999, Seite 236-270; enthält auf den Seiten 245-260 die
These von „Adeligkeit“ als Set von fünf Haltungen und Kernmerkmalen
„des Adels“). – Zur Authentizitätsfiktion siehe ferner Siegfried J.
Schmidt: Lernen, Wissen, Kompetenz, Kultur. Vorschläge zur Bestimmung
von vier Unbekannten, Heidelberg: Auer 2005, Seite 85.
- [7] = An dieser Stelle sei angemerkt, daß die exemplarisch erwähnten Studien
auch hätten systematisch erwähnt werden können mit einem schlichten
Verweis auf die in dem Vorwort zum Sammelband nicht zur Kenntnis
genommene umfassendste Adelsbibliographie, die derzeit im
deutschsprachigen Raum existiert. Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Neue
Bibliographie zum deutschen Adel. Monographien, Sammelbände und
Aufsätze des Erscheinungszeitraums ab 1494 bis heute zum Adel in den
deutschsprachigen Ländern, Sonderburg: Selbstverlag des Instituts
Deutsche Adelsforschung 2023 (Band XXVI der Schriftenreihe des
Instituts Deutsche Adelsforschung), virtuelle Auflage vom 7. Februar
2023, 1420 Seiten. – Die Art der Anführung von Forschungsliteratur
macht sich auch bemerkbar in der Fußnote 51 auf Seite 26. Es werden
dort viele Belege zitiert, die aber nicht zeigen, daß die Beschäftigung
mit Adel in der Literatur weit älter ist. Siehe dazu exemplarisch Nomen
Nescio (X): Wilhelm v.Polenz als Schilderer der agarischen Verhältnisse
des deutschen Ostens, in: Deutsches Adelsblatt, Jahrgang XX, Berlin
1902, Seite 767-768, 784-785 und 798-800; Oldwig v. Uechtritz: Der
deutsche Adel in der Literatur, in: Deutsches Adelsblatt 1894, Seite
108 und 148; Schickfus: Die Welt des Adels in den Romanen des Freiherrn
Georg v.Ompteda und des Grafen Eduard v.Keyserling, in: Deutsches
Adelsblatt (Berlin), Ausgabe Nr. 2 vom 9. Januar 1937, Seite 37-39;
Benno Radau: Der deutsche Adelsroman in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts, Freiburg im Breisgau 1930, IV und 263 Seiten
[Dissertation Universität Freiburg]; Richert: Adelsproblem in Omptedas
Adelstriologie, in: Akademische Blätter, Berlin 1902, Seite 329-331;
Hildegard v. Roosz: Die Rolle des Adels in der ungarischen Literatur,
in: Deutsches Adelsblatt, Ausgabe Nr. 15 vom 9. April 1938, Seite
486-487; Nomen Nescio: Vergessene adelige Dichter (betrifft Rehfues,
Schütz, Malsburg, Miltitz, Krug-Nidda), in: Deutsches Adelsblatt,
Jahrgang VIII, Berlin 1890, Seite 641-642; Irene Leibbrandt: Die alten
Stammbäume sind nun gefällt. Adel in der Literatur am Ende des alten
Reiches, Köln 1997, 132 Seiten; Nomen Nescio: Deutscher Adel in Kunst
und Literatur. Von Kleist bis heute. Die Vorliebe für die bildenden
Künste. Hugo v. Hofmannsthal und Wilhelm Scholz. Die falsche Theorie
von der Prädestinierung. Schriftstellernde Adelige, in: Neues Wiener
Journal (Wien), Nr. 4382 vom 5. Januar 1906, Seite 3-4; und viele mehr.
– Zum Terminus „Gedankending“ siehe auch Barbara Stollberg-Rilinger:
Nur ein bloßes Gedankending? Der deutsche Adel in der Anpassungskrise
um 1800, in: Werner Frese (Hg.): Zwischen Revolution und Reform. Der
westfälische Adel um 1800, Münster: Selbstverlag der Vereinigten
Westfälischen Adelsarchive 2005, Seite 59-24.
- [8] = Nomen Nescio [das ist Hermann von Pückler-Muskau]: Tutti Frutti. Aus
den Papieren des Verstorbenen, Band 2, Stuttgart: Hallbergersche
Verlagshandlung 1834, Seite 118-120.
- [9] = Dazu siehe Claus Heinrich Bill: Zur Einführung in die erneuerte
Adelstheorie „Un/doing nobility 2.0“ mit empirischen historischen
Beispielen (1/3), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.):
Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XXIV, Folge Nr. 117,
Sonderburg 2021, Seite 45-52; Teil 2/3, in: Institut Deutsche
Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Jahrgang
XXIV, Folge Nr. 118, Sonderburg 2021, Seite 2-52; Teil 3/3, in:
Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift für deutsche
Adelsforschung, Jahrgang XXIV, Folge Nr. 119, Sonderburg 2021, Seite
2-6.
-
[10] = Zur Steuerung möglicher Mißverständnisse sei gesagt, daß diese Sicht
nicht als falsch bezeichnet werden kann und daher ebenso wie jede
andere Perspektive legitim ist, aber eben nicht besonders innovativ und
eher im Althergebrachten verbleibend. Immerhin ist das sonst
lesenswerte Vorwort ein Exempel für die immer wieder erstaunlich
einfach funktionierende und dabei höchst effektvolle Beharrungskraft
simpler Pfadabhängigkeit eines Zitierkartells um die üblichen Namen
Reif, Matzerath, Malinowski (Seite 24-25). Dazu siehe weiterführend
Jürgen Beyer: Pfadabhängigkeit, in: Georg Wenzelburger / Reimut
Zohlnhöfer (Hg.): Handbuch Policy-Forschung, Wiesbaden: Springer VS
2015, Seite 149-171. Wie dies abläuft, hat eindrücklich gezeigt
Cyriacus Spangenberg: Ander Teil des Adelspiegels, Schmalkalden 1594,
Seite 21: „Das alter machet einem dinge ein ansehen: Je elter / je
edler vnd wirdiger.: „vnser deutsches Sprichwort sagt: Das alter sol
man ehren [...] das alter ist aller ehren werth. Also hat nun auch der
Adelstand seine ehre vnd wirde / wegen seines alters / Denn er ist je
nicht ein erst newlich erfundener stand / sondern es ist allezeit von
anfang der Welt her Adel gewesen […] Darnach ists auch in sonderheit
einem jeglichen Adelichem Stamme eine besonders grosse ehre / wenn man
denselben viel Jar und zeitlang zu rücke beweisen kan / denn je viel
elter ein Adelich Geschlecht ist / so viel herrlicher ist es auch.“ –
Siehe dazu auch Claus Heinrich Bill: Herkunft und Legitimation höherer
Adelsehre (Modell Bill), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.):
Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 5. Adelsgrafiken als Beitrag
zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung
dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg: Selbstverlag des
Instituts Deutsche Adelsforschung 2018, Seite 28-29.
- [11] = Dazu siehe G. L. Duprat: Soziale Typen oder soziale Klassen?, in: G.
Salomon (Hg.): Jahrbuch für Soziologie. Eine internationale Sammlung,
Band 1, Karlsruhe: Braun 1925, Seite 378-285; Nomen Nescio:
Stammbaumkomödien, in: Neues Wiener Journal (Wien), Ausgabe Nr. 4019 vom
1. Jänner 1905, Seite 4; Johann Christoph König (Hg.): Briefe über die
Erziehung der adelichen Jugend (herausgegeben von Johann Christoph
König, der Weltweisheit Magister), Nürnberg: Felßeckerische
Buchhandlung 1784, XXXVIII und 312 Seiten; Volker Gerhardt: Pathos der
Distanz, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Band 7, Basel: Schwabe 1989, Seite 199-200.
- [12] = Über eine Aquarellistin: „Denn Isa Jechl war die Malerin der
österreichischen Aristokratie, ihrer Kinder und ihrer Hunde. Noch in
der Erinnerung gerührt, erzählt sie, daß die schöne, dunkelgrüne Seide
des Kleides, das sie trägt, ein kürzlich eingelangtes Geschenk der
Exkaiserin Zita sei. ‚Ich trage keine Farben mehr‘, hat die verbannte
Frau, die von höchstem Menschenglück zu tiefstem Leid gelangte, zu
dieser Sendung als Erklärung geschrieben. Und die Malerin gedenkt mit
Wehmut der Stunden, da sie die bildschönen, strahlenden Kaiserkinder
gemalt. Damals drängten sich in ihrem Atelier die Gräfinnen und
Fürstinnen, noch während des Krieges traf man alles, was im Gotha
steht, bei ihr, die ganz im Stile der alten österreichischen
Aristokratie eine Einfachheit zeigt, die nahezu an Kleinbürgerlichkeit
grenzt. Für den Hosglanz hat sie nun den Glanz auf den Gesichtern
junger Mädchen eingetauscht, die glücklich sind, unter der Leitung der
verehrten Meisterin ein Stück Natur einfangen und wiedergeben zu
können.“ Zitiert nach Nomen Nescio (E. T.): Atelierempfänge, in: Neues
Wiener Journal (Wien), Ausgabe Nr. 11160 vom 15. Dezember 1924, Seite 8
– Anders unter entgegengesetzten Vorzeichen bei Benützung „des Gothas“
als Mittel der Diskriminierung beispielhaft bei Theodor Horn in einer
Buchbesprechung (Die Memoiren der Frau v.Hervay, in: Czernowitzer
Tageblatt, Nr. 741 vom Seite 2) ausgeführt:„In den Memoiren ist noch
eine Fülle von Details enthalten, die rein menschliches Interesse
wachrufen und nicht nur die Gier nach der Sensation befriedigen. So die
Hetze der Verwandten gegen die bevorstehende Vermählung. Alle jene
unsäglich feigen Mittel der anonymen Verdächtigung, der Hinweis, daß
die Frau nicht im ‚Gotha‘ steht, gehässige Spionage u. dgl., wie sie
den kleineren und kleinlichen Geistern zur Verfügung stehen. Bis
endlich der gequälte Mann rasend vor Wut mit der Verleumdungsklage
droht und erklärt, er würde sein ‚Mädchen‘ heiraten, auch wenn sie
zwanzigmal verheiratet gewesen, wenn sie zwanzig uneheliche Kinder
hätte und wenn sie im Zuchthause gesessen wäre.“ – Am Rande sei auf
einen fehler im Sammelband hingewiesen auf der Seite 52 in Fußnote 46.
Dort wird fälschlich angegeben, das deutsche Adelsarchiv in Marburg an
der Lahn würde noch heute (mithin 2023!) eine Reihe „des Gotha“
herausgeben, die sich mit dem Briefadel befassen würde. Dies ist nicht
richtig, da die ehemalige Trennung in „Adelige Häuser A“ für den so
benannten Uradel und „Adelige Häuser B“ für den so benannten Bullenadel
bereits vor 15 (sic!) Jahren aufgegeben wurde. Siehe dazu als Nachweis
Heinrich (Heiner) Baron v.Hoyningen genannt Huene: Die Teile A und B
der Bände des GhdA Adelige Häuser werden zusammengelegt in: Deutsches
Adelsblatt. Mitteilungsblatt der Vereinigung der Deutschen
Adelsverbände (Kirchbrak), Jahrgang 46, Ausgabe Nr. 12 vom 10. Dezember
2007, Seite 301 (Gründe für diesen Schritt der Abschaffung der
Unterscheidung zwischen „Uradel“ und „Bullenadel“ beziehentlich
„Briefadel“ in den Genealogischen Handbüchern des Adels ab dem Jahre
2008). – Eigentlich unnütz ist diesbezüglich übrigens im Sammelband ein
überflüssiger Widerspruch. Einmal heißt es auf Seite 53, „es wäre
fatal, diese Gebrauchsfiguration des Nachschlagens mit einer
empirischen Beschreibung oder einem historischen Rezeptionsbefund zu
verwechseln. Die genauen Verwendungen des Gotha beruhen auf
Diskursivierungen aus der Außenperspektive, um nicht zu sagen aus
bürgerlich-intellektueller Perspektive.“ Diese aus unbekannten Gründen
dezidiert als Anti-New-Historicism geäußerte Haltung wird dann nämlich
auf Seite 55 konterkariert mit der Bemerkung: „Barbara
Coudenhove-Kalergi, aus reichsgräflichem böhmischem Adel stammende
Doyenne der journalistischen Begleitung ostmitteleuropäischer
Zeitgeschichte, erzählt in ihrer Biographie und noch jüngst in einem
Interview , dass [sic!] sie ihrem Vater 1975 die Verehelichung mit dem
Widerstandskämpfer und Reformkommunisten Franz Marek verschwiegen
hatte. Er hat es dann ausgerechnet über den ‚Almanach de Gotha‘
erfahren und war nicht glücklich“. Der Beiträger kommt daher zu dem
Schluß: „Immerhin scheint der Gebrauch des Gotha durch den Adel bis in
die jüngere Vergangenheit exakt nach den Mustern zu funktionieren, wie
sie die Literatur heiter darstellt“ (Seite 55). Auch dem Versuch einer
Militarisierung „des Gothas“ als „Truppenregister“ für den Adel muß man
nicht folgen.
- [13] = Dazu exemplarisch Roda Roda: Gnädigste!, in: Das interessante Blatt
(Wien), Ausgabe Nr. 12 vom 24. März 1932, Seite 22: „Gnädigste! Sie
können sich niemand vorstellen, der so erfüllt von echtem, natürlichem
Hoheitsgefühl ist wie die böhmische Gräfin Gradski. Eine Dame mittleren
Alters, doch sagen wir lieber rund heraus: von einundvierzig Jahren (In
der Schicht der Gräfin Gradski ist nämlich gar nicht üblich, das
Geburtsjahr zu verschweigen oder zu verschieben, es ist ja deutlich für
jedermann im Gotha angegeben). Gräfin Gradski ist so vornehm, daß sie
bürgerliche Namen nicht behält. Sie stockt, so oft sie ‚Meier‘ sagen
soll – so heißt ihr Arzt, Universitätsprofessor (Dies Stocken ist nicht
Mache – lesen Sie in Freuds ‚Psychopathologie des Alltags‘ nach, woher
das Stocken rührt). Die Brüder der Gräfin sind malteserfähig, sie
selbst hätte jederzeit ins Damenstift eintreten können, wenn sie es
nötig gehabt hätte (Man braucht, um aufgenommen zu werden, eine
Ahnentafel mit vierundsechzig adeligen Quartieren, doch müssen die
Urgroßeltern der letzten Ahnenreihe noch adelig geboren sein: macht
insgesamt die Kleinigkeit von 1024 erprobten Ahnen). Einst redet Gräfin
Gradski leutselig mit ihrem Meier. Anders als leutselig redet eine
wahre Gräfin nie, auch wenn sie ihren Titel verlor.“
-
[14] = Es ist daher irritierend (Sammelbandseite 74), diesen Titel
bibliographisch bereits als „Adelspolitik in der späten
Habsburgermonarchie, München 2021“ zu bezeichnen. Im elektronischen
Katalog der Universitätsbibliothek München (LMU) ist eine solche Arbeit
derzeit nicht nachweisbar, auch im Bayerischen Bibliotheksverbund nicht
und schließlich auch nicht im Karlsruher Virtuellen Katalog, im Katalog
der Österreichischen Nationalbibliothek oder der Deutschen
Nationalbibliothek. Ebenso kennen die Verzeichnisse der elektronischen
Dissertationen der TU München oder der LMU München eine solche Arbeit
nicht. Vollends ärgerlich ist, daß nicht nur pauschal auf diesen Titel
verwiesen wird (Seite 74 in Fußnote 12), sondern auch Seitenzahlen als
Belege genannt werden (Seite 86 in Fußnote 62), die aus oben
genannten Gründen aber nicht geprüft werden können. In dieser Hinsicht
völlig inakzeptabel ist, dies Prinzip der Nennung unerschienener
Arbeiten noch weit mehr übertreibend, ein angeblicher Band von Albrecht
Cordes: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten
Reich, Band 65 (Inner- und außergerichtliche Alternativen zur
kontroversen Streitentscheidung im 15.-19. Jahrhundert), ohne Ort 2065
[sic!] aus dem Böhlauverlag, der aber bereits jetzt, 42 Jahre früher
als angeblich „erschienen“, katalogisiert
(„https://kxp.k10plus.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=856793426“) worden ist.
- [15] = Thematisiert wurden derlei Fälle auch schon bei Harald v.Kalm: Das
Preußische Heroldsamt 1855-1920, Adelsbehörde und Adelsrecht in der
preußischen Verfassungsentwicklung (Quellen und Forschungen zur
Brandenburgischen und Preußischen Verfassungsentwicklung Band 5),
Berlin 1994, Seite 71, und bei Claus Heinrich Bill: In öffentlichen
Angelegenheiten ist er wenig thätig gewesen. Ablehnungen von Anträgen
auf Adelsverleihung in Pommern, in: Nobilitas. Zeitschrift für deutsche
Adelsforschung, Folge Nr. 16, Jahrgang IV, Sonderburg 2001, Seite
783-789.
- [16] = Dazu siehe auch Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches
Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Band 2, Leipzig 1796, Seite 1112:
„Die Herablassung, plur. die -en, von der R.A. herab lassen, die
Handlung des Herablassens. Die Herablassung eines Steines, wenn solches
vermittelst der Seile von einem höhern Orte geschiehet. Am häufigsten
im figürlichen Verstande, die Bequemung nach anderer geringerm Stande,
oder schwächern Einsichten. Mit der größten Herablassung zu seinen
Bedienten reden. Die Herablassung zu andrer Schwachheiten, Fähigkeiten
und Einsichten“.
- [17] = Dazu als Exempel die freundlich herablassende Befassung eines Grafen
mit den Nahrungsfragen des Nichtadels bei Nomen Nescio: Die
Wunderkartoffeln, in: Feldkircher Anzeiger (Feldkirch), Ausgabe Nr. vom
7. Februar 1893, Seite 2-3: “[noch Seite 2] Graf (leutselig): ‚Na,
Waldhuber, mit was für einer Mästung habt denn Ihr Euch [folgt Seite 3]
so schön abgerundet?‘ Waldhuber: ‚Das machen Alles die guten
Kartoffeln, Herr Graf.‘ Graf: ‚Nicht möglich, das müßten ja geradezu
Wunderkartoffeln sein, die so brillant nähren.‘ Waldhuber (lächelnd);
‚Ja wohl, aber damit werden vorerst meine Schweine gefüttert, dann erst
ess' ich [die] Schweine.“
- [18] = Dazu siehe auch, obgleich aus pädagogischer Sicht verfaßt, dennoch
eindringlich auf das Adels-Nichtadels-Verhältnis übertragbar, Hermann
Rolfus / Adolph Pfister (Hg.): Real-Encyclopädie des Erziehungs- und
Unterrichtswesens nach katholischen Principien, Band 1, Mainz: Florian
Kupferberg 1863, Seite 417-418: „[noch Seite 417] Ehrerbietigkeit und
Ehrfurcht. Ehrerbietigkeit nennt Lossius die Hochachtung, welche sich
der Unterwürfigkeit nähert. Es ist diese Gesinnung vorzüglich den
Kindern eigen. Ihre Schwäche und Hilfsbedürftigkeit läßt [folgt Seite
418] sie die Ueberlegenbeit Anderer ihnen in Demuth zu beugen, in
Hochachtung zu unterwerfen haben, und es braucht daher nicht viel,
ihnen diese Art von Hochachtung einzuflößen. Nur ein Umstand kann
dieses Bestreben des Erziehers erschweren, wenn nämlich die Eltern
Trotz und Respectlosigkeit gegen Erwachsene bei ihren Kindern gleichsam
pflanzen, was leider nur zu häufig geschieht. Andererseits begeht
mancher Lehrer den Fehler, die Pflege der Ehrerbietigkeit bei seinen
Schülern zu vernachläßigen. Da er diese in Unterwürfigkeit gegen seine
Person zu erhalten weiß, so fällt es ihm nicht bei, dafür zu sorgen,
daß sie auch andern Menschen Ehrerbietigkeit beweisen, obwohl ihm klar
sein muß, daß die Ehrerbietung, welche er genießt, eine blos legale ist
und einen moralischen Werth erst dann erhält, wenn sie auf christliche
Grundsätze gegründet ist. Einem christlichen Lehrer genügt aber ein
legales Benehmen seiner Schüler nicht; ihre Hochachtung soll eine
innere, ihre Ehrerbietigkeit aufrichtig sein, und darauf hat er
hinzuwirken. Zu diesem Behufe wird er a) jede Ungeschliffenheit
derselben gegen hochgestellte Personen, jede Mißachtung der
Vorgesetzten, jede Geringschätzung alter Leute strenge rügen, und die
Fehler abzustellen suchen, welche die Eltern dadurch begehen, daß sie
mit ihren Kindern in einer Art tändeln, welche ihnen die hohe Meinung
nimmt, die sie von jenen haben sollten. Ruft man die Mitwirkung der
Eltern nicht an, um die Kinder zur Ehrerbietigkeit zu erziehen, so
werden die diesfallsigen Bemühungen des Lehrers und Geistlichen nur
einen geringen Erfolg erzielen. Es muß daher den Eltern die
Ueberzeugung beigebracht werden, wie vieles daran liege, daß sie und
alle Höhergestellten von den Kindern mit Ehrerbietigkeit behandelt
werden, daß sie in dieser Absicht ihre eigene Würde vor denselben
bewahren und sie anhalten sollen, sich demüthig den Vorgesetzten und
allen ehrwürdigen Personen gegenüber zu benehmen, daß sie aber
andererseits sich hüten sollen, die Handlungen, Anordnungen,
Ermahnungen der Lehrer und Obrigkeiten in Gegenwart ihrer Kinder und
um diesen zu schmeicheln oder der eigenen verlegten Empfindlichkeit
Luft zu machen, zu bekritteln. So z. B. soll es den Kindern nicht
gestattet sein, unaufgefordert sich in die Gespräche der Eltern zu
mischen, etwas mit den Worten ‚ich will‘ zu verlangen, oder etwas zu
verweigern mit den Worten ‚ich mag nicht‘. Auch soll es ihnen nicht
gestattet sein, die Dienstboten zu tadeln, und sie selbst untereinander
sollen nicht das Recht haben, daß das Eine die Leistungen des Andern
mustert und geringfügig beurtheilt. Besonders sehe man darauf, daß sie
[von] Gott geheiligte Personen und Sachen ehrerbietig behandeln. Mit
der Ehrerbietigkeit ist die Ehrfurcht verwandt, worunter man jene
Hochachtung versteht, welche sich bis zur Bewunderung steigert und ein
Betragen verabscheut, durch welches man den Beifall dessen verliert,
den man hochachtet und dem man unterworfen ist. Vor einem großen, mit
seltener Würde oder besondern Vollkommenheiten versehenen Manne hat man
Ehrfurcht, und wenn von der Ehrfurcht vor Gott die Rede ist, so wird
darunter die thätige Anerkennung seiner Majestät verstanden, die nicht
sowohl in Furcht besteht, als vielmehr in der Vorstellung von seinen
unaussprechlichen Vollkommenheiten, und in den hier aus fließenden
Gesinnungen und Gefühlen der Demuth, Bewunderung, Ergebenheit und
Unterwerfung unter seine heiligen Gefeße und Rathschlüsse.“
- [19] = Ausnahmen sind beispielhaft Kurt Andermann / Peter Johanek (Hg.):
Zwischen Nicht-Adel und Adel, Stuttgart 2001, 456 Seiten (Band 53 der
Vorträge und Forschungen der Konstanzer Arbeitskreis für
mittelalterliche Geschichte), aber auch Stefan Frey: Die Entstehung
eines neuen Adels?. Zum Wandel der Zürcher Oberschicht im 15.
Jahrhundert, in: Zürcher Taschenbuch, Band 125, Zürich 2005, Seite
127-150, sowie Stefan Frey: Fromme feste Junker. Neuer Stadtadel im
spätmittelalterlichen Zürich, Zürich 2017, 216 Seiten (Dissertation an
der Universität Zürich 2015, betrifft unter anderem die Frage, wie
soziale Aufsteiger:innen als Personen und Familien als adelig anerkannt
wurden und damit unausgeprochen das Konzept „un/doing nobility“, das
der konventionellen Auffassung von „being nobility“ entgegen steht).
- [20] = Für die Fülle solcher Untersuchungen siehe exemplarisch nur die
Literaturpositionen von Susanne Tienken: Zwischen Mehrsprachigkeit und
wortlosen Gebärden der Gunst. Stammbücher und Stammbucheinträge als
Form adeliger Selbstverständigung im Schweden des 17. Jahrhunderts, in:
Dessislava Stoeva-Holm / Susanne Tienken (Hg.): Von Köchinnen und
Gelehrten, von Adeligen und Soldaten. Interdisziplinäre Zugänge zum
Erschliessen menschlichen Daseins in der Vormoderne, Uppsala 2014,
Seite 105-130; Georg Scheibelreiter: Wappen und adeliges
Selbstverständnis im Mittelalter, in: Mediävistenverband (Hg.): Das
Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Zeitschrift des
Mediävistenverbandes, Band 11, Heft Nr. 2, Berlin 2006, Seite 7-27;
Vicky Rothe: Adeliges Selbstverständnis und Strategien des
„Obenbleibens“ Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel der Familie von
Schönberg auf Thammenhain, in: Sächsisches Staatsarchiv (Hg.): Die
Adelsfamilie von Schönberg in Sachsen (Fachkolloquium des Sächsischen
Staatsarchivs im Staatsarchiv Leipzig am 22. Oktober 2010), Dresden
2011, Seite 36-58; Gerd Althoff: Anlässe zur schriftlichen Fixierung
adeligen Selbstverständnisses, in: Zeitschrift für Geschichte des
Oberrheins, Band 134, Karlsruhe 1986, Seite 34-46; und viele mehr.
- [21] = Grundlage dazu könnte im Übrigen die gut befüllte
Reiseliteraturbibliographie („Deutschsprachige Reiseliteratur vom 18.
bis 20. Jahrhundert“) sein, die von der holsteinischen Landesbibliothek
zu Eutin gepflegt wird und unter der Adresse
„https://lb-eutin.kreis-oh.de/index.php?id=275“ virtuell einsehbar ist.
Hieraus stammt unter anderem auch die wahrscheinlich unter den
vorgenannten Hohenhausenaspekten besehen ähnlich lesenswerte (und das
vormärzliche Jahr 1819 behandelnde) Reisebeschreibung von Julius
v.Maltzan Freiherr zu Wartenberg und Penzlin: Erinnerungen und Gedanken
eines alten Doberaner Badegastes, Rostock: Meyer 1893, 38 Seiten. Zu
denken wäre aber auch beispielhaft weiters an Carl Theodor Baron von
Uklanski: Briefe über Polen, Österreich, Sachsen, Bayern, Italien,
Etrurien, den Kirchenstaat und Neapel, an die Comtesse Constance de S.,
geschrieben auf einer Reise vom Monat Mai 1807 bis zum Monat Februar
1808, Band 1-2, Nürnberg: Campe 1808, 386 und 653 Seiten.
- [22] = Adelskrisen gab es zu allen Zeiten, nicht nur im Vormärz. Siehe dazu
Hans-Christof Kraus: Adelskrise und Umbruch 1918/19. Das Ende des
deutschen Kaiserreichs in den Adelsromanen des Fedor von Zobeltitz, in:
Zdenek Hazdra / Vaclav Horcicka / Jan Zupanic (Hg.): Šlechta střední
Evropy v konfrontaci s totalitními režimy dvacátého století, Prag 2011,
Seite 13-20; Klaus Graf: Adelskrise, in: Friedrich Jaeger (Hg.):
Enzyklopädie der Neuzeit, Band I., Stuttgart 2005, Spalte 62-64;
- [23] = Dazu ferner Eckart Conze: Adelsroman, in: Eckart Conze (Hg.): Kleines
Lexikon des Adels, München 2005, Seite 38-39; Walter Manggold: Der
deutsche Adelsroman im 19. Jahrhundert, Quakenbrück 1934, III und 117
Seiten; Ulrich Gaier: Wozu braucht der Mensch Dichtung? Anthropologie
und Poetik von Platon bis Musil, Stuttgart 2017, 300 Seiten (betrifft
Adelsromane als Textsorte auf den Seiten 224-226). – Zu dieser Art von
Literatur (am Beispiel einiger Erzählungen des
Schriftstellenden-Ehepaars v.Binzer) notierte man bisweilen warnend:
„Möge der Verfasser [der Rezensent wußte nicht, daß es sich hierbei um
zwei unter dem verbürgerlichten Pseudonym „A. T. Beer“ schreibende
adelige Personen handelte], welcher ein schönes Talent zum angenehmen
Erzählen zeigt und der die Grenzen des Schicklichen mit Feinheit in
diesen Erzählungen beobachtet, das Publikum bald mit mehren Früchten
seiner Musse wieder erfreuen; aber [der von sich slebst in der dritten
Person sprechende] Rec.[ensent] möchte auch den Wunsch aussprechen,
dafs der H[er]r. Verf.[asser] nach Classicität im Stil streben und sich
nicht der unseligen Zeitrichtung hingeben möchte, welche die
Conversationsprosa der höhern Stände, als Musterprosa der Romane und
Erzählungen, einzuführen sucht.“ Zitiert nach Nomen Nescio: Schöne
Literatur, in: Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle an der Saale),
Ausgabe Nr. 142 vom August 1837 (ohne genaue Tagesangabe), Spalte 528.
– Ferner abfällig auch in ähnlicher Weise zu den Binzerschen
Schöpfungen Nomen Nescio: Romanenliteratur, in: Blätter für
literarische Unterhaltung (Leipzig), Ausgabe Nr. 327 vom 23. November
1837, Seite 1327. – Zum Lebenslauf des gebürtigen Schleswig-Holsteiners
siehe im Übrigen ergänzend Nomen Nescio: Freiherr August Daniel
v.Binzer, in: Fremden-Blatt (Wien), Morgenblatt-Ausgabe Nr. 93 vom 3.
April 1868, Seite 10: „Freiherr August Daniel v.Binzer, dessen am 20.
März in Neisse erfolgter Tod gemeldet ist, war im Jahre 1793 in Kiel
geboren als jüngster Sohn des dänischen Generalmajors v.Binzer, eines
hochgeachteten gelehrten Soldaten, in dessen Hause die berühmtesten
Professoren der Hochschule verkehrten. Der Philosoph Reinhold war der
Busenfreund des alten Generals, und später auch der Vormund seines
Sohnes August, der den Vater schon im 16. Lebensjahre verlor. Er machte
seine Universitätsstudien theils in Kiel, theils in Jena, wo er auch
zum Doktor promovirt wurde. Noch mehr als durch gelehrte Studien
zeichnete er sich dort durch Seelen- und Sittenreinheit, die sich auf
seinem schönen Antlitz malte, sowie durch sein bedeutendes
musikalisches Talent aus; er besaß eine prachtvolle Stimme, und
komponirte bis in seine letzten Jahre eine Menge Lieder, die er im
Manuskript aufbewahrte, und von denen viele der Veröffentlichung werth
sind. In Holstein lebt noch Mancher, der die Erinnerung jener
Kompositionen, die er mit seiner Gattin Emilie (geb. Freiin v.
Gerschau) sang, sich bewahrt hat. Das allbekannte Grablied der
deutschen Burschenschaft: ‚Wir hatten gebauet ein stattliches Haus‘,
wurde von ihm in Jena gedichtet und komponirt. Binzer war ein stilles
Gemüth, wußte sich nicht hervorzudrängen und die Wege der Weltklugen zu
gehen: er suchte seine Ehre in einem tadellosen Leben und in der
Erziehung seiner Kinder, so lange sie seiner Leitung bedurften. Seine
älteste Tochter ist dem preuß. Oberst und Brigade-Kommandanten v.Colomb
vermält; um sie zu besuchen, war er mit seiner Gemalin von Linz nach
Neisse gekommen, wo er nach kurzem Krankenlager starb. Sein Sohn Karl
hat sich mit Geist und Herz der Malerkunst gewidmet, und lebt jetzt in
Paris, auch vielfach mit schriftstellerischen Arbeiten auf den
verschiedenen Gebieten der Kunst, Literatur und Politik beschästigt.
Die jüngere Tochter lebte mit den Eltern theils in Linz, theils in
Aussee in Steiermark, wo die Familie ein liebliches Landhaus besaß.
Binzer hatte Oesterreich zur Heimat gewählt, seit sein jüngster Sohn
als Oberlieutenant in österreichischen Diensten 22ährig ein Opfer des
Krieges gegen die Ungarn geworden. Uebrigens war Binzers Leben doch ein
vielfach bewegtes und zugleich literarisch und publizistisch thätiges.
Von Jena aus ging er nach Altenburg und besorgte dort großentheils die
Redaktion des ersten Bandes vom Encyklopädischen Wörterbuch (später
Pierers Universal-Lexikon), lebte dann in Glücksburg, Flensburg und
seit 1831 in Neumühlen bei Altona, wo er eine Zeit lang ein
Erziehungsinstitut leitete; 1834 redigirte er in Leipzig die Zeitung
für die elegante Welt; 1835 aber siedelte er nach Köln über, wo er
längere Zeit die Redaktion des ‚Allgem.[einen] Organs für Handel und
Gewerbe‘ führte. Er schrieb ‚Beiträge zur Beantwortung der Frage: Was
kann zur Förderung des allgemeinen Wohlstandes in Deutschland
geschehen?‘ (Jena, 1820); ‚Die Dämmerungsstunden der Familie Aebert‘
(Altona 1833); übersetzte ‚Benj.[amin] Franklin's Leben und Schriften‘
(Kiel, 1829); ‚Youngs Nachtgedanken‘, 1 Th.[eil], und gab mit seiner
geistvollen Gattin unter dem Pseudonym A. T. Beer ‚Erzählungen und
Novellen‘ heraus (3 B[än]de. Leipzig, 1836). Im Anfang der 1840er Jahre
lebte er längere Zeit in Augsburg. Frucht eines Winteraufenthalts der
Gatten in der Lagunenstadt war ‚Venedig im Jahre 1844‘ (Pest, 1845) –
eine sehr werthvolle Monographie über die merkwürdige Stadt und das
dortige Volksleben, die noch jetzt wie vor 24 Jahren jedem Reisenden
empfohlen werden darf. Von da an hat der Selige zumeist ein glückliches
und geistig angeregtes Stillleben in Oesterreich geführt.“ – Zu
erwähnen ist noch kritisch an dem Beitrag des Sammelbandes, daß hier
behautet wird, daß „die freiwillige Annahme einer anderen, im sozialen
Status nach unten abgestuften Identität [...] auch im 19. Jahrhundert
der gängigen Kulturpraxis des europäischen Adels.“ Dieser Auffassung
ist nur halb zuzustimmen, da die Formulierung den falschen Eindruck
erweckt, es habe nur eine einzige Kulturpraxis des Europaadels gegeben;
besser wäre es also gewesen, von „einer der gängigen Kulturpraxen“ zu
sprechen. Nicht ganz korrekt ist ferner auch, daß im Vormärz die
Personalunion des Beer-Pseudonyms mit Binzer nicht bekannt gewesen sei
(Seite 238-239). Siehe dazu vielmehr Wiener Zeitschrift für Kunst,
Literatur, Theater und Mode, Jahrgang 31 (Wien), Ausgabe Nr. 189 vom
21. September 1846, Seite 756, wo es heißt: „Franz Ritter, dessen
Mohnblätter (bei Heckenast in Pesth erschienen) unlängst eine beinahe
ganz allgemein günstige Beurtheilung erfuhren, soll eine Frau von
Binzer sein, Gattin des Schriftstellers von Binzer, der unter dem
Pseudonamen T. A. Beer bekannt ist, indessen auch unter seinem eigenen,
unter welchem er vor einigen Jahren die Redaktion der Zeitung für die
elegante Welt führte bis er auf die Requisition Preußens aus Leipzig
verwiesen wurde; eben so schrieb er unter eigenem Namen ‚Venedig im
Jahre 1844.‘“ – Zur Kulturpraktik der Benützung nichtadeliger
Pseudonyme bei adeligen Schriftstellenden siehe ferner H. H. Houben:
Flucht aus dem Namen in den Namen. Zur Psychologie des Pseudonyms, in:
Kölnische Zeitung mit Handelsblatt, Abendblattausgabe C Nr.133 vom 13.
März 1935, Seite 6 (Beilage „Das bunte Leben“).
- [24] = Dazu jedoch jüngst siehe Claus Heinrich Bill: Narrative Verhandlungen
über führende adelige Militärs an der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Zeitschrift
für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XXIII., Folge Nr. 114, Sonderburg
2020, Seite 10-51.
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