Institut Deutsche Adelsforschung
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Ambivalente Vagabondage im langen 19. Jahrhundert

Untersuchugnen zu Fürsorge und Strafe umherzeiehender Männer und Frauen

Im April 1905 erschien in einer Berliner Zeitung ein mit dem Titel „Der Sonntagsausflug“ überschriebener Artikel. In ihm heißt es: „Mit dem – diesmal allerdings sehr vorsichtigen – Erscheinen des holden Lenzes erwacht die Wanderlust aufs neue. Mit Macht treibt es den Großstädter hinaus aus der Straßen drückender Enge; die Sehnsucht, durch Feld und Wald zu streifen, die Lungen in reiner Luft zu baden, wird übermächtig in ihm. Und es ist ein erfreuliches Zeichen für die Entwickelung unseres Volkes, daß die Lust am Wandern in immer weitere Kreise dringt. 

Die märkische Touristik hat sich in den letzten Jahren prächtig entwickelt; es ist eine Freude, am Sonntag Morgen die frohen Wanderer zu sehen, wie sie, feldmarschmäßig angetan mit `Mantel, Hut und Wanderstab´, hinausstreben in die Weite. Wirkt doch so eine Wanderfahrt erfrischend und stärkend auf Geist und Körper. Die regelmäßige Bewegung bringt das Blut in rascheren Umlauf, und die neuen Eindrücke erquicken den ganzen Menschen. Die Touristen- und Wandervereine für Alt und Jung, die von Jahr zu Jahr sich weiter entwickeln und eine segensreiche Tätigkeit entfalten, eröffnen die Sommerkampagne; sie versenden ihre Aufrufe und Programme und fordern auf, mitzutun. 

Unter sachkundiger Führung werden die Wanderfahrten ausgeführt, und die Teilnehmer bekommen viel Schönes zu sehen. Aber es ist nicht Jedermanns Sache, in größerer Gesellschaft zu wandern; Mancher zieht es vor, allein oder zu zweien, höchstens zu dreien seine Straße zu ziehen. Diesen Touristen unter unseren Lesern wollen wir fortan den Weg finden helfen, indem wir ihnen, gestützt auf unsere eigenen touristischen Erfahrungen, in jeder Woche einen Ausflug für den nächsten Sonntag vorschlagen werden. Wir wollen ihnen namentlich Touren in der näheren und weiteren Umgebung Berlins empfehlen, die abseits der großen Heerstraßen und der allbeliebten Ausflugsziele liegen.“ [1]

Nach diesen einleitenden Worten wird sodann eine Anleitung für eine Individualwanderung von Erkner nach Königs-Wusterhausen gegeben, durch „schönen Kiefernwald“ über "die breiten Wiesenflächen des Spreetals" und auf einen Berg „mit prächtiger Aussicht“ bis hin  zur „hübsch gelegenen Siedelung Uckelei“. Was hier positiv konnotiert wurde, war das Erlebnis der Landschaft, wie es im 19. Jahrhundert aufgekommen war, [2] nachdem man im Mittelalter Landschaft so gut wie gar nicht als eigenständig – sondern nur als Meilen zählende Entfernung durch unsicheres Gelände zwischen zwei sicheren Städten – wahrgenommen hat. Es war daher, glaubt man dem unbekannten Verfasser dieses Ausflugshinweises, eine reine Lust zu Wandern – allerdings nicht ohne Hintergedanken. 

Der Fluch der Moderne, der dem Leben auf dem Land entfremdete und getaktete Mensch, eingepfercht in der „drückenden Enge“ der Großstadt, suchte in alter Reminiszenz einer vormodernen Gesellschaft die Annehmlichkeiten der Natur als Ort der Regeneration. Der Mensch der Zeit sollte sich erfreuen an der „natürlichen“ Regeneration seiner Kräfte, um sie desto besser zur neuen Woche wieder und wieder für die Arbeitgeber*innen – die Fabriken und Geschäfte – einsetzen zu können. Sein Wandern war eine Lust, uneingeschränkt ein Vergnügen, ein Pläsier, gewollt, gefördert und selbst mit der Entwicklung der Touristik in Bahnen gelenkt, die ihrerseits wieder Arbeitsplätze bot und auch die Erholung selbst in vermarktbare und kapitalisierbare Formen goß.

Das Wandern war aber nicht nur, wie es das bekannte Volkslied verheißt, des Müllers Lust, vielmehr war diese Lust nur dann uneingeschränkt vergönnt, solange sie temporär blieb. Hierzu zählten nicht nur Wanderer in Gruppen oder einzeln, sondern auch längere berufliche Wanderungen wie die Walz der Handwerksgesellen – oder die Bildungsreisen Goethes und anderer Bildungsbürger*innen nach Italien, England oder in ferne Länder. [3] Sie waren weitgehend akzeptiert, wurden als förderlich angesehen. Wer dagegen dauerhaft im Inland wanderte, dem schlug bisweilen eine entgegengesetzte Beurteilung entgegen. An diesem Schnittpunkt zwischen der Beurteilung der Tätigkeit des Wanderns und den Wandernden eröffnete sich die Ambivalenz des Unterwegsseins, die die Trierer Historikerin Beate Althammer (*1964) [4] nun in ihrer Habilitationsschrift publiziert hat. [5]

Sie offenbart die angesprochene Spannung, die sich für außenstehende Beobachtende (Medien) ergab, wenn man die Perspektive wechselte, weg von dem zu erblickenden Objekt hin auf das erblickende Subjekt. Wer sich nicht eingliederte, nicht der obrigkeitlichen und gesellschaftlich geforderten und durch das protestantische Arbeitsethos [6] geprägten Ordnung entsprach, der wurde gelegentlich negativ konnotiert. Ihn gedachten Obrigkeiten zu erziehen, später mit dem Aufkommen von Psychiatrie und Psychologie um 1900 zu pathologisieren, noch später in den beiden deutschen Diktaturen als „asozial“ (1933-1945) oder als „Gammler“ (1960er Jahre) in Ost wie West anzuprangern. [7] 

Die Beurteilung des Wanderns war daher vor allem mit der Zeitlichkeit dieser Tätigkeit gekoppelt. Wer lange wanderte, keinem Beruf nachging, nicht in klassischer Manier „arbeitete“, wurde verdächtigt, sollte bisweilen durch Fürsorge, bisweilen aber auch durch Strafe – oder gar strafende Fürsorge – in seinem Wesen modifiziert und dem Nützlichkeitsdenken unterworfen werden. Allerdings gab es noch ein weiteres Etikettierungskriterium für eine Wahrnehmung als positiver oder negativer Wanderer. 

Baten Wanderer um „milde Gaben“, kamen die Aspekte „Armut“ und „Kriminalität“ in den Blick, da erstens die Verknüpfung zwischen temporärer ökonomischer Absicherung und aggressiver Bettelei von Beobachtenden vielfach als fließend betrachtet wurden. Gabenerbittung war eine Handlung, die einerseits christliche Barmherzigkeit und Nächstenliebe herausforderte (und ermöglichte), andererseits aber auch als „Faulheit“ kriminalisiert wurde – und damit in der Mehrheitsgesellschaft oder bei Multiplikator*innen die Erfahrung einer selbstbezüglichen Ordnungsgefährdung auslösen konnte. [8]

Diese Ambivalenz „strafender Fürsorge“ kam in vielen anderen Texten zum Ausdruck. [9] Beispielhaft sei hier ein Bericht über ein „Zufluchtshaus für arbeitsfähige Bettler“ aus dem Jahre 1843 erwähnt, der bereits an der Umschreibung des im Mittelpunkt stehenden Gebäudes anklingen läßt, daß sich Strafe und Fürsorge anscheinend widerspruchlos miteinander verbinden ließen. In dem Bericht wird indes im Kontext geschrieben: „Im Jahre 1829 bildete sich in Straßburg eine Gesellschaft zur Ausrottung des Bettelns, welche nicht bloß durch Lehre und Unterricht zu wirken suchte, sondern auch ein Zufluchtshaus für arbeitsfähige Bettler begründete. 

Da aber dieses Zufluchtshaus für Bettler durch den Andrang derer, die auf Unterstützung Anspruch machten, zuletzt in Gefahr kam, aufgegeben zu werden, so stellte der Maire, Herr Schüzenberger, den Antrag an den Stadtrath, ein Gehölz, Ostwald genannt, zu einer Ackerbau-Colonie für die arbeitsfähigen Bettler umzuschaffen, welche Maßregel die allgemeine Zustimmung des Stadtraths und auch der Regierung erhielt, so daß sie gegenwärtig ins Leben getreten ist. Man will sogar behaupten, daß diese neue Stiftung eine gute Speculation für die Stadt Straßburg sey und für die Zukunft Gewinn verspreche. Ueber den Einfluß dieser Colonie auf die Unglücklichen sagt ein Bericht Schützenbergers: 

`Die Ackerbau- und Viehzucht-Arbeiten können, ihrer Natur gemäß, von Männern und Weibern zugleich versehen werden, stehen jedem Alter an und biethen einen Wechsel, der in den Fabriken nicht Statt findet. Sie werden in freyer Luft ausgeführt und haben auf den moralischen, wie auf den physischen Zustand der Arbeiter den vortheilhaftesten Einfluß; sie sind an und für sich anziehend; sie nähren den Sinn für die Natur und stärken nach und nach den Geist. Eine strenge Disciplin wird genügen, das erste Widerstreben zu besiegen; die natürliche Anziehungskraft wird das Uebrige thun, um den Pensionären die Gewohnheit und Ordnung der Arbeit beyzubringen. Sie werden in der Folge überall in unseren Dörfern Arbeit finden.´ 

In einem zweyten Berichte desselben ehrenwerthen Mannes an den Stadtrath über die Ausführung seiner Vorschläge heißt es ferner: `Es ist besser, den Unglücklichen, die keine Arbeit haben, Arbeit zu geben, als ihnen ein Almosen zu biethen. Aber damit die Arbeit im Stande sey, diejenigen zu erheben, die gesunken sind, muß dieselbe für sie anziehend, abwechselnd und ergiebig seyn. Der glückliche Einfluß, den die Acker-Arbeiten auf Geist und Körper ausüben, ist bekannt. Die aus der Colonie zu Mettraye (zur Aufnahme junger Sträflinge bestimmt) hervorgegangenen Erfolge haben die Richtigkeit dieser Beobachtung bestätiget; ich hoffe, daß sie eine neue Bestätigung durch den Versuch, den wir machen, erhalten wird. Um den Wiederstand [sic!], auf den wir in den Lastern und der Faulheit der Ansiedler stoßen, zu beseitigen, muß die Stellung und der Lohn derselben sich in Folge ihrer Arbeit und ihres guten Benehmens verbessern, und diejenigen, die sich dessen würdig zeigen, müssen an dem Einkommen der Colonie betheiligt werden, je nach ihrer Classification.´ Ferner sagt er: `Die Frage des Pauperismus muß auf das Feld der Praxis verpflanzt und wo möglich hier gelöst werden.´" [10]

Der Unterschied in der Beschreibung wird deutlich. Hier wird nicht gezeigt, was sich alles auf den Wanderungen der Wandernden erblicken ließe, sondern nur, wie der Wandernde – hier zudem negativ konnotiert als „Bettler“ bezeichnet – vom Wandern abgebracht werden könne. Die urbanen Arbeiter der Industrien sollten wandern, um desto besser erholt für die Wiederaufnahme der Arbeit zu sein; „Bettler“ dagegen sollten arbeiten, um dadurch zu verhindern, daß sie wandern gingen.

Althammer hat diesem Phänomen und seiner obrigkeitlichen Behandlung, die, wie schon zu Zeiten frühmoderner Herrschaftsintensivierung im Barock auch im 19. Jahrhundert allgemein auf die „Erhaltung von Ordnung“ sah, [11] nun umfangreich nachgespürt. Sie analysiert das Beziehungsdreieck zwischen Armut, Mobilität und Kriminalisierung, vorwiegend anhand von Quellen aus der preußischen Provinz Rheinland (aber auch aus Bayern), zeitlich fokussierend auf die Epoche der Formierungszeit der Moderne zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ende der Weimarer Republik. In acht Kernkapiteln (zuzüglich Einleitung und Schluß) analysiert sie die Rechtsordnungsdiskurse um „Vagabundenübel“ und „Vagabundennot“, die Armendisziplinierungsversuche im Pauperismus der wachsenden Industriegesellschaft, vor allem nach den negativen Auswirkungen des „Gründerkrachs“ im Jahre 1873. 

Dazu widmet sie sich den Governance-Strategien Landesverweis, Arbeitshaus, den – schon oben im Straßburger Beispiel – erwähnten Arbeiterkolonien und der institutionalisierten Wohlfahrtsunterstützung, aber auch den Wandlungen bei Strategien der Behandlung von Vagabunden bis 1933. Dazu gehörte nicht nur die bohemiale und flaneurhafte Idealisierung der (an anderer Stelle zugleich verdammten Lebensform der) „Edelvagabunden“, [12] u.a. im Film oder als literarisch-irrationale Gegenfigur zur rationalen Aufklärung, [13] sondern auch das Phänomen freiheitsliebender „Weltbummler“, die von Behörden und Gesellschaft in den 1920er Jahren vielfach als soziales Problem wahrgenommen worden sind. [14]

Althammer kommt in ihrer detaillierten Studie zu dem Schluß, daß Fürsorge und Strafe fast immer zwei Seiten einer Medaille waren, daß Obrigkeiten und Gesellschaft mit hohem Aufwand bemüht waren, der eigenen – auf die Fahrenden, Armen und Landstreichenden – projizierten Ängste vor der scheinbaren Gefährdung ihrer moralischen Welt und Ordnungsmuster Herr zu werden. Die sehr inhomogene Gruppe – zu ihr können reiselustige Abenteurer*innen ebenso gezählt werden wie Berufskriminelle oder zeitweise Arme – wurden oft als „Gauner“ steckbrieflich verfolgt, erkennungsdienstlich überwacht, abgeschoben, im Arbeitshaus (hier untersucht Althammer die Praxis im Arbeitshaus Brauweiler) auch gefoltert und gequält. 

Das „Herumtreiben“ von teils in der Etikettierung entmenschlichten „dunklen Elementen“ fungierte hier bei Beobachtenden als Chiffre für Unsicherheit, Unstetigkeit, Unverbindlichkeit und Kriminalität. [15] Und gerade diese Eigenschaften waren für eine in Unordnung geratene und erodierende Ständegesellschaft im 19. Jahrhundert – beeinflußt durch die fühlbaren Auswirkungen der Landflucht, der Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und -abhängigkeit – und für eine vom Bildungs- und Großbürgertum in ihren Diskursen dominierte Zeit selbstwertgefährdend. Das Ende massenhaften ressourcenarmen Wanderns sieht Althammer indes mit der Massenmotorisierung nach dem zweiten Weltkrieg gekommen. Somit hat sie ein wahrhaft historisches Phänomen untersucht, das viel über die hier in Rede stehende Gruppe der „Vagabund*innen“ aussagt, ebenso viel aber auch über diejenigen Kreise und Protagonist*innen, die diese Diskurse in der Presse, in der Öffentlichkeit, in Behörden und den Wissenschaften – sei es als Philosophen, Literaten, Beamten, Ärzte, Psychologen – forcierten, führten, lenkten und veränderten. [16]

Dauerhaft oder auch nur zeitweise nichtseßhafte Außenseiter*innen wurden dabei vielfach zu Exkludierten, die bisweilen, wie in der Institution des Arbeitshauses, auch zwangsweise hyperinkludiert wurden (verweisen sei an dieser Stelle auf Foucaults Modell des modernen Machts- und Anstaltsstaats). Althammers „dichte Beschreibung“ über eine Longe durée des vagabündischen Alltagsgeschehens bietet hierzu eine fundierte und detaillierte Sichtweise an, die die Ambivalenz der Thematik betont und gekonnt ein wichtiges Betätigungsfeld aus der Frühzeit der professionalisierten „sozialen Arbeit“ illustriert.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio (G.S.): Der Sonntagsausflug. Ein Wegweiser für unsere wanderlustigen Leser, in: Berliner Volkszeitung – Organ für Jedermann aus dem Volke (Berlin), Beiblatt zu Nr. 177 vom 14. April 1905, Seite 1.
  • [2] = Siehe dazu Carl Gregor zu Mecklenburg: Erlebnis der Landschaft und adliges Landleben – Einführungen und Bibliographien zum Verständnis der Landschaft und eines deutschen Standes von 1870 bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1979.
  • [3] = Dazu siehe Thomas Grosser: Bürgerliche Welt und Adelsreise – Nachahmung und Kritik, in: Rainer Babel (Hg.): Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005, Seite 637-656.
  • [4] = Sie hat sich auch bereits in ihrer Dissertation mit ähnlichen Themen befaßt. Siehe dazu Beate Althammer: Herrschaft, Fürsorge, Protest – Eliten und Unterschichten in den Textilgewerbestädten Aachen und Barcelona (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn), Bonn 2002, 660 Seiten.
  • [5] = Beate Althammer: Vagabunden – Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933), Verlag Klartext in Essen, erschienen im Oktober 2017, broschurgebunden, 15 x 5 cm x 22 cm, 716 Seiten, 26 Tabellen, 16 Grafiken, ISBN: 978-383-751-708-8 , erwerbbar zum Preis von 34,95 Euro (von der Universität Trier im Sommersemester 2016 angenommene Habilitationsschrift).
  • [6] = Dazu siehe Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen  1904.
  • [7] = Dazu siehe beispielhaft a) Klaus Scherer: `Asozial´ im Dritten Reich – Die vergessenen Verfolgten, Münster 1990 sowie zeitgenössisch b) Hans Böttcher: Sind Gammler Ganoven? – Einige Auffälligkeiten und Anfälligkeiten der heutigen Jugend,Gladbeck 1968. Begriffsklärend wird ferner verwiesen auf das Lemma „Gammler“ als Jugendsoziotyp bei Egon Rößmann: Taschenlexikon der Kriminologie für den Kriminalpraktiker, Hamburg 3.Auflage 1974, Seite 62 sowie bei Gerd Reinhold (Hg.): Soziologie-Lexikon, München 4.Auflage 2000, Seite 196.
  • [8] = Eine bemerkenswerte – bislang aber von der Forschung weitgehend unbeachtete – Gruppe, die derlei Verdächtigungen und Verknüpfungen zwischen einer als amoralisch verurteilten Armut und Kriminalität Vorschub leistete, waren unter anderem nichtadelige Similimenschen (zeitgenössisch: "Hochstapelnde"), die sich als Adelige ausgaben, tatsächlich aber ebenfalls Wanderer waren. Denn Ortswechsel gehörten zu ihren charakteristischsten Merkmalen und sie zogen im 19. Jahrhundert immer wieder durch deutsche Städte und Länder, Dörfer und Landschaften. Bevorzugt in den Bereichen Heiratsschwindel, Zechprellerei und Vorschußbetrug tätig, wurde diese Gruppe zudem oft Ziel der medialen Aufmerksamkeit. Da diese Gruppe aber (fast ausschließlich) in Einzelpersonen und (fast stets) in eleganter Toilette (Kleidung) aufzutreten pflegte, wurde deren Vertreter*innen gemeinhin nicht als Vagabundierende wahrgenommen und erkannt. Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 1916, in dem ein wandernder Mann in mindestens drei Städten, vermutlich als Zechpreller, tätig geworden war: „Ein falscher Baron. In einem Hotel im 1. Bezirke hielt sich seit dem 1. d. ein junger Mann auf, der sich als `Baron F.´, königlich preußischer Oberleutnant, gemeldet hatte und mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse geschmückt war. Der Mann trug auch die preußische Offiziers-Uniform. Das Sicherheitsbureau erhielt Kenntnis davon, daß man an dem Offizierscharakter des Hotelgastes zweifle, und stellte Erhebungen über ihn an. Es wurde denn auch festgestellt, daß der angebliche Baron F. der 22jährige Comptoirist Eugen S. aus Tilsit ist, der wegen Fahnenflucht und Betruges von verschiedenen deutschen Behörden gesucht und schon abgestraft ist. Er war schon zweimal – in Stuttgart und Chemnitz – in Haft, ist aber beidemale entsprungen. S. wurde verhaftet und dem Strafgerichte eingeliefert.“ Zitiert nach der Illustrierten Kronen-Zeitung (Wien), Ausgabe vom 26. Oktober 1916, Seite 9. 
  • [9] = Siehe zu diesem Komplex a) Désirée Schauz: Dilemmata der Fürsorge im neuzeitlichen Strafsystem. Ein historischer Beitrag zum Spannungsverhältnis von Hilfe und Strafe, in: Peter Rieker / Sven Huber / Anna Schnitzler / Simone Brauchli (Hg.): Hilfe! Strafe! – Reflexionen zu einem Spannungsverhältnis professionellen Handelns, Weinheim / Basel 2013, Seite 200-224 sowie an einem regionalen Beispiel b) Dörthe Schimke: Fürsorge und Strafe – Das Georgenhaus zu Leipzig 1671-1871, Leipzig 2016.
  • [10] = Oesterreichisch-Kaiserliche privilegi[e]rte Wiener Zeitung (Wien), Nr. 316 vom 15. November 1843, Seite 2355 (titellose Meldung in der Rubrik „Frankreich“).
  • [11] = Siehe dazu die aus der Europäischen Ethnologie stammende – und schon ältere – „Theorie der Ordnung“ bei Karl-Sigismund Kramer: Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974.
  • [12] = Siehe dazu zeitgenössisch Hamburger Nachrichten (Hamburg), Morgenausgabe Nr. 251 vom 1. Juni 1932, Seite 3: „Der Kongreß der tippelnden Dichter. Frankfurt a. M., den 31. Mai. In diesen Tagen hat Frankfurt a. M. einen seltsamen Kongreß erlebt. Vom 26. bis zum 31. Mai haben dort die `Edelvagabunden´ getagt. Nur wenige wissen, daß es so etwas überhaupt gibt; daß die Bewohner der Landstraße, die Tippelbrüder, eine Elite haben, die sich sogar zu Kongressen versammelt. Die deutschen Edel-Vagabunden unterscheiden sich von den 40.000 Kollegen, die in Deutschland auf der Walze sind, nur durch geistige Qualitäten und sind im übrigen stolz darauf, zum Volk der Fahrendem gezählt zu werden [...]“.
  • [13] = Siehe hierzu zeitgenössisch-exemplarisch das strikt diametral (mit dezisionistischer Perspektive) verfaßte Lob des Vagabunden bei dem jungnationalen Schriftsteller Erich Marcus: Robinsons Auferstehung, in: Tägliches Unterhaltungsblatt als Beilage zur Berliner Volkszeitung (Berlin), Nr. 181 vom 5. August 1921, Seite 1: „Wer den letzten Krieg, wer jeden großen Krieg als ein Zeichen dafür nimmt, daß etwas faul ist, und daß Neues werden will, muß den überstandenen Weltkrieg als Ausdruck des Zusammenbruchs der alten Kultur, der technisch-mechanistisch-organisatorischen Kultur des 19. Jahrhunderts sehen. Der Schrei nach neuem, bodenständigem Leben, der Ruf: `Retour a la nature!´ war jedem hörbar, der seit dem ersten Jahrzehnt unserer Jahrhunderts hören konnte. Wandervögel, freideutsche Jugendbewegung, Siedlungsbestrebungen, jetzt mit ganzer Innigkeit und Kraft erwacht, sind die ersten Flammenzeichen dieser neuen Sehnsucht. Die Briefe und Bekenntnisse junger Menschen, die fern den Städten, fern den Menschen auf eigener Scholle sich ihr Haus bauen, mehren sich. Ein begabter, zukunftsstarker Dichter der jüngsten Generation, dessen erstes Drama als eine Tat begrüßt wurde, löst sich von seinem bisherigen Wirken und sucht als Vagabund den Sinn kosmischer Kräfte, die in ihm wachsen wollen“. Zur Klassifikation dieser Ansicht als jungnational und durch das Kriegserlebnis geprägt siehe die Habilitationsschrift des Politologen Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik – Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933 , Freiburg im Breisgau 1960.
  • [14] = Symptomatisch für diese Bewegung waren Personen, die angaben, mittellos um die Welt ziehen zu wollen. Hier ein Fall aus dem Jahre 1926: „Zwei unternehmungslustige Österreicher, der Wiener Leo P. und der Grazer Hans B., haben es sich in den Kopf gesetzt, den von dem amerikanischen Journalistenklub `Wave´ gestifteten Preis von 130.000 Dollars für Durchquerung der Erde ohne Reisegeld zu gewinnen. Sie erschienen gestern in unserer Redaktion und teilten mit, daß sie bereits Marokko, Ägypten, Palästina, Persien und eine ganze Menge europäischer Länder hinter sich hätten, nun durch Österreich nach Rußland und von dort nach Asien wollen. In ihrem Besitze befindet sich ein Buch, das Eintragungen der Behörden in den von ihnen besuchten Städten enthält; ein zweites mit der eigenhändigen Unterschrift des Königs von England und Mussolinis ist nach Amerika geschickt worden, wie die Vorschrift lautet. Die Reise dauert schon drei Jahre. Die beiden Touristen, die wohlgenährt aussehen und die Strapazen aushalten dürften, sind, wie sie versichern, überall freundlich aufgenommen worden. In Bayern haben sie nicht überall solchen Erfolg erzielt. Das darf die beiden nicht wundern, denn die Konkurrenz der Weltbummler ist zu groß“. Zitiert nach dem Salzburger Volksblatt (Salzburg), Nr. 177 vom 5. August 1926, Seite 5.
  • [15] = Beispielhaft dafür stand zeitgenössisch – aus der NS-Zeit – folgende Meldung über einen Strafprozeß wider einen Waldbreitbacher Franziskanermönch, der als landwirtschaftlicher Betriebsleiter auf dem Gute Welda (Kreis Höxter) tätig gewesen war: „Den Bewohnern der Umgebung war seit langem bekannt, daß die auf dem Gut beschäftigten Elemente, Herumtreiber, die auf der Straße aufgelesen wurden, ihren anormalen Neigungen auf sittlichem Gebiet nachgingen“. Zitiert nach dem Deutschen Nachrichtenbüro (Berlin), Nr. 566 vom 3. Mai 1937, Seite 1.
  • [16] = Dazu siehe Inge Seiffge-Krenke: Widerstand, Abwehr und Bewältigung, Göttingen 2017.

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