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Visuelle Geschichte und Visual HistoryBilder und Sprachbilder als aussagekräftige Kulturzeugen der Vergangenheit"Was ist in der Hermannstraße los?“, fragte im Juni 1933 – kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – ein halbanonymer Journalist in einer hamburgischen Zeitung, in der man weiterführend folgende Zeilen lesen konnte: "Menschen drängen vor einem Schaufenster. Sie stehen vor einem Hitlerbild. Ein Hitlerbild – nun, was ist daran Neues? In den Schaufenstern aller Städte und Flecken finden wir Hitlerbilder in diesen Wochen, mehr Hitlerbilder manchmal, als uns lieb ist. Und man tritt heran an die Schaulustigen und wirft selbst einen Blick auf dieses Oelgemälde, bleibt stehen wie die anderen: Hitler, der Volkskanzler, der uns den Glauben an Volk und Vaterland und Zukunft zurückgab, im schlichten Ehrenkleid des braunen Soldaten! Hitler, beherrschend vor einem Hintergrund, der Symbole der Landwirtschaft, der Industrie und der Schiffahrt zeigt. Und stolz denkt der Nationalsozialist daran: wie haben sie gehetzt, die von links. Zu Grunde gehen wird er daran, daß er der Industrie und der Landwirtschaft gleichzeitig helfen will, wie haben sie gewühlt hier in Hamburg, die Schiffahrt wird dicht machen müssen, wenn Hitler dem Bauern hilft! Heute sehen sie ein: die Hetzer aus Dummheit und die Hetzer aus Berechnung, Hitler kann allen helfen, weil er ihnen ein einiges und starkes Vaterland schmiedete. Gegensätze werden ihn nicht zum Scheitern bringen, er wird sie ausgleichen. So sah der Maler Christoph zur Linde den ersten Soldaten der braunen Armee. Adolf Hitler als Hüter aller Wirtschaftsgüter des Vaterlandes. Der Zeugwart Nordmark hat zur Förderung des Künstlers in uneigennütziger Weise Dekoration und Ausstellungsraum zur Verfügung gestellt.“ [1] Auch ein zweites Pressevorkommen, diesmal aus dem Jahre 1938, zeigt, daß das erwähnte Bildnis nicht nur das Portrait irgend eines Staatsmannes war, sondern ein politisches Artefakt, ein Politikum: „Neuen Unwillen erzeugt auf deutscher Seite ein Zwischenfall, der nachträglich bekannt wird: In Nieder-Ullersdorf haben am 29. Mai zur Nachtzeit vier bewaffnete tschechische Soldaten das reichsdeutsche Ehepaar Heinrich und Maria Exner aus dem Schlafe geweckt und unter Drohungen und Mißhandlungen genötigt, eine Hakenkreuzfahne auszuliefern, die es im Hause hatte; außerdem wurde bei dem Ehepaar von den Soldaten ein Hitler-Bild beschlagnahmt. Es soll dabei auch zu Verunglimpfungen der Hakenkreuzfahne und des Hitler-Bildes gekommen sein.“ [2] Beide Meldungen zeigen die große Bedeutung, die dem Bild Hitlers in der Öffentlichkeit wie auch im privaten Rahmen zukam. [3] Die Auswahl der Motive, die Art der Auf- oder Abhängung, überhaupt der soziofaktische Umgang mit dem heiklen – da stark mentefaktisch aufgeladenen – Artefakt kam damit einer politischen Äußerung gleich, verkörperte Zustimmung, Bewunderung oder Widerstand und Ablehnung gegen einen ganzen Staat und seine Weltanschauung. Dieser soziofaktische Umgang und die Rezeption des Hitlerbildes [4] zeigen sehr gut, worum es bei der visuellen Geschichtswissenschaft geht. [5] Es geht um die Ermittlung der Formen und Bedeutung der Wirkung und des Einsatzes von visuellen Diskursen auf die Bildung von Identitäten, auf Vorgänge politischer Zustimmung und vieles mehr. Dabei ist die Visual History nicht allein auf Bilder im eigentlichen Sinne beschränkt, sondern weitet sich auch auf sprachliche Bilder aus, auf mentale Bilder und Performanzen (auch Aufführungen, z.B. Staatsereignisse wie Hitlers Händedruck mit Hindenburg anläßlich des Tages von Potsdam, in den eine Verschmelzung des alten Preußentums mit dem Nationalsozialismus hineininterpretiert worden ist). [6] Damit geht die Visual History weit über die politische Ikonographie hinaus, die Bilder liegen mithin in dieser Perspektive „jenseits des Illustrativen“. Unter diesem Titel veröffentlichten nun jüngst auch die beiden promovierten Innsbrucker Historiker Niels Grüne und Claus Oberhauser als Herausgebende einen neuen Sammelband mit zehn Einzelbeiträgen (Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2015, 278 Seiten, gebunden, Preis: 44,99 Euro), der dann auch bezeichnenderweise den Untertitel „Visuelle Medien und Strategien politischer Kommunikation“ trägt. Die Attraktivität der Beiträge und auch der grundlegenden
Kapitel mit einer Theorie des Bildlichen liegt jedoch nicht in der reinen
klassischen geschichtswissenschaftlichen Perspektive, sondern in dem interdisziplinären
Blickwinkel, beleuchtet daher auch aus Standpunkte aus Kunstwissenschaft
und Ethnologie.
Anhand etlicher Fallstudien aus der griechischen Antike, aus frühneuzeitlichen Schulbüchern, aus der jesuitischen Missionierung, aus deutschen Fürsorgeanstalten kurz vor dem ersten Weltkrieg, aus der Pariser Bluthochzeit des XVI. Jahrhunderts, aus der populären Druckgraphik des XVIII. Centenariums, schließlich auch aus salzburgischen Landkarten des XIX. Säkulums und Karikaturen der Weimarer Zeit und des NS-Staates werden durch die Zeitläufte diverse Bildstrategien sehr heterogener Art und Form untersucht. Abgerundet wird der Band zudem durch zwei Aufsätze zu theoretisch-konzeptionellen Zugängen, was den Hintergrund deutlicher macht und gewissermaßen eine Klammer bildet. Damit ist der Sammelband nicht nur hilfreich für etliche Exempeleinsichten, sondern eben auch für eine weitergehende Arbeit in Wissenschaft und Forschung. Besonders einer der beiden theoretischen Beiträge stellt dabei die Hypothese auf, daß Bilder als Artefakte körperliche Inszenierungen seien und insofern als eigenständige Akteure gelten können. Hierbei wird hervorgehoben, daß Bilder etwas in den Rezipient*Innen bewegen, mit ihnen kommunizieren. Durch Betrachtung oder Benutzung in bestimmten Kontexten – siehe oben das Beispiel der Hitlerbilder – erfolgt jedes Mal bei einer Rezeption eine individuelle Dekodierung einer individuellen enkodierten Bedeutung. So besehen wären Bilder in der Tat zumindest Träger von Bedeutung, auch wenn sie nicht selbst agieren und handeln können. Deutlich wird das abstrahierte Prinzip aber bei Erwähnung eines Beispiels. In einer österreichischen Zeitung konnte man in einem Reisebericht über Spanien aus dem Jahre 1842 lesen: „So erzählt ein Reisender, der kürzlich von dort zurückkehrte; vor einigen Monaten kam ein junges Mädchen aus Saragossa mit ihrer Mutter in dem Dorfe Escurial an, wo sich der bekannte Palast befindet, der durch einen unterirdischen Gang (la Mina genannt) mit dem Dorfe in Verbindung steht. Ein Engländer hatte die schöne Rafaela bewogen, sich von ihm malen zu lassen und ihr das Porträt geschenkt. Ihr Geliebter aber sah dasselbe kaum, als er in eifersüchtige Wuth gerieth und das Bild zerriß. Rafaela weinte und mochte nichts mehr von ihm wissen. Er aber erzählte aus Rache, er habe sie in den Armen eines Engländers, eines Malers, gesehen.“ [7] Dies Beispiel könnte zeigen, daß Bildern ruhende Energien innewohnten, die bei Bedarf und entsprechenden Dispositionen betrachtender Persönlichkeiten freigegeben werden konnten. Wer dies nicht ganz so handlungszentriert sehen will – Bilder besitzen keine eigentliche Agency – kann allerdings die Formulierung verwenden, daß Bilder immerhin den Charakter eines Auslösers für kommunikative Handlungen von Rezipient*Innen besitzen können. Diese ihnen zugeschriebene Qualität kann besonders auch am erwähnten Sammelband abgelesen werden, der dem Iconic Turn in den Kulturwissenschaften nicht nur zu verdanken ist, sondern dem Begriff auch einen ganz konkreten und geradezu myrioramatischen Inhalt verleiht. Die Vielfältigkeit der Ansätze, deren Mehrzahl übrigens in dem Band aus der Universität Innsbruck stammt, können zudem zugleich als eingeschriebene Aufforderungen zur Anfertigung ähnlicher Forschungen über das Potenzial von Ablichtungen oder Bildern gelten und gelesen werden. Insofern bietet der Band zahlreiche sinnvolle Ansätze und nachdenkenswerte Überlegungen und Impulse für eine weiteren Ausgestaltung der Visual History. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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