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Adel und Herrschaftsaushandlung in Mehrebenen-ProzessenDas Beispiel des Herzogtums Holsteins im 17. und 18. JahrhundertDas latente Spannungsverhältnis zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Empirischen und dem Normativen, das sich, namentlich in der Retrospektive historischer Betrachtungen manifestierend, oft in Verwechslungen zwischen den Weberschen Real- und und Idealtypen niederschlug, [1] hat auch der italienische Fürstentheoretiker Niccolò Machiavelli (1469-1527) beschrieben; er konstatierte dazu: „Man hat sich Republiken und Monarchien phantasi[e]ret, wie sie nie existi[e]rten, und nie existi[e]ren werden. Es ist ein so ausserordentlicher Unterschied zwischen der Art, wie man wirklich lebt, und wie man leben sollte, dass alle, welche bloss darauf sehen, was geschehen sollte, und nicht auf das, was wirklich geschieht, sich eher unglücklich als glücklich machen.“ [2] Diese Worte treffen auch auf das historiographische Konzept des „Absolutismus“ zu, dessen Vordenker Macchiavelli war und zu dessen vermutlich augenfälligsten Sinnbildern der französische Sonnenkönig und die dänische Einherrschaft ab 1661 geworden sind. [3] Hier existieren nebeneinander Auffassungen, die die Existenz des absoluten Herrschers in der Frühneuzeit sowohl behaupten, [4] negieren [5] oder auch – weder als reine Verneinung noch als vorbehaltlose Bejahung – in neuen Konzepten hybridisieren. [6] Ein solcher Beitrag zur Diskussion um diese Auffassungen stammt von der Geschichtslehrerin Annika Tammen, der jüngst (2017) erschienen ist. [7] Sie interessiert sich für die Frage der historischen Staatswerdung auf Makroebene und wendet dazu mit dem Umweg über die Mikroebene die Colemannsche Badewanne an. [8] Tammen möchte daher unter Zugrundelegung verschiedener Hybridkonzepte am Beispiel des frühneuzeitlichen Herzogtums Holstein ermitteln, welcher dieser komplexreduzierten Ansätze als passend erscheint und mit den historisch rekonstruierten Erscheinungen kongruent gedacht werden könne. Sie setzt sich dabei vor allem mit Konzepten von Sozialdisziplinierung, dem Werden der Zivilisation, mit Konzepten von Ordnung und Selbstzwängen auseinander (Kapitel 2), analysiert die Prozesse der Staatswerdung als Antwort der Obrigkeit auf globale Krisen wie Pest, Armut und Kriege (vor allem als Folgen des Dreißigjährigen Krieges). Die Tiefenbohrungen werden von ihr, bis herab auf etliche Einzelfälle von Rechtsstreitigkeiten von holsteinischen Dorfuntertanen, für das herzoglich-gottorfische Amt Bordesholm und das königlich-dänische Amt Segeberg untersucht (darunter Fälle von Sittlichkeitsdelikten oder übermäßigem Branntweintrinken vor dem Kirchgang). Dabei verfolgt sie in ihrem Forschungsdesign mit der Normenerörterung sowohl einen Drop-down-Weg als auch mit bevölkerungsseitigem Agieren den einer umgekehrten Bottum-up-Perspektive (Kapitel 3). Auch die Adelsforschung kann, obgleich hier Adelige und adeliges Agieren eher nur am Rande analysiert werden, etliche Anregungen aus dem Werk Tammens erhalten. Denn die lokalen Amtsträger – adelige Amtmänner – waren nicht nur „Makler der Staatsmacht“, sondern zugleich auch, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Strukturen, selbst mit Eigensinn oder Eigenmacht handelnde Akteur*innen und damit „kleine Könige“ ihres Bereiches. [9] Tammen nennt diesen Prozess Herrschaftsvermittlung und „Staatswerdung durch gelebten Pragmatismus“. Dem lagen teils ökonomische Motive zugrunde, etwa, wenn die Kalkulation der Kosten der Normdurchsetzung die zu erwartenden Erfolge der Herrschaftsfestigung zu übersteigen drohten. Dann konnten seitens der Landesherrschaft auch kleinere Verstöße, die das Herrschaftssystem nur peripher tangierten, unsanktioniert bleiben. Dies bedeutet, daß das politische System nach dem Zwiebelprinzip gestaltet worden wäre. Es gab dann zwar partielle und temporäre Änderungen peripherer (äußerer) Funktions- und Strukturmerkmale, zugleich aber wurden zentrale Merkmale des Systems aufrechterhalten, so daß deren Persistenz gesichert werden konnte. Die Änderungen der weniger existenzbedrohenden Bereiche sicherten somit auch die zentralen Merkmale und erhielten dadurch das System. Doch traf dies nicht allein auf Politics-Änderungen (Prozesse) im Sinne einer evolutionären Entwicklung und in den Dimensionen von Polity (Formen) und Policy (Inhalte) zu, [10] sondern auch auf Implementierungen ins System. So wurden einige alte Amtsgebräuche und Schlichtungsverfahren bei Streitigkeiten beibehalten, um dem gewachsenen Rechtsempfinden der Bewohner*innen vor Ort trotz des Strukturwandels zur Staatswerdung entgegen zu kommen. Aber auch eine Herrschaftsdurchsetzung bis hinab auf Dorfebene blieb in Holstein weitgehend aus. Vielmehr waren die bereits erwähnten adeligen Amtmänner die lokalen Herrscher vor Ort, gleichwohl aber waren auch sie auf Aushandlungen angewiesen. [11] Dabei konnte es durchaus vorkommen, daß sich Dorfbewohner*innen und Landesherrschaft gegen spezielles Handeln von Amtmännern stellten – und abgesehen davon auch andere Kombinationen von Koalitionen möglich waren. Tammen kommt schließlich zu dem Ergebnis, daß nicht vollständige Disziplinierung, sondern die Aufrechterhaltung von Ordnung das Ziel des gemeinsamen Handelns gewesen sei. Derlei Erkenntnisse hat Tammen trefflich durch ihre Detailstudie herausgearbeitet und auch belegt. Sie bearbeitet zwar nur zwei (wenn auch unterschiedlich verfaßte) Ämter im Herzogtum Holstein, hat aber mit ihrem Vorschlag des „pragmatischen Weges“ (theoretisch zusammen gefaßt mit einer anschaulich den Kern darstellenden Grafik auf den Seiten 350-353) einen diskussionswürdigen Ansatz präsentiert, zu dem man sich weitere regionale Vergleichsstudien wünscht. Damit hat sie zugleich einen Realtyp beschrieben, dem ein neuer Idealtyp des Herrschens im „Absolutismus“ entspringt, und dieses Konzept ist weitaus weniger homogen, als dies noch im landläufigen komplexreduzierten Verständnis der bisherigen Historiographie zum „Absolutismus“ anzutreffen ist. Der Theorievorschlag Tammens erinnert zudem an einige – im Buch nicht angesprochene – Konzepte aus Nachbardisziplinen, die dadurch zu einer Art von Bestätigung der Tammenschen These herangezogen werden können. Hierzu zählt das Konzept des Soziologen Max Weber von Herrschaft als einem bilateralen Aushandlungsprozeß, der zwischen dem Herrschaftsanspruch von potentiell als herrschend sich verstehenden Personen (oder auch Gruppen, wie dem Adel) einerseits und dem Herrschaftsglauben der potentiell Beherrschten gegenüber steht. Auch das Kainasche Modell der Legitimität – d.h. der Rechtmäßigkeit von Herrschaft – ist ähnlich strukturiert. Hierbei bilden der Legitimitätsanspruch der Herrschenden und die Legitimitätsüberzeugung der Beherrschten eine Basis, die – im Falle eines gedachten Idealtyps – mittels Performanz und Interaktion schließlich zu politischer Legitimität gerinnt. [12] Schließlich finden sich ebenso Parallelen zu Eastons Flußmodell der Input-Output-Verhältnisse politischer Systeme und ihrer gesellschaftlichen Umwelten aus dem Bereich „Politische Soziologie“. Dort erhält das politisch-administrative System Input aus der Gesellschaft über Forderungen und Unterstützungen, produziert aber auch über Entscheidungen und Handlungen Output. [13] Die in dem Werk angeführten Literatur- und Quellenverzeichnisse sind hilfreich, jedoch nicht nur aus Sicht der Adelsforschung etwas problematisch. Hier wurden, gleich ob eine Nennung vor oder nach 1919 lag, alle Autoren mit einem „von“ im Namen unter dem Nachnamenbuchstaben „V“ einsortiert. Dies bedeutet, daß man die üblicherweise vor der Weimarer Reichsverfassung (dem Zeitpunkt, als Adelsnamen Familiennamen wurden und dann in der Tat mit „Von“ begannen) unter dem jeweiligen Eigennamen zu suchenden Verfasser*innen nicht unter ihren Nachnamen findet, sondern alle unter dem „Von“, auch beispielsweise solche, die 1828 erschienen sind (wie Carl v.Schirachs Handbuch des schleswig-holsteinischen Criminalrechts). Ferner fehlen im Literaturverzeichnis einige Positionen, die noch im Haupttext erwähnt wurden. Dazu zählt Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“ (erwähnt auf Seite 33 in der Fußnote 20, fehlt im Verzeichnis auf Seite 406). An anderer Stelle wird ein Buch mit dem Bemerken zitiert, es würde sich um ein Schulbuch handeln (Seite 15: „Zeeden: Frühe Neuzeit“). Im Literaturverzeichnis (Seite 407) sucht man einen Autor Zeeden jedoch vergeblich. Möglicherweise handelt es sich, dies läßt sich jedoch nur durch externe Bibliographierung erschließen, um den von Heinz Hürten und Ernst Walter Zeeden bearbeiteten Band 2 des von Reinhard Elze und Konrad Repgen herausgegebenen Werkes "Studienbuch Geschichte" mit der Bezeichnung "Frühe Neuzeit, 19. und 20. Jahrhundert", das unter anderem 1996 in vierter überarbeiteter und ergänzter Auflage im Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag erschienen ist. Welche Auflage aber hier zitiert wird, bleibt bedauerlicherweise unbekannt, da bei Tammen a conto des Fehlens des Langtitels das Erscheinungsjahr nicht angegeben wird. Trotz dieser Mißlichkeiten eher technischer Natur kann das Werk jedoch als Analyse und Gedankenanregung zu neueren Absolutismuskonzepten sinnreich angewendet werden. Tammens Werk, das bereits 2015 als geschichtswissenschaftliche Dissertation an der Universität Flensburg angenommen worden ist, ist im Verlag für Regionalgeschichte in Bielefeld erschienen und kostet 29,00 Euro bei einem Umfang von 408 Seiten. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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