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Frühneuzeitliche Kriminalität in der Uckermark

Neuer Beitrag zur Täter- und Deliktforschung erschienen

Es ist eine ungewöhnliche Arbeit, die Ellen Franke M.A. im Böhlauverlag vorgelegt: Eine Qualifizierungsarbeit zur altdeutschen Magistra, die noch aus einer Zeit vor Bologna stammt, ausgezeichnet 2009 mit dem Johann-Gustav-Droysen-Preis, angenommen 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nun, leider erst fünf Jahre später, erscheint die Arbeit als Paperbackband mit 270 Seiten, einem Dutzend farbigen Karten, Abbildungen und Grafiken, im Kölner Verlag zum Preis von 39,90 Euro. Ungewöhnlich ist sie deshalb, weil es in der historischen Wissenschaft doch eher unüblich ist, daß bereits Magistraarbeiten in Buchform veröffentlicht werden, die sonst nur als Exemplar in den Instituten der Universitäten einstehen und weniger einen öffentlichen Charakter haben denn mehr als Nachweis der Befähigung des wisenschaftlichen Arbeitens dienen. Allerdings ist auch die Arbeit selbst ungewöhnlich, benützte die Verfasserin doch archivalische Quellen dafür, womit naturgemäß eine sehr ressourcen- und zeitintensive Forschung verbunden war. Auch die sonstige Literaturbasis ist breit aufgefächert, so daß die Arbeit zu Recht einen berechtigten Platz auch in der Forschung einnehmen kann. 

Franke hat sich in ihrem Werk Von Schelmen, Schlägern, Schimpf und Schande mit, so der Untertitel, der Kriminalität in einer frühneuzeitlichen Kleinstadt - Strasburg in der Uckermark beschäftigt. Dieses Beschäftigungsfeld der Analyse von Kriminalität, die an einem bestimmten Ort gebunden ist und also einen räumlichen Fokus als Primärauswahlpunkt setzt, ist nicht neu; sie zählt vielmehr zu den üblichen Verfahrensweisen der historischen Kriminalitätsforschung.1 Neu ist allerdings, daß Franke, von Haus sowohl Juristin als auch Historikerin, zur Zeit Mitarbeiterin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, eine Stadt mit Magdeburger Recht untersucht und daher die Beziehung zwischen Judikative, Exekutive und Gesellschaft unter die Lupe nimmt, aber sich auch mit der Geschichte von unten, also mit den Handlungsspielräumen der Delinquenten, der Täter und Opfer, befaßt.

Sie fragt darin zuerst nach den Rahmenbedingungen, in denen Kriminalität in ihrem Untersuchungszeitraum 1540 bis 1630 verhandelt wurde (Kapitel 2), bevor sie sich der sozialen, juristischen und ökonomischen Struktur der Stadt Strasburg zuwendet (Kapitel 3). Sodann legt sie das städtisch-obrigkeitliche Sanktionsinteresse dar, indem sie vier große Gruppen von Delikten bildet, die sich als Delikte wider a) Körper und Ehre, b) Eigentum, c) Moral und d) Obrigkeitsrechte klassifizieren lassen (Kapitel 4). Der letzte Abschnitt schließlich befaßt sich der Theorie und Praxis der Verfahren, die von der Anzeige bis zur Vollstreckung des Urteils betrachtet werden (Kapitel 5), bevor ein Resümee und das Quellen- und Literaturverzeichnis folgen.

Inhaltlich hat Franke damit eine quellendichte Untersuchung im lokalen Fokus dargelegt, die den Anforderungen moderner Kriminalitätsforschung Genüge tut: Sie achtet durch die Benutzung der Fallakten im Brandenburgischen Landeshauptarchiv auf eine breite Quellenbasis, die sie dennoch kritisch beurteilt und deren Grenzen sie beachtet, vor allem im Hinblick auf das Dunkelfeld. Zugleich ist aber ihr Sample mit Fallakten groß genug, um zu begrenzt repräsentativen Ergebnissen zu kommen. Freilich ist die Arbeit damit stets auch ein Balanceakt zwischen deduktiver und induktiver Vorgehensweise. Doch die Verzahnung von obrigkeitlichen Normen und der Praxis der Verfolgung und auch der Rechtsmitteleinlegung, die die Möglichkeiten zur eigenen Positionierung von Sanktionierten (z.B. in Form von Gnadenbitten) offenkundig werden läßt, ergibt doch ein engmaschiges Netz der Darstellung, welches ohne die kristisch-distanzierte Nützung der Archivbestände, die in eine Datenbank mit 800 Datensätzen einfloß, nicht hätte erlangt werden können.

Franke kommt in ihrer Untersuchung zu dem Schluß, daß es außer der juristischen Verfolgung auch eine sozialregulierende Funktion der Gesellschaft in dem Ackerbaustädtchen gegeben habe: Bevor der Rat obrigkeitlich einschritt, wurden zumeist schon von der städtischen Gesellschaft kollektiv Schlichtungen durchgeführt, die vielfach auf dem persönlichen Kontakt untereinander beruhten und darauf, daß man in einer agrarwirtschaftlich geprägten Kollektivkulutr lebte, in der man vielfach aufeinander angewiesen war.2
Neben dieser ausgeprägten informellen Korrektionsstruktur macht Franke auch einen Paradigmenwandel in der Kriminalitätsbehandlung aus, die weg von den eher auf persönlichen Beziehungen beruhenden Akkusationsverfahren und den Fehdebriefen und hin zu einer professionalisierten Strafrechtspflege, teils durch auswärtige und berufsmäßige Juristen, führte und damit auch der Entsozialisierung der städtischen Bestrafungs- und Resozialisierungspraxis Vorschub leistete.

Ihre Arbeit, die als Band X. der Schriftenreihe Fallstudien zu Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas erschienen ist, ist daher nicht nur für den Lokal- und Regionalhistoriker von Interesse, sondern weist exemplarisch anhand des kleinen uckermärkischen Städtchens mikrostrukturelle Phänomene der Strafrechtspflege nach, die immer und zugleich auch als Gesellschaftsgeschichte gelesen werden muß, weil sie über die Frage zu entscheiden hatte, wie deviantes Verhalten einzelner Bürger und Ortansässiger zu ahnden war, um dem Ideal einer funktionierenden interpersonalen Gemeinschaft möglichst nahe zu kommen.

Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (Jahrgang 2013) und stammt von Claus Heinrich Bill.


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