Institut Deutsche Adelsforschung
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Adelige Trachten-Nutzung als Distinktions-Strategie? 

Thesen zu einer ungewöhnlichen Liaison im `langen´ 19. Jahrhundert

An den Anfang der folgenden Überlegungen seien vier historische Szenarien gestellt, in denen zwei Entitäten – Adel und Tracht – eine je eigene Rolle spielen. Es sind dies Szenarien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch eines gemeinsam haben. 

Erstens: Im Jahre 1933 läßt sich die Fürstin von und zu Liechtenstein mit ihren vier Kindern in liechtensteinischer Volkstracht fotografieren und abbilden; das Bild erscheint in einer populären illustrierten österreichischen Zeitschrift. [1] 

Zweitens hieß es 1856 über einen Besuch bei dem Fürsten von Montenegro: „Am Morgen eines Sonntags, des 2. April, luden uns der Fürst und die Fürstin zum Mittagessen um zwei Uhr ein. Wir machten vorher, um zwölf, unsern Vorstellungsbesuch. Der Fürst war in der großen montenegrinischen Tracht. Sein Untergewand war roth, auf der Schulter durch eine Agraffe geschlossen und ganz bedeckt mit Stickereien im feinsten Golde. Der übrige Anzug war weiß. Pistolen von getriebenem Silber mit eingelegten Edelsteinen blitzten in seinem Gürtel. Das einzige Kleidungsstück, das als nicht völlig national gelten konnte, war ein Paar strohgelbe Handschuhe, die er aus Etikette anlegen zu müssen glaubte.“ [2] 

Drittens vermerkte drei Jahre später – im Jahre 1859 – ein aufmerksamer Beobachter der Ankunft der neuen Fürstgemahlin in Belgrad – es war dies Julia geborene Gräfin Hunyady von Kéthely (1831-1919), seit 1853 mit Fürst Mihailo Obrenovic III. von Serbien vermählt – folgende Zeremonie: „Heute Früh 3 Uhr brachte der festliche geschmückte Dampfer `Galathea´ die Gemahlin des Fürsten-Nachfolgers, Fürstin Julie, hie[r]her. An der Seite ihres fürstlichen Gemahls, der ihr nach Semlin entgegengefahren war, hielt sie, in reiche Landestracht gekleidet, unter dem Donner der Geschütze und dem Geläute aller Glocken ihren feierlichen Einzug durch die festlich geschmückte Stadt in den Konak, wo sie vom Fürsten Milosch väterlich in herzlichster Weise empfangen wurde. Schon gestern war allen Behörden, Aemtern, Zünften und dem Publikum überhaupt das Programm der Empfangsfeierlichkeiten zugegangen; doch die Freude und der Jubel, beim Anblick dieser liebenswürdigen Frau, der tugendhaften Lebensgefährtin des Nachfolgers auf dem Fürstenstuhle Serbiens, dem die Sympathien des Volkes so entschieden zugethan sind, ließen den Effect aller ceremoniellen Vorbereitungen weit hinter sich zurück. Wiederholte Hurah und Zivio´s waren – wir wollen es zuversichtlich glauben – die aufrichtige Sprache des Herzens, womit Serbien die fürstliche Gattin zum ersten Male begrüßte.“ [3]

Viertens soll uns hier noch die Schilderung des Festumzugs des österreichischen Bundesschießens des Jahres 1880 beschäftigen, der auf der Wiener Ringstraße – unter großer Beteiligung der Stadtbevölkerung als Publikum – abgehalten wurde. Dazu hieß es: „Die herzlichste Begrüßung wurde natürlich wieder den Tirolern zu Theil, als sie unter ihren alten halbzerfetzten Fahnen mit dem rothen Adler aufmarschi[e]rten. Sie waren die Hauptpersonen des ganzen Schauspiels, dessen übrige Gruppen den Rahmen für sie bildeten. Da kamen die Etschthaler mit ihren gelben Röcken, schwarzen Lederkniehosen, weißen Strümpfen und aufgestülpten, mit Pfaufedern geschmückten Hüten; die Pusterthaler in ihren Lodenanzügen mit grünen, roth- und goldbordi[e]rten Brustlätzen und gelben, mit Alpenblumen gezierten Hüten; die Schützen von Wilten mit rothen, weiß beschnürten Spensern, Lederhosen und niedrigen, breitkrämpigen, mit Goldquasten behängten Hüten; ferner die Wippthaler, die Kitzbüchler, die Ampezzaner mit ihrer stattlichen Musikbande, die Kufsteiner, Vorarlberger, Trientiner, Schwazer, und wie sie alle heißen mögen. Wie stattlich nahm sich Graf Wolkenstein aus, als er mit einem Gefolge von Schützenmeistern in Bauerntracht auf alterthümlich aufgezäumten Rossen vor dem Zuge seiner Landsleute einherritt – das echte Bild eines alten `Herrn und Landmanns in Tirol´ an der Spitze seines Aufgebots“. [4]

Es sind dies vier Verwendungen einer ländlichen Tracht durch den Adel, die unterschiedlicher nicht sein können, was Ort, Setting, Anlaß und Zeit ihres Vorkommens betreffen. Dennoch sind auch gewisse Gemeinsamkeiten zu erkennen. Im ersten, dritten und vierten Fall demonstriert das jeweils für die Öffentlichkeit erzeugte Bild von Adeligen in Liechtenstein, Serbien und Österreich durch das Tragen der ländlichen Tracht eine Volksverbundenheit. Für das liechtensteinische und österreichische Beispiel ist es die Bestätigung der Volksverbundenheit der Fürstenfamilie zum Volk, für das serbische Beispiel Mittel zum Zweck des sichernden Ablaufs eines kritischen Übergangs – eines Thronwechsels. Einzig das Beispiel aus Montenegro scheint aus diesem Konzept zu fallen. Hier trug der Fürst Landestracht weniger zur Verdeutlichung seiner Zugehörigkeit zum Volk als vielmehr aus Gründen nationaler Repräsentation.

Diese unterschiedlichen Zugangs- und Verwendungsweisen von Trachten in adeligem Kontext haben allerdings auch mit den Zusehenden der jeweiligen performativen Situationen zu tun; waren es hier ländliche Bewohner und Volk, so waren es dort ausländische Besucher, die mit dieser Art adelig-nonverbaler Demonstration durch Kleidung Bekenntnisse zur Nationalität – oder auch nur zur Regionalität – wahrnehmen sollten. In allen vier Fällen aber war die Tracht des Landes eine symbolische Kommunikation. Weil jedoch die Tracht traditionell von der ländlichen Bevölkerung getragen wurde und sich der Adel besonders durch eine so genannte `ständische Lage´ nach Weber auszeichnete, [5] d.h. durch eine von den übrigen Ständen einer sozialen Gemeinschaft getrennte Lebensführung und einen getrennten Lebensstil, ist eine solche – eher als `gewöhnliche´, da weit verbreitete Handlungsweise einzustufende – Trachtenbenützung durchaus erklärungsbedürftig.

Eine Lösung dieser Frage könnte in bestimmten adeligen Haltungen liegen. Nun kennt man von Gregor von Rezzori die adelige Vorliebe für die `elegante Frugalität´ [6] und die schlichte Ruralität ebenso wie den von Stephan Malinowski konstatierten `Kult der Kargheit´. [7] Derartige Formen nobilitären `Understatements´ hat auch schon der amerikanisch-norwegische Soziologe Thorstein Bundle Veblen 1899 in einem seiner Grundlagentexte eruiert – und darin gerade die Demonstration größter Bescheidenheit als adelig gekennzeichnet. Er hatte von seinem außereuropäischen Standpunkt eines `fremden´ Beobachters aus festgestellt, dass die Kleidung der müßigen Klasse, zu der er auch den Adel alteuropäischen Zuschnitts zählte, von immer subtileren Unterscheidungsmerkmalen zur `gewöhnlichen´ Bekleidung gekennzeichnet gewesen sei. [8] 

Jennifer Hoyer M.A. bietet in ihrer im Waxmann-Verlag im westfälischen Münster jüngst erschienenen Masterarbeit im Fach der Europäischen Ethnologie allerdings ein anderes Interpretationsmuster an. [9] Die Volkskundlerin hat sich, ausgehend von einer Beschäftigung mit zwei bis heute überlieferten Trachten zweier Fürstinnen des Hauses Schaumburg-Lippe um 1900, mit den Besonderheiten der Fürstinnentracht befaßt. Zwar kommt auch Hoyer zu dem Ergebnis, dass die  Tracht als ein Zeichen der Volksverbundenheit gedeutet werden kann, man könne ihr aber darüber hinausgehend ansehen, dass sie auch ein `Kampf ums Obenbleiben´ des Adels in der Formierungsphase der Moderne sein könne. Dies leitet sie von den Sonderanfertigungen ab, die an den Fürstinnentrachten aufmerken lassen. Denn die speziell untersuchte Tracht der Fürstin Marie Anna wurde nicht wie die üblichen Trachten gefertigt, sondern war im Grunde eine deviante Tracht, besaß auf üblicher Grundlage abweichende Formen, die wiederum bewußt die von Weber angemerkte `ständische Lage´ betonten. 

Eingelassen waren in bestimmte Bestandteile der Trachten fürstliche Wappen und Kronen, die die gewöhnliche Landestracht nicht besaß. [10] Auf diese Weise, so Hoyer, ließen sich Distinktion einerseits und Verbundenheit mit dem Volk andererseits zugleich demonstrativ hervorkehren; mit anderen Worten könnte man auch ergänzend zu Hoyer sagen: performatorisch aufführen. [11] Selbiges läßt sich nun auch am eingangs genannten Beispiel aus Montenegro beobachten. Auch hier wurde seitens des Fürsten einerseits eine Landestracht benützt, andererseits diese aber – ungewöhnlicherweise – mit gelben Handschuhen und edelsteinbesetzten Silberpistolen kombiniert.
Hoyers kenntnisreiche und vor allem auch die praktische Trachtanwendung in zeitgenössischen sozialen Gefügen – Hoyer erfüllt hier die Forderungen Bausingers und Kaschubas nach einem Paradigmenwechsel in der Volkskunde weg von rein artefaktischen hin auch zu soziofaktischen und mentefaktischen Bedeutungsebenen in der Volkskunde – berücksichtigende Studie wirft daher ein bemerkenswertes Licht auf ein vordergründig nicht zusammengehöriges Gebiet adeliger Öffentlichkeitsarbeit. 

Die Antwort auf die Frage, ob die Inanspruchnahme volksverbundener Strategien bei Adeligen durch Trachtenanwendung indes auch auf andere Fälle übertragbar ist und welche Zwecke damit verbunden sein konnten, steht indes noch aus. Hoyer kann mit ihrer Mikrostudie eine Tiefenbohrung nicht vorführen, allenfalls eine Probebohrung. Ihre Forschung besitzt wegen der Analyse nur einer einzigen Tracht zwar keine Repräsentativität, erscheint aber wegen ihrer Sorgfalt im methodischen Vorgehen durchaus ebenso reliabel wie valide. Die  vielfältige Nutzung von Landestrachten, wie sie am Beginn dieses Aufsatzes präsentiert wurde, läßt jedoch vermuten, daß derlei Zusammenhänge natürlicher und öfters genützt worden sind, als dies auf den ersten Blick denkbar ist. Denn nicht umsonst hat Hoyer festgestellt, daß die Allgemeinheit und auch die Forschung bisher den Aspekt der Tracht bei der Adelsforschung weitgehend ausgespart – und als wenig zusammengehörig wahrgenommen hat. 

Möglicherweise könnten hier mehr Selbstverständlichkeiten zutage treten, als dies bislang bekannt ist. Daß Hoyer auf diese Verbindung aufmerksam gemacht hat, obgleich sie feststellt, daß Trachten an sich eher mit ländlicher, bäuerlicher und bürgerlicher Selbststilisierung in Zusammenhang gebracht werden, auch als Betätigungsfeld des Bürgertums klassifiziert werden, ist ihr großes Verdienst. Es ist zu wünschen, dass die konzise kulturwissenschaftliche Studie, die hinter den Artefakten auch die Mentefakte und Soziofakte betrachtet, anhand einiger weniger Trachten noch auf eine breitere Basis gestellt wird; so ließe sich ausgehend von den Hoyerschen Überlegungen vielleicht eine Klassifikation oder Typologie des Verhältnisses von Tracht und Adel erstellen. 

Hoyer, der man trotz aller Modernität der Europäischen Ethnologie die noch starke Fixierung auf die artefaktische Volkskunde anmerkt, verbleibt mit ihren monokausalen Theorien zur Adelsforschung zwar ausschließlich bei Brauns Kampf des Adels um `Niedergang´ und `Oberbleiben´, [12] bezieht daher weder Weber noch Veblen mit ein. Dennoch ist dies in ihrem Fall kein Mangel. 

Sie bietet damit einen durchaus plausiblen Erklärungsansatz, der freilich hier und dort noch theoretisch mit vermutlich zusätzlichem Erkenntnisgewinn fruchtbar erweitert werden könnte. Vor allem eine Systematisierung des offenbar doch recht alltäglichen Verhältnisses von Adel und Tracht, das möglicherweise – dies deuten die eingangs erwähnten Schlaglichter an – über ganz Europa verbreitet war, steht noch aus; die zugehörige Initialzündung aber ist Hoyer nicht zu nehmen.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Wiener Salonblatt, Wien, Nr. 2 vom 15. Jänner 1933, Seite 6. 
  • [2] = Nomen Nescio: Ein Besuch bei dem Fürsten von Montenegro, in: Blätter für Geist, Gemüth und Vaterlandskunde (Beilage zur Kronstädter Zeitung), Nr. 47 vom 19. November 1856, Seite 309.
  • [3] = Kronstädter Zeitung, Nr. 115 vom 22. Juli 1859, Seite 708 (titellose Meldung, Rubrik „Serbien“).
  • [4] = Neue Freie Presse, Wien, Nr. 5708 vom 19. Juli 1880, Seite 3.
  • [5] = Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 5. Auflage 1972, Seite 179-180.
  • [6] = Gregor von Rezzori: Idiotenführer durch die deutsche Gesellschaft I. – Hochadel. Vorstoß in die gesellschaftliche Stratosphäre. Anleitungen zum Umgang mit allerhöchsten, höchsten und hohen Herrschaften, Reinbek bei Hamburg 1962, Seite 11 und 69.
  • [7] = Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2002, Seite 90-103.
  • [8] = Dazu Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute, Köln 1958, Seite 123-124 und 182-183.  Veblen hat auch besonders über die Bauerntrachten als Kleidungsstück geschrieben; siehe dazu Seite 171-172.
  • [9] = Jennifer Hoyer: Die Tracht der Fürstin Marie Anna zu Schaumburg-Lippe und die adelige Trachtenbegeisterung um 1900, Waxmann-Verlag Münster in Westfalen 2016, 148  Seiten,  broschiert, mit 22 zumeist farbigen Abbildungen, Preis: 24,90 €, ISBN 978-3-8309-3302-1. Im Jahre 2014 erhielt die Verfasserin dieser Masterarbeit für ihre Trachten-Forschungen den Günter-Wiegelmann-Preis der Gesellschaft für Volkskunde Münster verliehen.
  • [10] = Mit Veblen könnte man hier wieder von dem Erfordernis prestigsträchtiger und daher ökonomisch aufwändiger, zugleich aber unpraktischer Kleidung der müßigen Klasse sprechen, weil die ständische Wohlanständigkeit diesen demonstrativ verschwenderischen Aufwand erfordert habe; siehe dazu erneut Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute, Köln 1958, Seite 164-166.
  • [11] = Zum Performanzansatz, den Hoyer nicht benützt hat, siehe in diesem Kontext jedoch gewinnbringend die Erörterungen über Cultural Performance als mediale Praxis bei Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2003, Seite 81-87 (Trachten können hier auch als lesbare `Texte´ verortet und geltend gemacht werden). Siehe dazu ferner Manfred Pfister: Performativität (Performance), in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 5.Auflage 2013, Seite 590-592.
  • [12] = Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, Seite 87-95.

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