Institut Deutsche Adelsforschung
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Einige Sternstunden der Soziologie

Vorstellung eines annotierten Readers zu den Klassikern

Im Jahre 1846 veröffentliche die Zeitschrift Der Volksfreund eine Anekdote über den osmanischen Sultan Bajezid I. (1360-1403), der zuletzt, nach der verlorenen Schlacht bei Ankara, in mongolische Gefangenschaft geraten war, in der er auch verstarb. Sein Besieger war der Kriegsherr Tamerlan (1336-1405), der ebenso ein grausamer wie gebildeter Protagonist eines großmongolischen Reiches war. Dazu hieß es im Volksfreund: „Der Sultan der Osmanen, Bajazeth, hatte noch keinen Sieger gefunden, als der Herr der Zeit aus der Mongolei gegen ihn zog. Es galt die Welt zu erobern und so standen denn Millionen gegen Millionen. Es gab eine heiße Schlacht zwischen den geübten Streitern. Die Mongolen hatten schon 26 Kronen erbeutet; die Osmanen hatten von den europäischen Fürsten die Kunst zu siegen gelernt. Morgens begann die Wette; wer von Beiden der einzige Herrscher auf Erden sein werde, und Abends war es auch entschieden - Bajazeth war gefangen, der große Wolf hatte sein Heer zerrissen.

Tamerlan ließ den Besiegten bringen und labte sich am Anblick seines Feindes. Die Lust des befriedigten Stolzes machte ihn guter Laune, und er wollte scherzen mit dem starren, finster[e]n Bajazeth. Er erzählte ihm von seinen Siegen in Indien, sagte ihm seine Pläne über die Eroberung des chinesisches Reiches und fragte ... zuletzt, wozu denn Bajazeth den Sieg benutzt haben würde, wenn die Mongolen überwindlich [gewesen] wären? Ob er vielleicht Ackerbau, Gelehrsamkeit oder Religionen nach der Mongolei bringen wollte? ... 

Jetzt hob Bajazeth den gebeugten Nacken stolz empor und sagte: `Wenn Du in meine Macht gefallen wärst, so hätte ich Dich in einen eisernen Käfig stecken und in meinen Saal wie einen wilden Wolf stellen, oder wie einen seltenen Singvogel aufhängen lassen´. `In einen Käfig!´, schäumte der ergrimmte Mongole. `Ich hätte Dich zu nichts Besserem verwenden können, merkwürdiger Mann. Da hätte ich Dich denn genährt mit Knochen wie einen Hund, daß Du nicht gestorben wärest und gebrüllt hättest vor Hunger, Du Beherrscher der Erde. Nur dann steht man hoch, wenn das Höchste noch tief unter den Fußsohlen liegt.´ 

Tamerlan ließ [daraufhin] einen eisernen Käfig bauen und den Sultan hineinsperren. Er ließ das Vogelhaus in dem Gemache, wo er Tafel hielt, aufhängen, und während ihn Bajazeths  Gemahlin im Sclavenkleide leckere Speisen zu reichen gezwungen wurde, warfen andere Sclaven dem Gefangenen im Käfig Knochen vor. `Ich habe Deinen Rath befolgt," sagte der Mongole mit lachender Schadenfreude; `nun nage Knochen und brülle vor Hunger das Triumphlied meiner Größe.´ `Weiß die Welt, daß diese Behandlung Dir zugedacht war?´, fragte Bajazeth.`Es erhöhte meine Lust an Deiner Qual, daß ich es ihr sagen konnte´, entgegnete Tamerlan. Noch einmal hob sich des Sultans Blick und strahlte mit hohem Selbstbewußtsein: `Ich bin zufrieden mit Dir, Eroberer der Welt. Was ich dachte, was ich sagte, hast Du gethan, wie ein tüchtiger Handwerker, dem Plane des Meisters getreu, baut, wie jener will; ausführt, was jener sagt, nachahmt, was der Verstand erfunden hat. Du kannst ein dienstfertiger Sclave sein, aber zum Handeln und Herrschen fehlen Dir die freien Gedanken.´ 

Dieß sagte Bajazeth, kauerte nieder auf den Boden seines Käfigs, redete nicht mehr und aß nicht mehr. Der Mongole ging still von dem stolzen Gefangenen weg und fragte nicht wieder nach ihm, obgleich er seine letzten Worte nie vergessen konnte.“ (Fernand: Bajazeths letzte Worte, in: Der Volksfreund, Ausgabe ? 93 vom 22. August 1846, Seite 371-372)

Was hier geschildert wird, freilich in literarischer Freiheit und Transformation, waren zahlreiche soziale Interaktionen der besonderen Art, die sich in vielen Phänomenen sowohl als Untersuchungsgegenstände der Sozialpsychologie als auch der Soziologie widerspiegelten. Tamerlan und Bajezid symbolisieren füreinander das jeweils Andere, den Fremden, den Dritten, die Omegaposition in der eigenen Gemeinschaft, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, den Gedanken der eleganten Frugalität mit der demonstrativen Vergeudung von Ressourcen bei Tamerlans Mahl, Lehrstücke über Macht und Herrschaft durch Gewalt, aber auch über den Matthäuseffekt. 

Alles dies sind soziologische Phänomene, die sich als Klassiker der Gesellschaftswissenschaft etabliert haben, gleichwohl aber nur verstreut in der Fachliteratur anzufinden sind. Sighard Neckel, Ana Miji?, Christian v.Scheve und Moinca Titton haben sich nun daran gemacht, einen Reader herauszugeben, den der Campusverlag in Frankfurt am Main bereits 2010 herausgegeben hat, auf den wir aber dennoch hier, wenn auch mit einiger Verzögerung, aufmerksam machen wollen, weil er nicht nur für die Erforschung sozialen Handelns Bedeutung besitzt, sondern auch namentlich für die Adelsforschung nutzbar gemacht werden kann.

Von ihrer Grundanlage her sind Reader nun nicht gerade originäre Literatur, sondern lediglich eine Kompilation von Originaltexten mit der Absicht, sich forschungsnah verschiedene Positionen anzueignen. Insoweit wäre dieser soziologische Reader nicht weiter bemerkenswert, wenn er nicht jeweils annotiert worden wäre. 
Der Paperbackband mit dem Titel Sternstunden der Soziologie. Wegweisende Theoriemodelle der soziologischen Denkens behandelt auf 501 Seiten für 24,90 Euro insgesamt 21 Theorien, die stets gleich aufgebaut wurden. 

Zuerst wird jeweils ein einleitender aktueller Aufsatz zur Theorie benannt, in der die Bedeutung der Theorie in der Forschung und damit eine Bewertung ihrer Nütz- und Brauchbarkeit dargelegt wird. Sodann folgt der Verweis mit jeweiliger Forschungsliteratur und dann zuletzt der jeweilige Originaltext in Abschrift. Diese 21 theoretischen Ansätze befassen sich eben unter anderem mit den erwähnten oben bei Tamerlan und Bajezid erwähnten Phänomenen, die nicht immer auf den ersten Blick verständlich erscheinen. Daß nach dem Tocquevilleprinzip (Seite 380-393) beispielsweise Revolutionen vor allem dann befördert werden, wenn die Altherrschaft Reformen zuläßt, leuchtet nicht unmittelbar ein. 

Denn Herrschaftsinhaber lassen Reformen zumeist in dem Bestreben zu, einer revolutionären Bewegung die Spitze der verändernden Kraft zu brechen und die Massen zu beruhigen. Tatsächlich befördern sie aber, so die empirische Erkenntnis, den Fortgang der Revolution, auch wenn in komplexen Systemabläufen wie einer politischen Revolution sicher nicht stets die Kausalkette so schlicht konstruiert werden kann (und es sich also um probabilistische Theorie, wie immer in den Geisteswissesnchaften, handelt). Dennoch gilt im Beispiel: Gerade die Reform der Reiseerleichterung im November 1989 und die Art der Bekanntmachung durch das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski löste die letzte deutsche Revolution aus, die zum Zusammenbruch der DDR führte, zur Abstimmung mit den Füßen. Und: Dieses an sich paradoxe Prinzip hatte einst Alexis de Tocqueville (1805-1859) entdeckt, doch es gilt bis heute.

Ein anderes soziologisches Phänomen ist der Matthäuseffekt, der in dem Sammelband ebenfalls behandelt wird (Seite 448-477) und zwar in Hinblick auf die Effektfolgen in der Wissenschaft. Dessen Grundsatz lautet gemäß dem Bibelzitat: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ (Matthäus, Kapitel 25, Vers 29) und kann auch auf Sozialitäten übertragen werden. Dabei geht es in dem Aufsatz speziell um Zitierkartelle unter Wissenschaftlern, den über Fußnotenerwähnungen ausgetragenen Konkurrenzkampf durch geschicktes Agenda-Setting, aber auch um die bewußte Exklusion nonkonformer Ansätze, die ignoriert werden, um die eigene Gruppenidentität zu stärken (übrigens eine latente Folge sozialen Handelns). Daraus folgt auch das Fazit des Verfassers des Artikels, daß die schärfste Waffe in der Wissenschaft nicht etwa das Mißbilligen der Thesen eines Autors sind, sondern die Nichtwahrnehmung seiner Schriften und damit seiner Existenz, ein Mittel, das auch heute noch durchaus beliebt ist und sich in elfenbeintürmerischen Tendenzen immer wieder derselben Cliquen und ihrer Clan-Mentalität von Gruppen von Forschenden mit gleichen Themen zu äußern vermag. Dies läßt den Schluß zu, daß es bisweilen mit dem reichlich konstruktiven Charakter mancher Forschungsarbeiten mehr um die Anhäufung von Prestige innerhalb der Eigengruppe geht als um eine Forschungsarbeit, die ausschließlich der wissenschaftlichen Erkenntnis halber entstehen würde. Freilich lassen sich die Motive hinter derartigen Machwerken schwerlich ent- und aufdecken, aber die Anlage der ewig gleichen Zitierzirkel, die hermetisch gegen das (vermeintlich als feindlich empfundene) Außen abgeriegelt werden, läßt Rückschlüsse darauf zu, in welcher Verfassung mancher Wissenschaftsbereich steht und wie sehr es um Verteilungskämpfe geht, um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, die allein durch die Fußnotenquantität und die Zitierhäufigkeit entschieden wird: Das unsägliche Prinzip des Rankings und des Prestiges sind eben bedauerlicherweise auch in der Wissenschaft vielfach wirksam.

Doch zurück zu dem Sammelband. Ergänzend zu der gedruckten Darstellung mit vielen anderen Einbettungen diverser soziologischer Modelle findet man außerdem verlagsseitig eine eigene Webseite zum Buch mit einem Blog zum Diskutieren unter der virtuellen Adresse „www.sternstunden-der-soziologie.de“; ein angenehmer Nebeneffekt, mit dem virtuelle und materiale Welt vereint werden können. Dieses Buch ist daher nicht nur ein gewöhnlicher Reader, sondern mehr eine gelungene Sammlung bekannter, aber vielleicht auch ebenso gelegentlich abseitig gedruckter Theoriemodelle, die namentlich durch ihre Hinführungskapitel wertvoll sind. 

Und warum Bajezid und Tamerlan jeweils mit unerwünschten Folgen sozialer Handlungen, einem vom Soziologen Robert Merton (1910-2003) beschriebenen Phänomen, konfrontiert wurden? Dies kann man in dem Sammelband auf den Seiten 65-87 bei Christian v.Scheves Annotationskapitel Es kommt immer anders, als man denkt nachlesen.

Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (Jahrgang 2013) und stammt von Claus Heinrich Bill.


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