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Das armenische Trauma 1915/16 und der deutsche AdelVorstellung einer Neuerscheinung des Wallstein-VerlagsIm Dezember 2011 und im Januar 2012 hielt Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident, zwei Reden, die dem französischen Staat „Hetze gegen Muslime“, „Diskriminierung“, „Rassismus“ und ein „Massaker an der Meinungsfreiheit“ vorwarf. Zugleich beschuldigte Erdogan den französischen Staat des Teilgenozids an den Armeniern nach 1945. Erdogan bezog sich dabei auf das französische Gesetz zum Leugnen von in Frankreich anerkannt geltenden Völkermorden der Vergangenheit, das angeblich im Gegensatz zu dem 2005 eingeführten Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzbuches stehe und das im Dezember 2011 von der französischen Nationalversammlung sowie im Januar 2012 vom französischen Senat als Gesetzesvorlage gebilligt worden war. Im türkischen Republikschutzgesetz heißt es dazu in der revidierten Fassung von 2008, daß die Herabwürdigung der Türkei als Staat strafbar sei. Nähere Ausführungen, was unter dieser Art von Verunglimpfung zu verstehen wäre, wurden zu diesem Sachverhalt jedoch nicht gemacht und wurde daher in den Entscheidungsrahmen der verfolgenden Behörden gestellt. Erdogan verstand darunter jedenfalls, daß die Behauptung, es hätte 1915 - also vor rund einem Jahrhundert - einen Völkermord an den Armeniern unter der osmanischen Herrschaft gegeben, nicht richtig und daher historisch inkorrekt sei. Die Behauptung, es habe einen Genozid an den Armeniern gegeben, der durch türkische Behörden durchgeführt worden sei, wäre eine Beleidigung der türkischen Nation und sei daher als Herabwürdigung der Türkei zu werten. Für Erdogan verknüpfte sich also das - wie auch immer geartete - Handeln der Sultane mit der Identität der modernen Türkei des XXI. Jahrhunderts. Laut Erdogan habe es lediglich einen „Bürgerkrieg“ im Osmanischen Reich auf dem Gebiet Armeniens gegeben, bei denen sich Armenier gegen den Staat gewendet hätten und deswegen umgesiedelt worden wären. Diese „Umsiedlung“ wird türkischerseits heute auch als „Deporation“ bezeichnet. Dabei sei es zu vielen Todesfällen gekommen, die aber nicht absichtlich und planmäßig erfolgt wären. Von einem geplanten Genozid, wie dies in Frankreich behauptet würde, könne aber gar keine Rede sein. Dieser Sachlage gemäß wird also ab 2012, wenn Staatspräsident Sarkozy dem Gesetz durch seine Unterschrift Geltung verschaffen will, das Negieren eines Genozids an den Armeniern in Frankreich unter Strafandrohung verboten, während in der Türkei das Behaupten eines armenischen Genozids für denselben Zeitraum seit 2005 strafrechtlich verfolgt wird. Einig ist man sich nur darin, daß es historisch gesichert wäre, daß es während der Kriegsereignisse von 1915/16 armenische Todesfälle gegeben habe. Der erbitterte Kampf über die Deutungshoheit des tatsächlichen oder behaupteten Genozids zeigt erstens, welche Brisanz in historischen Fragen steckt und zweitens, daß man sich in diesem Falle selbst über den Hergang der Vorgänge nicht einig ist. Zwar existieren diverse Quellen, die von beiden Seiten als Beweise oder Fälschungen angeführt werden, doch ergab sich daraus bis heute keine einheitliche Betrachtungsweise. Die Sicht auf die Tötungen von 1915/16 sind also konstruktivistisch veranlagt und je nach Standpunkt verschieden. Die Diametralität der Auffassungen prägt dabei wesentlich die Beziehungen der beiden Staaten Frankreich und Türkei zueinander, aber belastet auch die Beziehungen der Türkei zu den übrigen europäischen Staaten, die sich der Meinung Frankreichs, es handele sich um einen Genozid, angeschlossen haben. Das französische Genozidgesetz erinnert dabei an ein ähnliches deutsches Gesetz, den § 130 des Strafgesetzbuches seit 1985, in dem die „Gefährdung öffentlichen Friedens“ durch „Herabwürdigung“, „Angriffe auf die Menschenwürde“, „Haß“ und „Beschimpfung von Teilen der Bevölkerung“ unter Strafe gestellt werden. Allerdings ist hier im Vergleich ein inhaltlich-struktureller Unterschied der Gesetze festzustellen: Das Gesetz der Türkei bezieht sich auf die Herabwürdigung der türkischen Nation, die Gesetze in Deutschland und Frankreich auf die Herabwürdigung einzelner Minderheiten. Kritiker, die in den jeweiligen Ländern wegen Leugnung oder Behauptung eines Genozids in den Fokus der Ermittlungen geraten, argumentieren dabei stets gleich: Sie werfen den jeweiligen Staaten eine Einschränkung der Meinungsfreiheit vor, einem der menschlichen Grundrechte. Zumindest in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht als oberstes juristisches Gremium die Behauptung der Nicht-Existenz des Holocausts an den Juden im zweiten Weltkrieg seit 1994 von der Meinungsfreiheit explizit ausgenommen, weil dieser durch die historische Wissenschaft als erwiesen gelte. [1] Deutlich wird bei diesen Vorgängen, daß es sich bei den Behauptungen von der Nichtexistenz oder Existenz von Genozidhandlungen weniger um eine historische als vielmehr um ein Indikator des Selbstverständnisses einer Regierung handelt. [2] Genozidgesetze dieser Art, gleich in welchem Land, sind zudem jeweils Ausdruck spezifischer Erinnerungskulturen und gegenwartsbezogen. In Deutschland ist, wie in Frankreich, ein Genozid an der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915/16 anerkannt und die deutsche Geschichtswissenschaft ist sich in der Beurteilung dieser Vorgänge im ersten Weltkrieg weitgehend einig: Demnach habe es einen Genozid an den Armeniern gegeben. Auch Teile des deutschen Adels hatten, je nach Zeitphase, eine unterschiedliche Meinung zu diesen Vorgängen. 1921 äußerte sich beispielsweise der völkische Politiker Ernst Graf zu Reventlow dahingehend, daß die armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches Entente-Sympathien gehegt habe und gegen die türkische Regierung eingestellt gewesen sei. Aus diesem Grund sei die Behandlung der „aufrührerischen“ Armenier im Osmanischen Reich in Kriegszeiten verständlich, wenn gleich Reventlow zugleich „massenhaften Greuel“ bei den „Deportationen“ mißbilligte. [3] Im Jahre 1992 dann bezeichnete das Deutsche Adelsblatt die Vorgänge von 1915/16 tatsächlich als Genozid. [4] Behandelt wird dies Thema des Armenozids in einem hier außerdem zu besprechenden Buch von Andreas Meier, der einen kommentierten Lichtbildervortrag des Augenzeugen Armin Wegner (1886-1978), eines deutschen Sanitäters, zur armenischen Austreibung in die syrische Wüste enthält. [5] Das Buch, 2011 im Wallstein-Verlsag zu Göttingen mit 216 Seiten, gebunden und mit einem Schutzumschlag versehen, erschienen, berichtet von eben jenem Genozid, schildert detailliert die vorgefallenen Grausamkeiten aus Dokumenten des Auswärtigen Amtes. Vor allem aber bringt es photographische Aufnahmen von den Deportationen und Tötungen in editierter und annnotierter Fassung, deren Originale heute im Deutschen Literaturarchiv Marbach liegen. Sie stammen von dem deutsch-ottomanischen Sanitätsunteroffizier Dr. jur. Armin Wegner (1886-1978), der als Augenzeuge der Vorgänge einer der wenigen Menschen war, die - heimlich - Photos von den Mißhandlungen und Tötungen machen konnten. Das Buch kommentiert jedes der erschütternden 100 Bilder nach seiner Beschaffenheit, Herkunft und seinem Kontext und bringt auch die originalen Vortragsbeschreibungen zu jedem Bild. Dieser Dokumentations- und Editionsteil umfaßt die Seiten 11-89, der Anmerkungsapparat zur Edition die Seiten 93-152 , das Nachwort anschließend die Seiten 153-210, bevor eine Literaturliste das Werk auf den Seiten 211-215 beschließt. Der in sehr behutsamer Edition und in Respekt vor den Opfern nach modernen quellenkritischen Strategien herausgegebene Band ist daher nicht nur ein Zeugnis eines beliebigen historischen Geschehens, sondern hilft auch die Erinnerung wach zu halten an menschliche Grausamkeiten, die sich auf diese Weise und aus dem Blickwinkel der Philantrophie nie wiederholen sollten, leider aber stets danach in anderen Teilen der Welt wiederholt haben, in denen sogenannte und euphemistisch beschriebene „ethnische Säuberungen“ stattfanden und noch immer stattfinden. Vor dem Hintergrund dieses Buches ist es jedoch schwer möglich, die Augen vor den Gräueltaten zu verschließen, auch wenn es beidseitig Grausamkeiten an der Gegenseite gegeben haben mag, auch solche, die seitens der Armenier an den Osmanen verübt worden waren. [6] Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill und wurde erstmals publiziert in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XIV. (2011), Folge 67, Seite 50-52 und Folge 68, Seite 2-3. Annotationen =
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