Institut Deutsche Adelsforschung
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500 Jahre Tübinger Vertrag 1514-2014

Neuerscheinung zu den Wurzeln des württembergischen Parlamentarismus in der Frühen Neuzeit

Mit Jahrestagen hat es eine seltsame Bewandtnis. Sie existieren nicht per se, sondern müssen immer erst durch eine subjektive Memorialpolitik, durch politisches oder gesellschaftliches Gedenken, erschaffen werden. Sie sind daher vor allem „Wiedergänger“ in dem Sinne, als es keine Automatisierung von Jubiläen gibt, keine grundsätzliche Existenz, die lediglich abgebildet werden müßte. Trotzdem haftet der kollektiven Eigenart, Jahrestage zu feiern oder zu begehen, ein Makel an. Denn jede Gesellschaft, jede Zeit und jede Kultur besitzt andere Ereignisse, an die sie sich erinnert - und erinnern will. Nicht zum geringsten Teil formen diese Jubiläen indes, und hier könnte man sie durchaus mit Maslow oder dem Modell des Kohärenzgefühls als anthropologische Grundkonstante bezeichnen, auch die Identität einer jeden Gesellschaft. Freilich sagen derlei Jubiläumstage jedoch mehr aus über die Gesellschaft, die sie begeht, als die Gesellschaft, aus der diese Ereignisse stammen. Der völkische Sonnensieg-Jahrweiser ist ein markantes Beispiel dafür, der für jeden Tag des Jahres 1931 deutschgläubige Jahresfeste und Edda-Ereignisse auflistet, an die permanent gedacht werden sollte, um auf diese Weise eine bestimmte Gedächtnis- und Erinnerungskultur ebenso wie eine bestimmte weltanschauliche Orientierung zu erschaffen und zu prolongieren (Sonnensieg-Jahrweiser für die Freunde des deutschen Gottglaubens 1931, ohne Ort 1931). Kommunistische Kalender dagegen werden ganz andere Daten aus dem eigenen Datenkreis erwähnen und benützt haben. Die Crux derartiger Jubiläen liegt außerdem in ihrer reduzierten Ereignishaftigkeit, die sie grundsätzlich für „longe durées“ unempfindlich macht. Im Vordergrund stehen nicht die langfristigen und mittelfristigen, sondern eben „nur“ die eher spektakulären ereignisgeschichtlichen Vorgänge einer subjektiv stark verkürzt rezipierten Historie, die sich nicht für Strukturen interessiert. 

Ähnlich ist es auch mit dem Gedenktag des 8. Juli, für ihn könnte man die für die Russen siegreiche Schlacht bei Poltawa (1709), aber auch die Besetzung von Prag im deutsch-österreichischen Krieg durch die Preußen (1866) nennen. Aber der 8. Juli ist auch ein spezieller württembergischer Gedenktag, der vor allem in der parlamentarisch geprägten Demokratie Deutschlands von einiger Bedeutung ist; man könnte, will man die Qualität und den Umfang einer neuen Publikation zu diesem Jahrestag in Betracht ziehen, sogar sagen, von erheblicher Bedeutung. Die Rede ist von dem opulenten Prachtband mit dem Titel „1514. Macht, Gewalt, Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs“, herausgegeben von dem Kunstgeschichtler Dr. phil. Götz Adriani und dem Historiker Dr. phil. Andreas Schmauder. Der Jan Thorbeke Verlag in Tübingen hat ihn verlegt und prachtvoll ausgestattet, als gelte es, die Repräsentationspflichten des beteiligten Landesherrn oder der Landschaft aus der Renaissancezeit geradezu barockal zu prolongieren. Farbiger Schutzumschlag, eingeprägte Schriftzüge im Buchdeckel und auf dem Buchrücken sowie 512 Seiten auf Hochglanzfarbpapier mit zum Teil doppelseitigen Abbildungen bilden die Grundkoordinaten eines Anschauungs- und Lesevergnügens erster Güte über eben jenen 8. Juli 1514 und seine Bedeutung für Vergangenheit und Gegenwart. 

Denn mit dem Vertrag von Tübingen begann der württembergische Parlamentarismus nach Ausschaltung des Adels durch Immediatisierung und der Bauern durch den Krieg des „Armen Konrad“. Als beteiligte Machtteiler blieben Herzog und Amtsbürgertum, auch bekannt unter dem Namen der„Ehrbarkeit“, übrig. Sie teilten sich ab 1514 de jure die Macht in einem politischen Tauschgeschäft, welches im Vertrag von Tübingen manifestiert wurde. Die Landschaft, bestehend aus den Vertretern der Amtsstädte, übernahm die Schulden des Herzogs, der Herzog räumte im Gegenzug reziprok partizipative Machtbefugnisse ein. 

Das Buch, das als Ausstellungsband zur gleichnamigen Exposition in der Tübinger Kunsthalle 2014 erschien, stand dabei vor einer doppelten Herausforderung. Erstens mußte ein weit zurückliegendes Ereignis, das die Gegenwart ein halbes Jahrtausend vom Ereignis trennt, für heutige Rezipienten faßbar gemacht werden. Zweitens mußte ein Vertragswerk, also eine grundsätzlich in seinen Ideen immaterielle Entität, in sinnlich erfaßbare Vorgänge umgesetzt werden. 

Die Kunstgeschichte bedient sich hier klassischerweise der gegenständlichen Exponate, so auch in diesem Falle. Sie sollen die bloße delectatio cognitionis ergänzen durch eine delectatio emotionalis und nicht zuletzt auch durch eine delectatio reflexiva mit Bezug auf die Gegenwart. Und dafür steht - neben der Ausstellung - als bleibender Wert auch der Ausstellungsband, der, wie häufig in derartigen Fällen, eine Mischung aus der Beschreibung und Abbildung von Exponaten und wissenschaftlichen Aufsätzen mit (eher unglücklichem) Harvardzitierungsystem ist.

Die genannten beiden Herausforderungen scheint der Band indes bravourös gemeistert zu haben. Der Band ist nicht nur informierendes Buch und kollektives Schriftstück vieler Wissenschaftler*Innen und musealer wie privater Beiträger*Innen, sondern auch ein ästhetisches Leseerlebnis für die Rezipient*Innen.  Der Herausforderung, die materielle wie ideelle Umgebung des Vertrages zu beschreiben oder zu erfassen, sind die Herausgebenden und ihre Beiträger*Innen auf mannigfache Weise begegnet. Die ersten beiden Abschnitte (Seite 19-152) beschäftigen sich mit der Erforschung der Welt und den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit um 1500 zur Epochenwende des Columbian Exchange, verbunden mit allen Folgen, unter anderem der Ablösung der Scholastik in der universitären Lehre, dem Aufkommen neuer Fragen in Folge neuer Entdeckungen und dergleichen mehr. 

Diese Darlegungen, hervorragend großformatig illustriert im übrigen, sind mit dem Vertrag von Tübingen nur indirekt in Verbindung zu bringen, aber von den Herausgebenden inkludiert worden, um mehr Verständnis bei 500 Jahre später lebenden Rezipierenden für die Voraussetzungen des Vertragsschlusses zu schaffen. Der Kernabschnitt, den Vertrag selbst betreffend, seine Abschriften und Transkriptionen, ist im dritten Abschnitt zu finden (Seite 155-199). Danach bereits folgen Inhalte über die Bedeutung städtischer Führungsschichten sowie, an verschiedenen Stellen im Band verstreut (Seite 211-214 und Seite 475-481), Beiträge zur Rezeption des Vertrages von nachfolgenden Epochen bis heute. 

Auch wenn mit dem Erbvergleich von 1770 der Nepotismus der Amtsbürgeroligarchie zunahm, und hier spätestens ab dann kaum mehr von einer bürgerlich-fortschrittlichen Herrschaft die Rede sein kann, spiegelt der Band doch insgesamt die ihm hohe zugemessene Bedeutung im Deutschland des XXI. Säkulums wider, das unter anderem im Tübinger Vertrag eine frühe Wurzel des bürgerlichen Parlamentarismus fand - ohne Beteiligung des Adels in einer Zeit des erstarkenden Feudalismus. Daß freilich die Phase nach Abschaffung der vertraglichen Grundlagen 1805 eine Phase des Spätabsolutismus in Württemberg nach sich zog, die wiederum im Vergleich zu anderen Staaten als eher rückschrittlich in der Verfassungsentwicklung (will man teleologisch die Demokratie als Verfassungsziel annehmen) wirkt, ist auch ein Folge-Aspekt einer insgesamt besehen ambivalenten Bedeutung des Tübinger Vertrages von 1514. 

Zumindest aber, das ist unbestreitbar, hat das 500-jährige Jubiläum und Erinnern in der württembergischen, aber auch in der bundesdeutschen Gegenwartskultur, einen wichtigen Stellenwert eingenommen. Demokratie braucht Engagement der Bürger, das zeigt nicht zuletzt die Geschichte des Vertrages, der durch geschickte Reziprok-Verhältnisse Machtverteilungen schuf, die eine für damalige Zeiten progressive Bürgerschaftsvertretung erschufen. 

Der kombinierte Sammel- und Katalogband mit 360 Farbabbildungen, selbst ein nun mit dem Vertragswerk zusammenhängendes materielles Zeugnis von Prestige und Ruhm für denselben, hat dies mustergültig nicht nur in kunst-, sondern auch in kulturwissenschaftlicher Sichtweise umgesetzt. Das für tatsächlich lediglich 39,95 Euro erwerbbare und überaus prächtig ausgestattet Buch im Format 23 x 31,5 cm darf daher einen prominenten Platz im Bücherschrank der Neuzeitforschenden und nicht zuletzt auch der bibliophilen Ästheten beanspruchen;  man muß ihm diesen Platz - bei dem Überformat - freilich nur erst einmal freiräumen.

Diese Besprechung stammt von Claus Heinrich Bill (B.A.) und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.
 


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