Institut Deutsche Adelsforschung
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Allelopoiese als „Transformatic turn“

Ein kulturwissenschaftliches Phänomen als Begriff

In einer Anleitung zur Zubereitung von Schreibgeräten hieß es im Jahre 1826: „Man unterscheidet natürliche Schreibfedern, von den größern Flügelfedern der Vögel, besonders der Gänse, und diese wieder nach der Zubereitungsart in helle (durchsichtige, glasartige oder holländische), und in trübe (Hamburger oder undurchsichtige) und künstliche Schreibfedern, welche leztere man aus Hörn, Bein, Gold, Silber, Messing, Stahl, Glas etc. gemacht hat (ein Gänseflügel gibt nur fünf zum Schreiben dienliche Spuhlen. Die äußersten, kleinsten, härtesten nennt man Ekposen; von diesen ist in jedem Flügel nur eine. Die zwei folgenden heißen Schlachtposen und sind am besten, dann folgen die 2 Breitfedern. Die Federn des linken Flügels haben (in der rechten Hand) eine bequemere Lage zum Schreiben, als die des rechten) ... Die einfachere Verfahrungsart besteht darin, daß man die Federn in beinah siedendes Wasser taucht, herausnimmt, sobald sie so weich sind, daß sie sich zusammendrücken lassen, reibt, mit einem Messer drükt und wieder ins Wasser taucht, bis der Kiel durchsichtig ist, und alle Häute und Fettigkeiten abgeschabt sind. Dann härtet man sie in einem Gemenge von heißem Sand oder Thon und glättet sie mit Flanell ... In Deutschland machte man früher dergleichen aus gewöhnlichen Federkielen. Man schnitt einen Kiel unten wagrecht ab, verklebte die Oeffnung am obern Ende des Kiels, da wo das helle aufhört, die Furche anfängt, und ursprünglich die Seele der Feder sizt, mit Siegelak, füllte dann den Kiel voll Tinte, schlug um die Oeffnung ein Stükchen feines Leinen und schob dann eine von einem andern etwas größern Kiel abgeschnittene Federspize darüber. Beim Schreiben floß nun die Tinte aus der obern Feder durch die Leinwand in die Federspize und so konnte man mit diesen Federn schreiben, ohne eintunken zu müssen. Indessen hatten sie den Nachtheil, daß das Einfüllen der Tinte in die Feder schwierig war, und daß sie an der Leinwand leicht vertroknete und diese verstopfte.“ [1]

Die Herausforderungen, die sich mit der Einführung neuer Schreibgeräte und ihrer jeweils im Laufe der Zeiten hinzutretenden modifizierten Bauweise ergaben, sind nicht nur in diesem Quellentext hervorragend beschrieben, sondern offenbaren zugleich auch ein entscheidendes Phänomen jeder Kulturform. Wissenschaftlich gefaßt unter dem Begriff der „Modifikation“ oder „Transformation“ kann damit die „Anverwandlung“ von kulturellen Systemen bezeichnet werden. In dem angeführten Beispiel handelte es sich um Innovationen technischer Art, mit denen man die Schreibleistung gewöhnlicher Schreibfedern tierischer Herkunft im XIX. Jahrhundert zu verbessern gedachte. 

Derartige Transformationen zeichnen sich daher durch zwei voneinander getrennte Zustände auf, die aber aufeinander aufbauen. Ein vorheriger Zustand wurde infolge immediaten oder mediaten menschlichen Eingreifens2 zu einem nachherigen Zustand, zu einem geänderten Zustand. Dieser zweite Zustand mag manche Verbesserungen hervorgebracht haben, aber stellt die Menschen auch vor neue Herausforderungen. Am Beispiel der vertrocknenden Leinwand ist die Problematik plausibel zu zeigen, denn dieses Problem gab es nicht, so lange man Leinwand bei Federn noch nicht verwendete. In dieser Hinsicht haben Transformationen erhebliche Auswirkungen struktureller Art, wenn man mit dem kanadischen Philologen Herbert Marshall McLuhan sagen will, daß Medien die Welt verändern und transformieren, in der sie erfunden werden. [3]

Tatsächlich traf dies auch zu, denn die längeren Zeitabschnitte des Schreibens ermöglichten auch ein anderes Schreiben als zuvor, welches nicht so häufig durch technisch bedingte Pausen - das Eintunken der Feder in die Tintenflüssigkeit - unterbrochen werden mußte. Gar nicht beachtet wurde bei diesem Beispiel die Motivation und die Begleitumstände dieses offensichtlich kollektiven Prozesses, ein Schreibgerät zu verbessern, welcher letztendlich in die Erfindung des Kugelschreibers mündete, einem Schreibgerät, das ein Schreiben ganz ohne Absetzpause ermöglichte, welches schließlich vom fragmentarisierten (digitalen) Schreiben mit der Tastatur weitgehend abgelöst wurde.

Die hier erwähnten Aspekte der Voraussetzungen, der Motivation, der Umsetzungsmöglichkeiten, des Ergebnisses und der Folgeprobleme umschreiben insgesamt das Phänomen „Transformation“, mit dem sich vor allem die Kulturwissenschaft, aber auch die Geschichte, Soziologie, Philosophie oder Ethnologie auseinander setzt. Das führt zu dem Schluß: In jeder Hinsicht scheint das Beständige in menschlichen Kulturen der Wandel zu sein. Diesem anthropologischen Grundmuster, zugleich einem biologischen Grundmuster der Welt, geht ein neuer Sammelband nach, der 2011 im Wilhelm-Fink-Verlag herausgegeben wurde. [4]

Der Band ist so angelegt, daß er zuvörderst von dem Kulturtheoretiker Hartmut Böhme einen Problemaufriß beinhaltet („Einladung zur Transformation“, Seite 7-37). Entstanden war demnach die Transformationsforschung, obgleich in ihren Fundamenten nicht neu, im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). [5]

Böhme macht aber darauf aufmerksam, daß dieses Konzept der Forschung nicht nur für diesen Bereich interessant sei, sondern ganz allgemein in verschiedensten geisteswissenschaftlichen und damit probabilistischen Wissenschaftskulturen zur Anwendung kommen könne. Böhme tritt daher bewußt mit einem interdisziplinären Konzept auf und welchen Ertrag die Transformationsforschung für Nachbardisziplinen der alten Geschichte haben könne, solle mit dem Band ausgelotet werden.  Böhme bezeichnet den Ansatz der Transformation sogar allgemein als „ein Paradigma historischer Forschung“ (Seite 34), mit dem „das Verhältnis von Kontinuität und Wandel kultureller Formationen“ überhaupt analysiert werden könne (Seite 39).

Der erwähnte Sonderforschungsbereich vertritt dabei zunächst zwei Grundpositionen: a) im Sinne eines „reflexiven Konstruktivismus“ wird davon ausgegangen, daß Kulturen Normen und Tugenden, Tabus und sinnstiftende Muster entwickeln und fortschreiben sowie b) im Sinne eines kybernetisch-systemtheoretischen Ansatzes eine Kultur sich durch die Beschreibung ihrer Vergangenheit immer wieder neu erfindet und damit zugleich auch die Vergangenheit neu erfindet (Seite 8-9). Der Zweck dieses Vorgehens ist, sozialpsychologisch besehen, die Stiftung einer gruppalen oder nationalen Identität. Destilliert auf einen Begriff schlagen die Verfasser des Sammelbandes dafür den Begriff „Allelopoiese“ vor (aus dem griechischen von „allelon“ für „gegenseitig“ und von „poiesis“ für „Erschaffung“). [6]

Anders formuliert könnte man sagen: Geschichte entsteht nicht aus der Erkenntnis und Darlegung von Faktizitäten und Objekten (z.B. einem Gegenstand oder einem Ereignis), sondern ersetzt immer nur eine „Beschreibung so far“ durch eine „Beschreibung from now on“, [7] die damit auch die „Beschreibung so far“ in gewissem Maße verändert. Damit korrespondieren stets eine zeitlich voraus liegende „Referenzkultur“ (das betrachtete Vergangene) und eine zeitlich später liegende „Aufnahmekultur“ (der Standort der Verfassenden von Geschichte), um zu einer Aneignung von Geschichte zu kommen, wobei aber nicht nur die Annahme-, sondern auch die Referenzkultur verändert werden (Seite 24-25). Ein Beispiel dafür ist der Stellenwert körperlicher Züchtigung von SchülerInnen im XIX. und im XXI. Jahrhundert. Was früher als „förderndes“ Erziehungsmittel galt und auch schon im Namen positiviert wurde, ist, aus neueren pädagogischen Einsichten und neueren kulturellen Transformationen heraus, als „schädlich“ für die Kindheitsentwicklung benannt worden. Doch auch auf kultureller und politischer Ebene können Umdeutungen festgemacht und beobachtet werden: Das Lächerlichwerden der Portechaisen im XIX. Jahrhundert gehört ebenso dazu [8] wie die Re-Education der Amerikaner zur Einführung demokratischer Werte in Deutschland nach 1945.  Alles dies sind Transformationen zwischen (zwei) Kulturen. Dabei seien, nach Böhme, stets drei Parameter mit zwei Transaktionsvorgängen beteiligt.

In einem zweiten Buchteil (Seite 39-56) entwickeln dann sechs Verfassende um Lutz Bergemann ein 15-teiliges System, mit dem sich Transformationen bestimmen lassen sollen; es wird in der kommenden Tabelle - stark verkürzt - dargestellt:

  • 1. Appropriation = Vollständige Eingliederung eines „Referenzbestandes“ in einen „Aufnahmebestand“ (Edition)
  • 2. Assimilation = Partielle Eingliederung eines „Referenbestandes“ in einen „Aufnahmebestand“ (Verschmelzung)
  • 3. Disjunktion = „Inhalte“ werden in der Form der jeweils anderen Kultur (ein-) „gekleidet“
  • 4. Einkapselung = „Objekt“ wird unverändert tradiert, aber in den „Aufnahmebereich“ integriert.
  • 5. Fokussierung und Ausblendung = „Transformationsagent“ konzentriert sich nur auf eine selektives „Objekt“
  • 6. Hybridisierung = Entstehung von „Synkretismen“ und sogenannter „Verschmelzungen“
  • 7. Ignoranz = Bewußte Ausblendung von Inhalten und Nichtzurkenntnisnahme durch explizite Nichterwähnung (abgelehntes Agenda-Setting)
  • 8. Kreative Zerstörung = Auf Fundamenten der Referenzkultur, die zerstört werden, wird die Aufnahmekultur aufgebaut
  • 9. Montage und Assemblage = Mehrere „Elemente“ der Referenzkultur werden „isoliert“ zu „Elementen“ „anderer Bereiche“ „in Beziehung“ gesetzt.
  • 10. Negation = Demonstrativ ablehnende Exklusion mit Nennung der zu exkludierenden Elemente (negatives Agenda-Setting)
  • 11. Rekonstruktion und Ergänzung = Rekonstruktion: Versuch aus „Fragmenten“ („Indizien“) etwas zu schließen. Ergänzung: dasselbe, nur mit freierer Interpretation 
  • 12. Substitution = „kultureller Komplex“ der Aufnahmekultur, der durch einen „Komplex“  aus der Referenzkultur ersetzt wird
  • 13. Übersetzung = Hineinnahme von etwas Fremdem durch Übersetzung in die eigene Sprache der Aufnahmekultur oder sachliche Übernahme von Ideen und Methoden in einen anderen Zusammenhang
  • 14. Umdeutung und Inversion = radikale Form mit semantischer Verschiebung der ursprünglichen Begriffe der Refrenzkultur in die Aufnahmekultur (an der Grenze zur Negation)
  • 15. Mehrschichtigkeit = Prozess, in dem sich verschiedene Formen der Transformationen überlagern und miteinander in Kombination auftreten.
Die Aufstellung ist beeindruckend, scheint sie doch im Wesentlichen alle Formen zu erfassen, in denen Transformationen möglich sind. Die vorliegende Klassifikation stößt indes, was schon an der Aufstellung recht ersichtlich ist, an zwei Punkten auf ihre Grenzen. Erstens sind die verwendeten Begriffe nicht einheitlich. Mal wird von „Objekten“, dann von „Inhalten“, dann von der „Form“ gesprochen. Das erschwert Vergleiche und Zuordnungen. Zweitens ist bei den Definitionen nicht angegeben (und kann auch nach Auffassung des Rezensenten nicht angegeben werden), welcher Anteil erfüllt sein muß, um eine bestimmte Sachlage in einer Aufnahmekultur als „Assimilierung“ oder als „Hybridisierung“ zu bezeichnen. 

Wann also wird etwas aus einer Referenzkultur nur aufgenommen und wie viele „Inhalte“ oder „Objekte“ einer Referenzkultur sind nötig, um eine zwitterhafte Referenzkultur, gebildet aus beiden Kulturen gleichermaßen, zu erschaffen? Das sind graduelle Unterschiede, die wohl stets im Auge des Betrachters liegen und damit relativ erscheinen sowie willkürlich gefällt werden müßten. Eine andere unscharfe Grenzzone ergibt sich zwischen den Formen von „Fokussierung“ und „Ignoranz“. Denn was fokussiert wird, wird in einem Agenda-Setting hervor gehoben, und das Nichtfokussierte wird bewußt ignoriert. Andererseits wird bei der Form der „Ignoranz“ ebenfalls etwas bewußt ausgeblendet, so daß nur bestimmte „Inhalte“ oder „Objekte“ für die Betrachtung übrig bleiben. Der Unterschied hier besteht im Wesentlichen in der Motivation der Transformationsagenten: Hier wird etwas positiv hervorgehoben, dort wird etwas durch Verheimlichung verschwiegen. Doch der Oberflächeneffekt ist jedes Mal die Setzung eines Begriffs zuungunsten eines anderen Begriffs, ohne daß dies je von außen erkennbar wäre.

Ferner beinhaltet eine „Montage“, die immer mit mehreren „Elementen“ aus der Referenzkultur arbeitet, stets auch eine „Assimilation“, so daß man also in derartigen Fällen beide Kategorien anwenden könnte. Ein anderes Problem ist, daß teils (wie bei Punkt 10) zwei verschiedene Grade einer Transformationsart mit zwei verschiedenen Bezeichnungen belegt wurden, während andere Kategorien mit einem einzigen Begriff auskommen. Es stellt sich daher die Frage, ob Gradabstufungen nicht nur dort, sondern vielleicht auch an anderen Begrifflichkeiten festzustellen wären oder ob nicht diese Kleinteiligkeit dann doch zu einem zu unübersichtlichen Modell führt. Jedenfalls fehlt dem Modell insgesamt eine gewisse Einheitlichkeit, und diese Heterogenität macht einen Vergleich in einem Konkretfall letztendlich recht problematisch.

Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß diese sehr detailliert ausgearbeitete Theorie auch positive Seiten hat. Sie hilft durch die Abstraktion zur Klassifikation von Transformatuionsvorgängen eine bessere Interpretationslage zu schaffen. Freilich  bewegt sie sich, wie jede andere Theorie auch, auf dem schmalen Grad von zulässiger Kontingents- und Komplexitätsreduzierung einerseits sowie der vermutlich ebenso nötigen Vielfalt und damit Unübersichtlichkeit kultureller Vorgänge.

Besieht man sich exemplifizierend dazu das eingangs erwähnte Beispiel der Schreibfedern, so müßte man sich zunächst alle 15 Formen der möglichen Transformation im Hinblick auf die Entwicklung ansehen. Die „Referenzkultur“ wäre dann das Schreiben mit Gänsefedern, bei dem man öfters absetzen müßte, um Tinte in die Feder nachzufüllen. Bei Betrachtung der neuen Schreibart mit dem Leinenstoff könnte man wählen zwischen „Assimilation“ (ein Teil alter Technik wird in die neue Technik übernommen), „Montage und Assemblage“ (verschiedene Federn werden miteinander kombiniert), „Hybridisierung“ (alte Feder ist auch Bestandteil der neuen Feder), und so weiter. Hier sticht also wenig hervor. Relativ eindeutig ist lediglich, daß eine „Negation“ nicht stattfindet. Es kommen also nach einigem Überlegen und dem Versuch begründeter Zuweisungen verschiedene Transformationsformen in Betracht. Damit stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Modells. Denn wenn keine eindeutige Zuordnung eines Phänomens möglich ist, wozu soll dann eine Klassifikation dienen?

Sind daher andere Erklärungsmodelle besser heranzuziehen, um Aneignungsprozesse zwischen Kulturen zu bestimmen? Vergleichen läßt sich die Transformationstheorie schon, so mit verschiedenen anderen Modellen wie der Rezeptionsforschung aus der Literaturwissenschaft (Seite 41), aber auch mit dem Modell des „Historischen Erzählens“ nach Krameritsch. Krameritsch bietet fünf verschiedene Formen historischen Erzählens an, die er in traditionales, exemplarisches, kritisches, genetisches sowie situatives Erzählen einteilt. [9] Allerdings geht es Krameritsch nicht um die Aneignung von historischem Material jeglicher Art, sondern ausschließlich um Materialien in narrativer Textform, während die Transformationstheorie auch Transformationen mit Artefakten, z.B. steinernen Bauteilen, beschreiben kann. [10] Trotzdem wäre es denkbar, Krameritschs Pentagonale auch auf Artefakte auszudehnen. Jedoch würde dann beispielsweise die „Negation“ fehlen.

Anleihen lassen sich beim Transformationsmodell aber auch aus der These Herbert Marshall McLuhans, daß „das „Medium die Botschaft“ sei, [11] ausfindig machen, so daß sich für das Tranformationsmodell, wie es in dem vorliegend zu besprechenden Buch formuliert wird, eine medienmaterialistische (wenn auch keine mediendeterministische) Sichtweise angenommen wird (Seite 44-45).

Abgesehen davon besitzt das im Sammelband von Böhme vorgestellte Transformationsmodell definitorische Mängel. So wird nicht hinreichend erklärt, worin der Unterschied zwischen „Assimiliation“ und „Hybridisierung“ bestehen soll. Wenn in der Assimilation „Elemente des Referenzbereichs in die Zusammenhänge der Aufnahmekultur integriert“ werden, ist das kein Unterschied zu dem Verfahren, der Hybridisierung, bei dem „neuartige kulturelle Konfigurationen entstehen“. Denn in beiden Fällen wird die Aufnahmekultur nachhaltig verändert durch die Referenzkultur. Hier nutzt es auch nichts, die Sinnhaftigkeit der Bezeichnungen „Assimiliation“ als Eingliederung und Anpassung in ein vorhandenes System und „Hybridisierung“ als Verzwitterung hinzuzuziehen. Assimiliation mag hier vielleicht als „partiell“, Hybridisierung als „vollständig“ gelten. Die Frage, die jedes Mal bleibt, ist aber:  Wann ist eine Hineinnahme von etwas anderem eine Assimiliation, wann eine Hybridisierung? Wieviel Prozent der „Elemente“ der Aufnahmekultur müssen in eine Referenzkultur integriert werden, damit man nicht mehr von einer Assimiliation, sondern von einer Hybridisierung sprechen kann und vor allem: Wie sollen diese „Elemente“ als Anteile gemessen werden? 

Ein praktisches Beispiel: Hat die „deutsche Kultur“ Elemente des Islam assimiliert? Haben sich Nachfolger des Propheten Mohammed in Deutschland assimiliert? Oder hat der Islam durch muslimische Gastarbeiterfamilien, die seit über 40 Jahren in Deutschland leben, die „deutsche Kultur“ nachhaltig, also hybridisierend, verändert? Je nach Standpunkt kann man hier sicher den einen oder anderen Blickwinkel einnehmen, ohne die Frage sicher entscheiden zu können. 

Um die Theorie der Transformation indes nicht im Theoretischen und in diesen Schwierigkeiten verbleiben zu lassen, sind in dem Band zusätzlich sechs Aufsätze enthalten, welche die Theorie in die Praxis der Forschung umsetzen sollen (Seite 57-238). Dazu gehören philosophische Untersuchungen wie die Frage, ob und weshalb man die naturalistische Tugendethik der Engländerin Philippa Foot (1920-2010), im britischen Original 2001 erschienen, [12] als „neoaristotelische Ethik“ bezeichnen könnte. Mitnichten wird darin jedoch den Vorschlägen gefolgt, die mit den 15 Kategorien im Anfang des Werkes klassifiziert und benannt worden sind. Das ist eine Überraschung. Sodann benutzt die Archäologin Charlotte Schreiter in ihrem Aufsatz „Auswahl und Rekombination. Gipsabgüsse und der `Kanon´antiker Plastik im 18. und  19. Jahrhundert“ (Seite 105-135) die doppelten Kategorien „Auswahl (Selektion)“ und „Neuformierung (durch Rekombination)“, die zuvor gar nicht eingeführt worden sind (Seite 130-131) und außerdem noch nicht einmal klar definiert wurden, sondern mit Doppelbenennungen auskommen müssen. 

Weitere Überraschungen folgen: Der Biologe und Philosoph Georg Toepfer kennt in seinem Beitrag namens „Transformationen des Lebensbegriffs. Vom antiken Seelen- zum neuzeitlichen Organismuskonzept“ (Seite 137-181) nur noch acht statt 15 Formen der Transformation (nämlich „Appropriation“, „Idealisierung“, „Hybridisierung“, „Projektion“, „Inkapsulation“, „Negation“, „Inversion“ und „Destrutkion“ (Seite 167). [13] Er hat also nicht nur die Kategorien in der Anzahl vermindert, sondern auch noch begrifflich modifiziert. Außerdem nennt er diese Formen bewußt „Orthopoiese“, da seiner Auffassung nach, bei der Wissenschaftshistorie (seinem Untersuchungsgegenstand) von einer Allelopoiese gar keine Rede sein könne (Seite 137). 

Diese Uneinheitlichkeiten helfen insgesamt nicht, das Phänomen zu erfassen und verwirren eher, als daß sie Klarheit schaffen. Noch schlimmer ist: Sie verhindern geradezu ein diskursfähiges Ausgangsmaterial.
Zusammenfassend läßt sich dennoch konstatieren, daß das Konzept der Transformationstheorie, wie es in dem vorgestellten Band vertreten wird, durchaus in seinen Grundzügen geeignet erscheint, Veränderungsprozesse in der Aneignung und Modifikation von historischen „Gegenständen“ (seien es Sozio-, Arte- oder Mentefakte) im weitesten Sinne bewußter zu machen. Freilich scheint hier auch die Grundproblematik kulturwissenschaftlicher „Offenheit“ (negativ konnotiert könnte man dazu auch „Beliebigkeit“ dazu sagen) auf: Das ledigliche Präsentieren einer Vielzahl von möglichen Parametern in der Theorie, die nicht allesamt gleichsam angewendet werden können, sondern als offener Kanon (Seite 47) zu verstehen sind, setzt ein hohes Maß an Reflexions-, Klassifikations- und Abstraktionsvermögen voraus, um zu stringenten Ergebnissen zu kommen. Und es setzt voraus, daß das Konzept, welches für jede einzelne Untersuchung gewählt wird, vorher exakt durch die WissenschaftlerInnen zu bestimmen ist. Diese Vorarbeit der immer wieder neuen und ausführlichen Begriffsdefinition ist aber durchaus nicht immer in jedem der sechs Beispielbeiträge geleistet worden, bei Toepfer sogar wird sie explizit allelopoietisch verneint. 

Da der Sammelband aber mit dem Anspruch auftritt, auch außerhalb der Antikenforschung, aus der die Beiträge sämtlich stammen, Geltung besitzen zu wollen, wäre ein gewisses Mindestmaß an Definitionseindeutigkeit vonnöten gewesen. Auf diese Weise aber entzieht sich der fallibele Ansatz, eben weil er sehr differenziert und teilweise überlappend formuliert wurde, einem Ansatz zur Praxisüberprüfung. Er muß vielmehr jedes Mal neu formuliert und angepaßt werden. Es wäre daher wesentlich besser gewesen, einen Kanon vorzugeben, an dem man hätte Kritik üben können. Schließlich sind Modelle der Gruppendynamik (vier Kategorien Alpha, Beta, Gamma, Omega), der Kultursemiotik (drei Kategorien der Sozio-, Arte- und Mentefakte), der soziologischen Kapitalarten (drei Kategorien ökonomisches, soziales und kulturelles Kapitel) und viele andere Modelle ja auch eindeutig kategorial formuliert und haben sich in der geisteswissenschaftlichen Forschung bisher durchaus bewährt. 

Eine hohe Variabilität nun kann indes bisweilen auch ein Vorteil sein, aber auch, hier im einer erwünschten Vergleichbarkeit, ein Nachteil. Mit einigem gutem Willen kann man aber dieses Dilemma, diese Heteregonie, Pluralität und Vielfältigkeit als Bereicherung der epistemologischen Wege begreifen, historische Gegenstände zu betrachten, als eine Aufforderung und Wegaufzeigung zu einer multiperspektivischen Beleuchtung eines vielleicht schon vielfach, aber eben nur auf herkömmliche Weise, betrachteten Faktes. Diesen guten Willen sollte man auch dem vorliegenden Bande zur Seite stellen, auch wenn eine inhaltliche Auseinandersetzung um das Für und Wider der differierenden Modelle aus dem Band, das noch ein Konfinium der Kulturwissenschaften darstellt, erst noch geleistet werden muß.

Diese Rezension wurde Ende Juli 2013 erstellt und erscheint nicht hier nur online, sondern auch zugleich in der institutseigenen Print-Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung. Der Rezensent ist Claus Heinrich Bill.

Annotationen =

  • [1] = Johann Carl Leuchs: Neuestes Handbuch für Fabrikanten, Künstler, Handwerker und Oekonomen, Band X., Nürnberg 1826, Seite 39-44
  • [2] = Hier könnte man, je nach Weltbild, immerhin kritisch einwerfen, daß es auch nichtmenschliche Akteure im historischen Prozeß gab, z.B. eine „Gottheit“ oder die „Natur“. Bleiben wir aber hier ruhig bei der These, daß historische Begebenheiten direkt oder auch nur indirekt durch den Menschen ausgelöst werden, entweder als Individuum oder als Sozialität.
  • [3] = Herbert Marshall McLuhan sagt auch etwas, was auf diesen Schreibfedernfall anwendbar ist: Medien sind Erweiterungen des Körpers (darüber kann man allerdings in anderen Beispielfällen redlich streiten) und zugleich deren Amputation. Siehe dazu Sven Grampp: Marhall McLuhan. Eine Einführung, Konstanz / München 2011, Seite 74-78 
  • [4] = Hartmut Böhme / Lutz Bergemann / Martin Dönike / Albert Schirrmeister / Gorg Toepfer / Marco Walter / Julia Weitbrecht (Herausgebende): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, Paderborn 2011, kartoniert, 242 Seiten, Preis: 19,90 Euro
  • [5] = Die DFG ist das bedeutendste deutsche abhängig agierende Forschungsförderungsprogramm von Bund und Ländern, das mittels geschickter und willkürlicher pekuniärer Entscheidung ein nicht neutrales Agenda-Setting (bei Einzelpersonen ausschließlich für Graduierte ab dem Doktorgrad) betreibt und auf diese Weise bestimmte Forschungen in Gang setzen oder auch verhindern kann.
  • [6] = Dieser Begriff wird zuerst auf Seite 9 in der Einführung nur im griechischen Sprachgebrauch  behandelt, ohne daß dafür eine für beide Teile einzeln eine deutsche Übersetzung angeboten würde. Sie richtet sich daher merkwürdigerweise nur an Personen mit Graecum-Kenntnissen. Auf Seite erfolgt dann aber auch eine wortgetreue deutsche Übersetzung) 
  • [7] = Siehe dazu Stefan Weber: Non-dualistische Medientheorie. Eine philosophische Grundlegung, Konstanz 2005 sowie Josef Mitterer: Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, Wien 1992
  • [8] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Kulturgeschichte der Portechaise. Soziale und kulturelle Aspekte des Sänftenwesens, München 2013, Seite 76-79 
  • [9] = Siehe dazu Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens, in: Historsiche Forschungen, Jahrgang VI., Heft Nro. 3, Göttingen 2009, Seite 413-422 
  • [10] = Eine merkwürdige Art der Rezeption sind z.B. antikisierende Statuen, wie sie in Gartencentern im XXI. Jahrhundert angeboten werden. Diese Stauten sind bewußt „gebrochen“ gestaltet, indem ihnen Arme oder Beine fehlen, mit künstlichen „Bruchstellen“ versehen, obgleich in der Antike selbst die Vorbilder jener Statuen vollständig waren. Nur aber, weil die Überlieferung „der Antike“ (oder was dafür pauschal gehalten wird) schon meist unvollständig, wurde in der Referenzkultur gerade diese Unvollständigkeit zum Charakteristikum „der Antike“. Siehe dazu das Angebot der Firma „J.S. GartenDeko e.K.“ des Herrn Janusz Stankiewicz in 63584 Gründau namens „Figur Venus von Milo antik grau aus frostsicherem Beton“ für 47,80 Euro. Aus der Beschreibung: „Produkt: Betonskulptur Venus von Milo für Garten oder Wohnbereich. Farbvariation: hell grau patiniert. Maße ca.: Höhe 58 cm. Gewicht ca.: 10 kg. Material: Qualitätsbeton - frostsicher und witterungsbeständig. Herstellung: im Gußverfahren mit handwerklicher Veredelung und Patinierung. Produktion erfolgt in einem traditionsreichen Unternehmen aus EU. “ Siehe dazu die Weltnetzseite www.rakuten.de gemäß Abruf vom 30. Juli 2013
  • [11] = Herbert Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Win / New York / Moskau 1992, Seite 17 
  • [12] = Siehe dazu Philippa Foot: Natural Goodness, Oxford 2001. In deutscher Sprache drei Jahre später erschienen unter dem Titel „Die Natur des Guten“, Frankfurt am Main 2004 
  • [13] = Diese Kategorien definiert Toepfer einzeln übrigens erstmals auf den Seiten 168-174, allerdings anders als Böhme auf dies auf den Seiten 39-54 tut. Es bedürfte daher eigentlich einer eigenen allelopoietischen Untersuchung, wie sich das Konzept der Alleleopoiese in den einzelnen Beiträgen des Bandes transformiert hat. Eine erste und in die Augen fallende Erkenntnis ist, daß Toepfer unter anderem gegen Böhme die Methode der „Ignoranz“ (nach Böhme, Seite 51) anwendet, weil er diverse Kategorien ausblendet und gar nicht erst benennt. Dieses Verfahren entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn nämlich auf Seite 167 etwas ignoriert wird, was auf Seite 51 eingeführt wird. Gerade in einem Band diesen Selbstanspruchs wäre es sicherlich positiv gewesen, beide Modelle (Böhme und Toepfer) miteinander zu vergleichen. Um die ganze Sache noch ad absurdum zu führen: Weitbrecht kommt in ihrem Aufsatz (Seite 79-103) sogar zu dem Schluß, man könne aus dem griechischen Roman „Der goldenen Esel“ des Apuleius (2. Jahrhundert nach Christus) gar keine deutlichen Transformationstypen bestimmen (Seite 99-100).

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