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Ambivalente Vagabondage im langen 19. JahrhundertUntersuchugnen zu Fürsorge und Strafe umherzeiehender Männer und FrauenIm April 1905 erschien in einer Berliner Zeitung ein mit dem Titel „Der Sonntagsausflug“ überschriebener Artikel. In ihm heißt es: „Mit dem – diesmal allerdings sehr vorsichtigen – Erscheinen des holden Lenzes erwacht die Wanderlust aufs neue. Mit Macht treibt es den Großstädter hinaus aus der Straßen drückender Enge; die Sehnsucht, durch Feld und Wald zu streifen, die Lungen in reiner Luft zu baden, wird übermächtig in ihm. Und es ist ein erfreuliches Zeichen für die Entwickelung unseres Volkes, daß die Lust am Wandern in immer weitere Kreise dringt. Die märkische Touristik hat sich in den letzten Jahren prächtig entwickelt; es ist eine Freude, am Sonntag Morgen die frohen Wanderer zu sehen, wie sie, feldmarschmäßig angetan mit `Mantel, Hut und Wanderstab´, hinausstreben in die Weite. Wirkt doch so eine Wanderfahrt erfrischend und stärkend auf Geist und Körper. Die regelmäßige Bewegung bringt das Blut in rascheren Umlauf, und die neuen Eindrücke erquicken den ganzen Menschen. Die Touristen- und Wandervereine für Alt und Jung, die von Jahr zu Jahr sich weiter entwickeln und eine segensreiche Tätigkeit entfalten, eröffnen die Sommerkampagne; sie versenden ihre Aufrufe und Programme und fordern auf, mitzutun. Unter sachkundiger Führung werden die Wanderfahrten ausgeführt, und die Teilnehmer bekommen viel Schönes zu sehen. Aber es ist nicht Jedermanns Sache, in größerer Gesellschaft zu wandern; Mancher zieht es vor, allein oder zu zweien, höchstens zu dreien seine Straße zu ziehen. Diesen Touristen unter unseren Lesern wollen wir fortan den Weg finden helfen, indem wir ihnen, gestützt auf unsere eigenen touristischen Erfahrungen, in jeder Woche einen Ausflug für den nächsten Sonntag vorschlagen werden. Wir wollen ihnen namentlich Touren in der näheren und weiteren Umgebung Berlins empfehlen, die abseits der großen Heerstraßen und der allbeliebten Ausflugsziele liegen.“ [1] Nach diesen einleitenden Worten wird sodann eine Anleitung für eine Individualwanderung von Erkner nach Königs-Wusterhausen gegeben, durch „schönen Kiefernwald“ über "die breiten Wiesenflächen des Spreetals" und auf einen Berg „mit prächtiger Aussicht“ bis hin zur „hübsch gelegenen Siedelung Uckelei“. Was hier positiv konnotiert wurde, war das Erlebnis der Landschaft, wie es im 19. Jahrhundert aufgekommen war, [2] nachdem man im Mittelalter Landschaft so gut wie gar nicht als eigenständig – sondern nur als Meilen zählende Entfernung durch unsicheres Gelände zwischen zwei sicheren Städten – wahrgenommen hat. Es war daher, glaubt man dem unbekannten Verfasser dieses Ausflugshinweises, eine reine Lust zu Wandern – allerdings nicht ohne Hintergedanken. Der Fluch der Moderne, der dem Leben auf dem Land entfremdete und getaktete Mensch, eingepfercht in der „drückenden Enge“ der Großstadt, suchte in alter Reminiszenz einer vormodernen Gesellschaft die Annehmlichkeiten der Natur als Ort der Regeneration. Der Mensch der Zeit sollte sich erfreuen an der „natürlichen“ Regeneration seiner Kräfte, um sie desto besser zur neuen Woche wieder und wieder für die Arbeitgeber*innen – die Fabriken und Geschäfte – einsetzen zu können. Sein Wandern war eine Lust, uneingeschränkt ein Vergnügen, ein Pläsier, gewollt, gefördert und selbst mit der Entwicklung der Touristik in Bahnen gelenkt, die ihrerseits wieder Arbeitsplätze bot und auch die Erholung selbst in vermarktbare und kapitalisierbare Formen goß. Das Wandern war aber nicht nur, wie es das bekannte Volkslied verheißt, des Müllers Lust, vielmehr war diese Lust nur dann uneingeschränkt vergönnt, solange sie temporär blieb. Hierzu zählten nicht nur Wanderer in Gruppen oder einzeln, sondern auch längere berufliche Wanderungen wie die Walz der Handwerksgesellen – oder die Bildungsreisen Goethes und anderer Bildungsbürger*innen nach Italien, England oder in ferne Länder. [3] Sie waren weitgehend akzeptiert, wurden als förderlich angesehen. Wer dagegen dauerhaft im Inland wanderte, dem schlug bisweilen eine entgegengesetzte Beurteilung entgegen. An diesem Schnittpunkt zwischen der Beurteilung der Tätigkeit des Wanderns und den Wandernden eröffnete sich die Ambivalenz des Unterwegsseins, die die Trierer Historikerin Beate Althammer (*1964) [4] nun in ihrer Habilitationsschrift publiziert hat. [5] Sie offenbart die angesprochene Spannung, die sich für außenstehende Beobachtende (Medien) ergab, wenn man die Perspektive wechselte, weg von dem zu erblickenden Objekt hin auf das erblickende Subjekt. Wer sich nicht eingliederte, nicht der obrigkeitlichen und gesellschaftlich geforderten und durch das protestantische Arbeitsethos [6] geprägten Ordnung entsprach, der wurde gelegentlich negativ konnotiert. Ihn gedachten Obrigkeiten zu erziehen, später mit dem Aufkommen von Psychiatrie und Psychologie um 1900 zu pathologisieren, noch später in den beiden deutschen Diktaturen als „asozial“ (1933-1945) oder als „Gammler“ (1960er Jahre) in Ost wie West anzuprangern. [7] Die Beurteilung des Wanderns war daher vor allem mit der Zeitlichkeit dieser Tätigkeit gekoppelt. Wer lange wanderte, keinem Beruf nachging, nicht in klassischer Manier „arbeitete“, wurde verdächtigt, sollte bisweilen durch Fürsorge, bisweilen aber auch durch Strafe – oder gar strafende Fürsorge – in seinem Wesen modifiziert und dem Nützlichkeitsdenken unterworfen werden. Allerdings gab es noch ein weiteres Etikettierungskriterium für eine Wahrnehmung als positiver oder negativer Wanderer. Baten Wanderer um „milde Gaben“, kamen die Aspekte „Armut“ und „Kriminalität“ in den Blick, da erstens die Verknüpfung zwischen temporärer ökonomischer Absicherung und aggressiver Bettelei von Beobachtenden vielfach als fließend betrachtet wurden. Gabenerbittung war eine Handlung, die einerseits christliche Barmherzigkeit und Nächstenliebe herausforderte (und ermöglichte), andererseits aber auch als „Faulheit“ kriminalisiert wurde – und damit in der Mehrheitsgesellschaft oder bei Multiplikator*innen die Erfahrung einer selbstbezüglichen Ordnungsgefährdung auslösen konnte. [8] Diese Ambivalenz „strafender Fürsorge“ kam in vielen anderen Texten zum Ausdruck. [9] Beispielhaft sei hier ein Bericht über ein „Zufluchtshaus für arbeitsfähige Bettler“ aus dem Jahre 1843 erwähnt, der bereits an der Umschreibung des im Mittelpunkt stehenden Gebäudes anklingen läßt, daß sich Strafe und Fürsorge anscheinend widerspruchlos miteinander verbinden ließen. In dem Bericht wird indes im Kontext geschrieben: „Im Jahre 1829 bildete sich in Straßburg eine Gesellschaft zur Ausrottung des Bettelns, welche nicht bloß durch Lehre und Unterricht zu wirken suchte, sondern auch ein Zufluchtshaus für arbeitsfähige Bettler begründete. Da aber dieses Zufluchtshaus für Bettler durch den Andrang derer, die auf Unterstützung Anspruch machten, zuletzt in Gefahr kam, aufgegeben zu werden, so stellte der Maire, Herr Schüzenberger, den Antrag an den Stadtrath, ein Gehölz, Ostwald genannt, zu einer Ackerbau-Colonie für die arbeitsfähigen Bettler umzuschaffen, welche Maßregel die allgemeine Zustimmung des Stadtraths und auch der Regierung erhielt, so daß sie gegenwärtig ins Leben getreten ist. Man will sogar behaupten, daß diese neue Stiftung eine gute Speculation für die Stadt Straßburg sey und für die Zukunft Gewinn verspreche. Ueber den Einfluß dieser Colonie auf die Unglücklichen sagt ein Bericht Schützenbergers: `Die Ackerbau- und Viehzucht-Arbeiten können, ihrer Natur gemäß, von Männern und Weibern zugleich versehen werden, stehen jedem Alter an und biethen einen Wechsel, der in den Fabriken nicht Statt findet. Sie werden in freyer Luft ausgeführt und haben auf den moralischen, wie auf den physischen Zustand der Arbeiter den vortheilhaftesten Einfluß; sie sind an und für sich anziehend; sie nähren den Sinn für die Natur und stärken nach und nach den Geist. Eine strenge Disciplin wird genügen, das erste Widerstreben zu besiegen; die natürliche Anziehungskraft wird das Uebrige thun, um den Pensionären die Gewohnheit und Ordnung der Arbeit beyzubringen. Sie werden in der Folge überall in unseren Dörfern Arbeit finden.´ In einem zweyten Berichte desselben ehrenwerthen Mannes an den Stadtrath über die Ausführung seiner Vorschläge heißt es ferner: `Es ist besser, den Unglücklichen, die keine Arbeit haben, Arbeit zu geben, als ihnen ein Almosen zu biethen. Aber damit die Arbeit im Stande sey, diejenigen zu erheben, die gesunken sind, muß dieselbe für sie anziehend, abwechselnd und ergiebig seyn. Der glückliche Einfluß, den die Acker-Arbeiten auf Geist und Körper ausüben, ist bekannt. Die aus der Colonie zu Mettraye (zur Aufnahme junger Sträflinge bestimmt) hervorgegangenen Erfolge haben die Richtigkeit dieser Beobachtung bestätiget; ich hoffe, daß sie eine neue Bestätigung durch den Versuch, den wir machen, erhalten wird. Um den Wiederstand [sic!], auf den wir in den Lastern und der Faulheit der Ansiedler stoßen, zu beseitigen, muß die Stellung und der Lohn derselben sich in Folge ihrer Arbeit und ihres guten Benehmens verbessern, und diejenigen, die sich dessen würdig zeigen, müssen an dem Einkommen der Colonie betheiligt werden, je nach ihrer Classification.´ Ferner sagt er: `Die Frage des Pauperismus muß auf das Feld der Praxis verpflanzt und wo möglich hier gelöst werden.´" [10] Der Unterschied in der Beschreibung wird deutlich. Hier wird nicht gezeigt, was sich alles auf den Wanderungen der Wandernden erblicken ließe, sondern nur, wie der Wandernde – hier zudem negativ konnotiert als „Bettler“ bezeichnet – vom Wandern abgebracht werden könne. Die urbanen Arbeiter der Industrien sollten wandern, um desto besser erholt für die Wiederaufnahme der Arbeit zu sein; „Bettler“ dagegen sollten arbeiten, um dadurch zu verhindern, daß sie wandern gingen. Althammer hat diesem Phänomen und seiner obrigkeitlichen Behandlung, die, wie schon zu Zeiten frühmoderner Herrschaftsintensivierung im Barock auch im 19. Jahrhundert allgemein auf die „Erhaltung von Ordnung“ sah, [11] nun umfangreich nachgespürt. Sie analysiert das Beziehungsdreieck zwischen Armut, Mobilität und Kriminalisierung, vorwiegend anhand von Quellen aus der preußischen Provinz Rheinland (aber auch aus Bayern), zeitlich fokussierend auf die Epoche der Formierungszeit der Moderne zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ende der Weimarer Republik. In acht Kernkapiteln (zuzüglich Einleitung und Schluß) analysiert sie die Rechtsordnungsdiskurse um „Vagabundenübel“ und „Vagabundennot“, die Armendisziplinierungsversuche im Pauperismus der wachsenden Industriegesellschaft, vor allem nach den negativen Auswirkungen des „Gründerkrachs“ im Jahre 1873. Dazu widmet sie sich den Governance-Strategien Landesverweis, Arbeitshaus, den – schon oben im Straßburger Beispiel – erwähnten Arbeiterkolonien und der institutionalisierten Wohlfahrtsunterstützung, aber auch den Wandlungen bei Strategien der Behandlung von Vagabunden bis 1933. Dazu gehörte nicht nur die bohemiale und flaneurhafte Idealisierung der (an anderer Stelle zugleich verdammten Lebensform der) „Edelvagabunden“, [12] u.a. im Film oder als literarisch-irrationale Gegenfigur zur rationalen Aufklärung, [13] sondern auch das Phänomen freiheitsliebender „Weltbummler“, die von Behörden und Gesellschaft in den 1920er Jahren vielfach als soziales Problem wahrgenommen worden sind. [14] Althammer kommt in ihrer detaillierten Studie zu dem Schluß, daß Fürsorge und Strafe fast immer zwei Seiten einer Medaille waren, daß Obrigkeiten und Gesellschaft mit hohem Aufwand bemüht waren, der eigenen – auf die Fahrenden, Armen und Landstreichenden – projizierten Ängste vor der scheinbaren Gefährdung ihrer moralischen Welt und Ordnungsmuster Herr zu werden. Die sehr inhomogene Gruppe – zu ihr können reiselustige Abenteurer*innen ebenso gezählt werden wie Berufskriminelle oder zeitweise Arme – wurden oft als „Gauner“ steckbrieflich verfolgt, erkennungsdienstlich überwacht, abgeschoben, im Arbeitshaus (hier untersucht Althammer die Praxis im Arbeitshaus Brauweiler) auch gefoltert und gequält. Das „Herumtreiben“ von teils in der Etikettierung entmenschlichten „dunklen Elementen“ fungierte hier bei Beobachtenden als Chiffre für Unsicherheit, Unstetigkeit, Unverbindlichkeit und Kriminalität. [15] Und gerade diese Eigenschaften waren für eine in Unordnung geratene und erodierende Ständegesellschaft im 19. Jahrhundert – beeinflußt durch die fühlbaren Auswirkungen der Landflucht, der Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und -abhängigkeit – und für eine vom Bildungs- und Großbürgertum in ihren Diskursen dominierte Zeit selbstwertgefährdend. Das Ende massenhaften ressourcenarmen Wanderns sieht Althammer indes mit der Massenmotorisierung nach dem zweiten Weltkrieg gekommen. Somit hat sie ein wahrhaft historisches Phänomen untersucht, das viel über die hier in Rede stehende Gruppe der „Vagabund*innen“ aussagt, ebenso viel aber auch über diejenigen Kreise und Protagonist*innen, die diese Diskurse in der Presse, in der Öffentlichkeit, in Behörden und den Wissenschaften – sei es als Philosophen, Literaten, Beamten, Ärzte, Psychologen – forcierten, führten, lenkten und veränderten. [16] Dauerhaft oder auch nur zeitweise nichtseßhafte Außenseiter*innen wurden dabei vielfach zu Exkludierten, die bisweilen, wie in der Institution des Arbeitshauses, auch zwangsweise hyperinkludiert wurden (verweisen sei an dieser Stelle auf Foucaults Modell des modernen Machts- und Anstaltsstaats). Althammers „dichte Beschreibung“ über eine Longe durée des vagabündischen Alltagsgeschehens bietet hierzu eine fundierte und detaillierte Sichtweise an, die die Ambivalenz der Thematik betont und gekonnt ein wichtiges Betätigungsfeld aus der Frühzeit der professionalisierten „sozialen Arbeit“ illustriert. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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