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Die deutsche Südsee 1884 bis 1914Rezension eines Mamutwerkes zur Geschichte der deutschen Pazifikkolonien [167]Es waren die am weitesten vom Mutterland entfernten deutschen Kolonien, und sie waren in ihrer geographischen Struktur so zerrissen wie keine andere auswärtige Bastion des deutschen Kaiserreichs: Die deutschen Südsee-"Schutzgebiete" im 19. und 20.Jahrhundert. Dies waren Territorien, die in den Jahren 1884 bis 1899 durch einen kaiserlichen Schutzbrief unter deutsche Oberhoheit gestellt wurden, um die Handelsinteressen deutscher Firmen und des Reiches zu wahren. Im Vergleich zu den deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent waren die Südsee-Erwerbungen Deutschlands oftmals nicht nur zeitlich später erfolgt (1885 Kaiser-Wilhelms-Land, Bismarckarchipel und Salomonsinseln, 1886 Marschallinseln, 1888 Nauru usw.), sondern auch von der Fläche und der Bevölkerung her weniger bedeutend. [168] Dennoch sind diese eher kleinen deutschen Kolonien am besten erforscht, denn fast zwei Kilo und stolze 880 Seiten umfaßt das 2002 in zweiter durchgesehener Auflage erschienene Handbuch über die Geschichte dieser deutschen Kolonien in Mikro-, Poly- und Melanesien, die für die afrikanischen Kolonien noch aussteht und als Vorbild dienen kann. Der Begriff "Handbuch" rechtfertigt sich infosern, als mehr als zwei Dutzend Autoren aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen an diesem Gemeinschaftswerk teilgenommen haben. Die hohe Bedeutung und die Qualität, die unterschiedlichsten Zugangsweisen zum Thema, freilich auch die vollkommen unterschiedlichen Darstellungsweisen in den einzelnen Aufsätzen, ergeben sich zweifellos aus der lobenswerten Kunst des Herausgebers Hiery, die internationalen Fachleute auf diesem Gebiet zu einer Veröffentlichung zusammenzubringen und zwar interdisziplinär auch Germanisten, Historiker, Ethnologen, Anthropologen und Botaniker (Liste der Verfasser und ihrer Fachgebiete S.855-865) zusammenzufassen. Entsprechend vielfältig sind die Ansätze zum Thema Südsee; es gibt Aufsätze zur zeitlosen Fauna, Geographie und Anthropologie. Der größte Teil ist aber der Geschichte bis 1918 gewidmet, insbesondere der Kirchen- und Missionshistorie der Katholiken und Protestanten, der Kommunikations-, Schiffahrts-, Rechts-, Militär-, Schul-, Sprach-, Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Geistesgeschichte. Alles hier zu besprechen sprengt leider den Rahmen der Rezension, doch sei beispielsweise nur darauf hingewiesen, daß eine interessante sprachwissenschaftliche Untersuchung über die Spuren der Deutschen in der Verständigung der Insulaner informiert (S.239-262), so die interessante Einbürgerung deutscher Wörter in den Südseesprachen ("pasmalauf" = paß mal auf, "rintfi" = Rindvieh, "donakail" = Donnerkeil, "spaisesima" = Speisezimmer, et cetera). Doch dies Beipiel nur am Rande. Wichtiger erscheint insgesamt, daß sich das Handbuch im Zuge einer immer häufiger in historischen Werken anzutreffenden Multiperspektivität des methodischen und thematischen Zugangs verpflichtet und daher nicht nur eurozentrisch arbeitet. Es gibt auch eine Einführung in die Welt der Einheimischen, in der mehrfach auf die Sichtweisen der Melanesier ("Zeitrechnung und Kalender in Melanesien", "Melanesisches und westlich-europäisches Zeitverständnis", S.265-276), die Eigenheiten der Mikronesier ("Grundzüge des Weltbildes", S.475-507) und die philosophischen Gedankengebäude der Polynesier ("Die Weltanschauung", S.607-635) eingegangen wird. Damit kommen nicht nur die Fremdbilder der Europäer auf die Einheimischen zur Geltung, sondern auch die Sicht (und die Reaktionen!) der Südseeinsulaner auf die ungefragt in ihren Herrschafts- und Lebensbereich eindringenden christlichen Weißen. Vier große Hauptkapitel befassen sich insgesamt nach den Territorien gegliedert mit diesen vorgenannten Fragen (Die Südsee und Deutschland, Melanesien, Mikronesien, Polynesien). Weiters wird in einem eigenen fünften Abschitt (Deutschland und seine Nachbarn im Pazifik) eingegangen auf die internationalen Reaktionen und Verhältnisse zu konkurrierenden Kolonialnationen wie Amerika, Australien und Neuseeland (S.739-801), so daß auch eine Einbettung in den internationalen Kontext möglich ist. Dieser dient nicht zuletzt als Rahmen für das sechste und Abschlußkapitel über das unspektakulär schnelle und eher unmerkliche "Ende" der deutschen Südseekolonien im ersten Weltkrieg (Das Ende der deutschen Südsee, S.805-854). Daneben bleibt auch genug Platz für thematische Exkurse. So ist ein eigenes Kapitel beispielsweise dem Kannibalismus gewidmet (S.312-321). Auch hier wird deutlich der Handbuchcharakter hervorgehoben, in dem eine verdienstvolle Liste der ermittelbaren Fälle aus Deutsch-Neuguinea in den gesamten Untersuchungsjahren gebracht wird; leider fehlen bei diesem Kapitel, wie es sich der Leser wünschen würde, einige kulturgeschichtliche Hintergründe zum Wesen des Kannibalismus und seiner Stellung in der indigenen Bevölkerung von Neuguinea. Hier wäre beispielsweise eine kulturgeschichtliche Einbettung in die vor allem durch Zauber- und Seelenglauben geprägte Bedeutung der Anthropophagie ("Menschenfresserei") wünschenswert gewesen; [169] so aber bleibt es bei einer eurozentrischen Sichtweise und (durchaus verdienstvollen) reinen Dokumentation der Fälle ohne Auswertung. Interessant ist nicht minder der exkursive Abschnitt über die Geschichte des vegetarischen Sonnenordens (S.450-458) des Nürnberger Apothekers Friedrich Engelhardt (1870-1919), einer interessanten Persönlichkeit, die 1899 nach Neuguinea ausgewandert war und dort zum Verfechter des Kokovorismus wurde. Dies war eine Lebensweise, die vor allem in der Energie der Sonne und in den Kokosnüssen die Grundlagen der menschlichen Ernährung sah. So ernährte sich Engelhardt auf einer eigenen Insel, auf der er eine Kokosplantage besaß, offensichtlich ausschließlich von Kokosnüssen, die sehr wasser-, rohfaser- und fettreich waren, aber kaum Kohlehydrate besaßen. [170] Zweimal mußte der lange Haare tragende hagere Mann, der außerdem überzeugter Nudist war, ins Krankenhaus eingeliefert werden, da er - vermutlich infolge der Mangelernährung - zu geschwächt und mit Geschwüren übersät - nicht mehr arbeitsfähig war. Durch seine ausgesprochen energiegeladene Ernährung besaß Engelhardt zudem einen fliegenden Geist, da er nur wenig Körperenergie auf die Verdauung benötigte. Er war sehr interessiert an den Pflanzen seiner Insel, besaß
eine große Bibliothek und viel Zeit. Außerdem schuf er zahllose
ästhetische botanische Zeichnungen und Beschreibungen und war zusammen
mit einem Berliner Pharmakologen Entwickler eines Krebsmittels. Obwohl
selbst intellektuell veranlagt, war er doch antizivilisatorisch und auch
antikulturell eingestellt, jedenfalls was seine Stellung zur westlichen
Kultur anbelangte. Sein spätes Ziel war die Schaffung eines äqatorialen
tropischen Kolonialreiches von nackten und fruktivorisch (=fruchtvegetarisch)
lebenden Menschen. Engelhardt war es gelungen, einige Jünger zu aktivieren,
die er mittles intensiver Werbung aus der europäischen Kultur abwerben
konnte, doch gelangte sein Orden nie zu großer Bedeutung.
Es handelte sich um willensstarke Individualisten, was vor allem auf den teilweise charismatisch wirkenden Engelhardt zugetroffen haben könnte, der allerdings auch merkwürdige schon dem damaligen Stand der Wissenschaft widersprechende Ernährungstheorien pflegte. So behauptete er, daß der Magen-Darm-Kanal nicht in der Lage sei, Nahrung für den Menschen in Energie umzuwandeln, sondern es sei allein die Sonne, die über die Kopfhaut das Gehirn ernähre. Zweifellos hat Sonnenlicht, dies ist mittlerweile nachgewiesen, eine förderliche Wirkung auf das Allgemeinbefinden, aber Engelhardt überhöhte offensichtlich in einem "paradiesischen" Lebensumfeld, wie er es in der Südsee vorgefunden hatte, dessen Wirkkraft. Soweit einige der Exkurse. Bemerkenswert ist am Handbuch der 115
Photos umfassende Bildteil (zwischen den S.458 u. 459), der vielfältige
visuelle Einblicke in das Leben der Deutschen, aber auch der Einheimischen
in der ganzen Südsee gibt. Auch wenn die Bildunterschrift zum Bild
103 nicht stimmen kann (es zeigt Dr. Erich Schultz oder Wilhelm Solf, aber
einen "Dr. Erich Solf" gab es sicherlich nicht in diesem Kontext), gibt
es einige geradezu sensationelle Photos, die neue Fragen aufwerfen. Wieso
präsentierte sich eine deutsche Stationsfrau, wenngleich einheimischer
Herkunft, barbrüstig? Weshalb ließen sich deutsche Adelige,
darunter der Oberleutnant z.S. Frhr.v.Buttlar, mit einer einheimischen
Frau händchenhaltend auf Samoa ablichten? (siehe Abbildung auf Seite
1233!)
In der populären Bildkultur aber wurde diese Verbindung jedoch forciert. Das zeigt eine nicht personalisierte eher symbolisch zu verstehende Postkarte, auf der Ähnliches zu sehen ist: Ein Offizier hakt sich bei einer Insulanerin ein, die knapp bekleidet ist, zudem noch mit der Hand ihren Rock anhebt; beide Beteiligten sind deutlich erkennbar an ihrer einander zugewandten Körperhaltung in einen Flirt vertieft und sehen sich lächelnd tief in die Augen (Abbildung auf der hinteren Umschlagseite des Schutzumschlags). Diese seltsamen Spuren einer merkwürdig konstruierten interkulturellen Allianz zweier so unterschiedlicher Lebenswelten auf sexueller Basis, die vermutlich unter dem Gesichtspunkt "Gegensätze ziehen sich an" (dazu die Attribute Offizier-Säbel und Insulanerin-Kokoswedel) standen, wären sicherlich noch ein lohnendes Forschungsfeld für die Kulturwissenschaft. Sie finden ihre Bestätigung in einigen Hinweisen auf die Beamten der Neuguinea-Kompagnie, die selbst sexuelle Beziehungen zu den Insulannerinnen unterhielten, die offensichtlich eine besondere Anziehungskraft auf Weiße besaßen (S.288-289). Auch waren Ehen zwischen Deutschen und indigenen Frauen die Regel, nicht die Ausnahme; der Kaiserlich Deutsche Gouverneur Dr. Albert Hahl hat vermutlich sogar in Polygamie gelebt (S.300-301). Dies leitet zu einem weiteren Aspekt über: Wie wurden Bilder der unterschiedlichen Fremdheiten konstruiert? Hierbei geht es um die Frage, wie sich die Deutschen die Südsee, ihre Bewohner und deren Verhältnisse vorstellten, inwieweit sie sich ein idealisiertes Bild fertigten oder inwieweit sie sich als Fremde im Pazik auch anpassen konnten (siehe oben Dr.Hahls Verhalten). Afrikaner und besonders Orientalen wurden von den Europäern eher skeptisch beurteilt, Orientalen verständlicherweise aufgrund ihrer diametralen religiösen und zum Teil auch gegen Europa gerichteten machtpolitischen Bestrebungen. Dahingegen betrachtete man offensichtlich die militärisch und daher existentiell nicht bedrohliche Welt der Südseebewohner, die zudem in vergleichsweise mildem Klima in einer "traumhaften" Umwelt lebten, eher als "edle Wilde" (S.10 u. 20). Die Fremdbilder der Europäer werden dabei kurz angeschnitten, bleiben aber im Handbuch doch marginal. Vielleicht ist diese unterschiedliche Wahrnehmung von Fremdheit dafür verantwortlich, daß es zu solchen Photos wie oben beschrieben überhaupt kommen konnte. Recht interessant ist die Einstellung eines der höchsten Funktionäre des Deutschen Reiches im Pazifik, des Gouverneurs von Samoa, Wilhelm Solf. Er betrachete die Einheimischen als indigen ("Native") und bezeichnete die Europäer und damit auch sich selbst als Fremde ("Foreigner"); ein Begriffspaar, welches er sogar in die Gesetzestexte übernahm und mit dem er auf erheblichen Widerstand bei seinen Miteuropäern stieß (S.19-20). Solf war, wie auch viele andere Beamte und Wissenschaftler, davon überzeugt, daß die pazifische Inselwelt in erster Linie die angestammte Heimat der Insulaner sei und dies auch trotz des europäischen Einflusses bleiben sollte. So einfach jedoch war dieser Wunsch nicht erfüllbar, denn Vieles von dem, was die Europäer mitbrachten, wurde von den Insulanern an- und aufgenommen: Sprachteile, Waffen, Alkohol, Geld. Damit unterscheidet sich die Invasion der Europäer in der Südsee nicht wesentlich von der in Amerika im 18.Jahrhundert. Über die Einwanderer kam zwar der internationale Handel und Geld ins Land, aber letztendlich führte die Einmischung in fremde Gesellschaften von Seiten des angeblich "zivilisierten" Europas in Nord- und Südamerika zum Untergang ganzer kultureller Eigenarten und Völkerstämme. So war es unter anderem dem anfänglich positiv betrachteten Pelzhandel der Franzosen mit den Huronen im 17.Jahrhundert zu "verdanken", daß diese nach und nach degenerierten, weil sie sich zu sehr an die europäischen "Kulturformen" (Gewinnstreben, Konkurrenzdenken, Profitgier) anlehnten und namentlich im Alkohol und an den von den europäischen Missionaren (den Jesuiten) eingeschleppten Krankheiten untergingen. [171] Dies jedoch war in Neuguinea nicht der Fall, wo Alkohol - im Gegensatz zu Geschlechtskrankheiten (S.425) und der eingeschleppten Dysenterie (Ruhr) - nicht zu einer bedrohlichen Importware der Europäer geworden war (S.419). Dennoch mußte auf vergleichbarer Ebene vorgebeugt werden. Denn mit der Einführung des westlichen Währungssystems in Samoa kam auch die Möglichkeit auf, sich in Schulden zu verstricken. Um hier keine Abhängigkeitsverhältnisse nach westlichem Muster zu konstruieren, verbot Solf 1908 das Schuldenmachen für die Samoaner - mit zweifelhaftem Erfolg (S.686). Trotzdem wollten - selbst bei anfänglich großer Zurückhaltung - die meisten Insulaner "das moderne Leben" nachahmen und annehmen, welches ihnen als Paradies vorschwebte, wobei sie übersahen, daß sie dadurch ihre eigene Kultur Stück für Stück und schleichend verloren (S.128-129). Teilweise hat dieser Prozeß zur Vernichtung geführt, wie schon im 17.Jahrhundert die Bevölkerung der Marianen durch die Spanier ausgelöscht wurde, teilweise haben sie sich in eine fatale wirtschaftliche Abhängigkeit gebracht, die ihr Leben zunehmend bestimmte (S.129). "Der Europäer" hingegen hat diese Folgen kaum vorausgesehen und wenn, dann stand er in der Regel sich selbst und seinen als "richtig" angenommenen Prinzipien näher. Die meisten Eroberer kümmerte nicht, was mit den Einwohnern der Kolonien passierte und wie sich ihre Kultur veränderte, interessant war vorrangig die Sicherung kurzfristiger wirtschaftlicher Ausbeutung scheinbar "herrenloser" ferner Länder. Eurozentrisch war auch das Weltbild des Adels in der Südsee. Der deutsche Adel (auf diese Spezifizierung extra einzugehen mag man dem Rezensenten verzeihen) war im Pazifik allerdings - anders als beispielsweise in den deutschafrikanischen Kolonien - kaum vertreten (S.17), was sicherlich auch damit zusammenhing, daß die Südsee kaum militärische Präsenz besaß. [172] Es gab hier nicht einmal Schutztruppen und auch keine Marinestation, nur gelegentlich kamen aus Kiautschou Marineverbände, die aber mehr Erholung suchten als repräsentative Aufgaben besaßen. Das Militär war unter den Deutschen vor Ort nur von geringem Stellenwert, was sich auch darin äußerte, daß selbst der Kaiserlich Deutsche Gouverneur von Samoa nicht einmal Militärdienst geleistet hatte (S.805). Waren Adelige in der Südsee, so handelte es sich in der Regel um Marineoffiziere, denn auch in der Verwaltung der deutschen Schutzgebiete war der Adel nur zu einem sehr geringen Prozentsatz vertreten. Sie waren fast unvermeidlich an den zahlreichen Falggenhissungszeremonien beteiligt oder erklärten vor ihrer Mannschaft und wenn möglich auch einigen anwesenden Einheimischen, daß sie mit der Hissung der Flagge (die danach wieder eingeholt wurde), nunmehr von diesem und jenem Eiland im Namen des Deutschen Kaisers Besitz ergriffen hätten. Infolge der territorialen Gliederung der Inselreiche mußten diese Zeremonien, die ebenfalls noch einer interessanten symbolgeschichtlichen Auswertung harren, mehrfach wiederholt werden; ein bleibender Eindruck auf die Einheimischen war schwerlich festzustellen. So hißte Korvettenkapitän v.Wietersheim von S.M.S. Adler 1886 dreimal die deutsche Flagge auf den nördlichen Salomonen (S.277), konnte weitere geplante Hissungen aber infolge Kohlenmangels (!) nicht mehr vornehmen (S.460-461). Es vergingen erst drei weitere Jahre, bis dann 1889 Korvettenkapitän
v.Prittwitz u.Gaffron von S.M.S. Alexandrine zwei weitere solche Zeremonien
abhielt.
Dieser wurde schließlich auch als Landeshauptmann in der Selbstverwaltung der Neuguinea-Kompagnie bestellt, residierte jedoch anfänglich nur in einem Schiffsrumpf, weil keine Wohnung für ihn verfügbar war und hatte auch sonst wenig zu verwalten, zudem erschwerten ständige Konflikte mit dem kaiserlichen Kommissar Gustav v.Oertzen (1836-1911) die Administration (S.280). [174] So war die Verwaltung erstens nur wenig effizient (sie besaß nur eine Polizeitruppe) und zweitens allein personell wenig kontinuirlich. In den Jahren 1884 bis 1920 hat es ein Dutzend verschiedene Landshauptmänner, Gouverneure, kommissarische und interimistische Landeshauptmänner gegeben, die teils in Konkurrenz zueinander standen (S.280-281). Von einer regelrechten Verwaltung durch die Neuguineakompagnie konnte daher keine Rede sein (S.284). Noch dazu wurden unter vielen anderen allein zwei Adelige, der Kommissarische Landeshauptmann Curt v.Hagen (gestorben 1897) und der Stationschef von Hatzfeldhafen Bodo v.Moisy (1891) [175] ermordet (S.281 u.289-290). Auffallend ist, daß mehrfach im Zusammenhang mit dem deutschen
Adel pauschal von "ostelbischen Junkern" und "Junkern" gesprochen wird
(S.17 u. 299). Mit Rudolf v.Bennigsen, einem Nationallieralen (sic!), endete
1902 angeblich "die Politik der Junker und Adeligen" in Neuguinea (S.299),
wobei diese etwas gewagte Aussage revidiert werden müßte, da
"die Junker" traditionell nicht nationalliberal, sondern deutschkonservativ
gesinnt waren. [176] Rudolf v.Bennigsen gehörte nicht einmal dem alten
preußischen "ostelbischen" Adel an, sondern entstammte einem niedersächsischen
welfisch orientierten Uradelsgeschlecht. [177]
Auch läßt sich die Behauptung des Verfassers, in diesem Fall ist es der gleichzeitige Herausgeber Prof. Dr. Hiery, mit v.Bennigsen sei die Herrschaft des Adels beendet gewesen, nicht aufrechterhalten, da bis zur Amtszeit v.Bennigsens als erster Gouverneur von Neuguinea nicht ausschließlich Adelige die Spitze der Verwaltung gebildet hatten (sondern vielmehr in der Minderzahl gewesen sind, siehe S.17 u. 280-281). Von einer "Herrschaft des Adels" kann schon gar nicht gesprochen werden, da außerdem die von der Handelskompagnie angestellten Landeshauptmänner oftmals schwere Konflikte mit den staatlichen Gouverneuren auszutragen hatten und es daher schwer war, sich autoritär durchzusetzen (S.280). Der Adel besaß ohnehin keine große zeitliche Möglichkeit, sich in der Südsee auszubreiten. Denn das Ende der deutschen Schutzgebiete im Pazifik war bereits 1914 gekommen. Im Prinzip schon vorher in ihrer Bedeutung nicht sehr hoch eingeschätzt, wurden sie vom Reichskolonialamt fallengelassen. Eine wirksame militärische Verteidigung bestand ohnehin nicht, nur eine Polizeitruppe, die jedoch nicht auf militärische Aktionen vorbereitet war. Neuguinea erreichte die Nachricht des Kriegsausbruchs erst am 5.August 1914. Es spielten sich geradezu skurrile Szenen ab: Am 11.September 1914 fand die einzige Kriegshandlung in der deutschen Südsee statt. Man hub unter Leitung eines Leutnants der Reserve einen Schützengraben zur Verteidigung der Funk(en)station Bitpapka aus und bekämpfte eine zwanzigfache Übermacht aus Australien (S.812-813), wobei viele Melanesier fielen. Abschließend sollen noch einige Bemerkungen zum handwerklichen Teil des Gesamtwerkes gemacht werden. Das Register (S.867-880) ist - was nicht weiter erläutert wird - ein kombiniertes Sach-, Personen- und Ortsverzeichnis, was man erst bei der Benutzung feststellen kann. Für den Fremdbenutzer, der nicht unbedingt Namen von Personen und Orten unterscheiden kann, ist dies Register daher etwas mühselig zu benutzen, Abhilfe hätte hier entweder eine entsprechende Kennzeichnung bewirkt oder aber ein extra angelegtes Orts- und Landschaftsregister. Zudem ist das Personenverzeichnis leider nicht vollständig, denn es umfaßt weder den starken Bildteil (an Adeligen fehlen: Curt v.Hagen [Bild 26], Rudolf v.Bennigsen [Bild 33], Frhr.v.Buttlar [Bild 107], Felix Graf Luckner [Bild 115]) noch schließt es alle Personen ein, die im Haupttext vorkommen. Beispielsweise fehlt Harald v.Denfer im Register auf S.869 beim Buchstaben "D" mit einem Hinweis auf das Vorkommen auf S.454 im Haupttext, ein Graf v.Spee als Schiffskommandant aus dem ersten Weltkrieg auf S.878 mit einem Verweis auf die Haupttextseiten 193 und 834, ein Herr v.Tyszka auf S. 879 mit einem Verweis auf die Haupttextseite 654, der Arzt Marcell v.Lukowicz auf S.873 mit einem Verweis auf den Haupttext S.436 oder der Offizier v.Klewitz im Register auf S.872 beim Buchstaben "K" mit einem Hinweis auf das Vorkommen auf S.809 im Haupttext. Die hierdurch vermutbare Spekulation, daß Personen aus den Zeittexten (wie der genannte Offizier) nicht mit ins Register aufgenommen wurden, scheint nicht zuzutreffen, denn andererseits ist auch Bodo v.Moisy im Register auf S.874 mit seinem Vorkommen auf S.289 im Haupttext verzeichnet. Eine Erläuterung, warum einige Personen nicht aufgenommen wurden oder nach welchem System (erkennbar ist keines!) [178] überhaupt die Registererstellung vorgenommen wurde, vermißt der Rezensent. Durch die Erläuterung der Systematik hätte man als Benutzer eine Richtlinie besessen, mit welchen Zugängen man außerhalb der (erwiesenermaßen mangelhaften und leider uneinheitlichen) Registerführung noch zu rechnen gehabt hätte. Dennoch ist namentlich die Anfügung verschiedener Stichworte im Sachverzeichnis sehr hilfreich, wenn man einen thematischen Zugang zu bestimmten Themen sucht, die über die Überschriften nicht ohne weiteres erkennbar sind (beispielsweise "Muschelgeld", "Mission", "Geschlechtskrankheiten" et cetera). Weiterhin nachteilig sind namentlich bei den großen Aufsätzen die fehlenden konkreten Quellenangaben. Der Verzicht des Herausgebers auf Fuß- oder Endnoten wird leider nicht kompensiert durch die (verdienstvolle!) annotierte Bibliographie jedes Autors zu seinem Thema. Wo einzelne Behauptungen oder Feststellungen entnommen sind, ist auf diese Weise manchmal schwer zu klären und bedarf für den selbst Weiterforschenden erheblicher erneuter Mühe, die vom Verfasser des betreffenden Artikels schon einmal geleistet worden ist. Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Verfasser der Artikel, die man jetzt noch fragen kann, einem hier sicher weiterhelfen werden (allerdings muß man zunächst einmal deren Adresse und Kontaktmöglichkeiten eruieren), doch ist dies noch in 20 oder 30 Jahren der Fall? So wird der Benutzer, der selbst nicht vertraut in der Materie ist, mit einer angenommenen Selbstverständlichkeit vor eine große Menge von Quellen gestellt, aus der er sich zunächst mühselig diejenige heraussuchen muß, die speziell das enthält, was er sucht; ein Direktzugriff auf bestimmte Umstände ist also mit einem großen Aufwand verbunden. Der Grund hierfür ist dem Rezensenten nicht bekannt, aber da es sich um ein wissenschaftliches Buch handelt, das eben gerade nicht nur für die Fachleute selbst, sondern für ein breites wissenschaftliches gebildetes rezipierendes Publikum gedacht ist, wäre hier eine Fußnotenpraxis angebracht gewesen. Warum darauf verzichtet wurde, geht aus dem Vorwort bedauerlicherweise nicht hervor (S.XVII). Möglicherweise sind diese Versäumnisse auch der raschen Produktionsweise des Handbuches anzulasten, da seitens des Herausgebers mehrfach betont wird, daß das Werk möglichst schnell auf den Markt kommen sollte (S.XV u. XVIII), obgleich das Handbuch selbst seit 1990 eine jahrelange und daher gründliche inhaltliche Vorbereitung in Anspruch genommen hat (S.XV) und nun ja auch bereits in zweiter durchgesehener Auflage erschienen ist. Trotz dieser handwerklichen Mißstände muß das Werk doch sowohl in seiner Konzeption als auch in seiner Qualität als ein hervorragendes Nachschlagewerk und Lesebuch bezeichnet werden. Durch seine Multiperspektivität wird es außerdem den seit den 80er Jahren an die Geschichtswissenschaft gestellten Anspruch an eine stärkere Ausrichtung auf die kulturgeschichtlichen Bereiche gerecht und kann daher zu Recht den Titel eines "Handbuches" beanspruchen. Der dargebotene Inhalt rechtfertigt den stolzen Preis von 99 Euro, zumal Beiträge in dem Werk enthalten sind, die eben nicht nur für spezialisierte Geschichtsinteressierte und Fachleute geeignet sind, sondern einen thematisch sehr breit gefächerten Zugang ermöglichen. Wenn auch diese oder jene Themen noch einer Forschungsklärung bedürfen, so ist es doch gerade das Verdienst des vorliegenden Werkes, daß es dazu anregen kann, Desiderata aufzuarbeiten. Die ersten wichtigen Grundlagen sind mit diesem Südsee-Kompendium gelegt. Es ist übrigens durchgehend in deutscher Sprache erschienen, weil nicht nur das Thema an sich die "deutsche" Südsee ist, sondern der Harausgeber lobenswerterweise auch betont, daß er das Deutsche als Wissenschaftsprache fördern möchte (S.XVI). Ein komplettes Online-Inhaltsverzeichnis des gesamten Handbuches [179] findet man übrigens im Internet. [180] Und noch etwas Positives: Fragen und Anregungen, aber auch Kontaktaufnahmen zum Herausgeber des Werkes, Prof. Dr. Hermann Hiery, der weiteres Material von Nachkommen ehemaliger "Südseedeutscher" sucht, sind über die im Buch abgedruckte Postanschrift (S.880) und die eMail-Adresse neueste.geschichte@uni-bayreuth.de möglich und erwünscht. Bei welchem geschichtlichen Werk findet man schon solche Nähe zwischen den Autoren und deren Rezipienten? Diese Rezension von Claus Heinrich Bill erschien zuerst in der Zewitschrift Nobilitafs für deutsche Adelsforschung in Folge 25 (2003), Seite 1276-1283 Annotationen:
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