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Gentilhommeske Fremdsprachenverwendung in EuropaEine Frage adeliger Distinktion oder des Kulturinteresses?Die europäische Gentilhommerie hat als eine Art internationaler Gruppenbildung in Europan [1] immer schon mit Fremdsprachen zu tun gehabt; anders waren Kontakte zu anderen Adelsgesellschaften nicht denkbar und auch schon die Geschichte der lateinischen Gelehrtensprache, des französischen Einflusses seit Ludwig XIV., der Grand Touren, der Peregrinationen und Kavalierstouren, spricht für eine starke Globalisierung nicht nur des Hochadels, sondern auch des Hof- und Landadels, aus dem sich das Gros des diplomatischen Corps speiste. Der Fremdsprachengebrauch indes konnte im Adel durchaus unterschiedliche Motive besitzen. Anhand verschiedener historischer Quellentexte und Beispiele wird dies deutlich. Da wäre zunächst der institutionalisierte Fremdsprachenerwerb zu nennen, wie er in Schulen (nicht nur Lateinschulen), aber auch anderen Institutionen stattfand. So hieß es bei einem Anonymus (1785) zur Einrichtung eines österreichischen Damenstiftes zu Cremona in der Lombardei: „Des Kaisers Majestät haben befohlen, auch zu Cremona an einem der aufgehobenen Nonnenkloster ein königl.[iches] Damenstift zu errichten und zu begründen. Von den Damen, die allda als Kanonissinnen aufgenommen werden sollen, und deren Zahl auf zwölf beschränkt ist, muß jede wenigstens 16 Jahre zählen; die beyden Ältesten haben die Direktion des Hauses. Ihre Kleidung wird nach dem weltlichen Schnitte, aber immer schwarz seyn; von der rechten Achsel zur linken Lende tragen sie an einem weiß und roth gestreiften Bande das Wappen des Hauses Oesterreich als das Ordenszeichen. Sie müssen alle von erwiesenem Adel seyn; im Stiftshause haben sie zwey oder drey gemeinsame Säle, wo sie sich unterhalten, fremde Besuche empfangen, und wo sie Lektionen in der Musik, im Tanzen, in Sprachen etc. nehmen; sie können sich zu ihrer Bedienung gemeinschaftlich einige Kammermädchen und Diener halten und werden auch einen Wagen [für ihre Besorgungen und Wege] aus dem Hause haben. Jede erhält einen [sic!] Jahresgehalt von 3000 Lire (900 fl.), wovon sie alle ihre Bedürfnisse zu bestreiten haben; die beyden Aeltesten beziehen noch darüber eine Zulage von 100 Lire; keine kann allein ausgehen; jede muß sich den in der Stiftung angenommenen Gesetzen unterwerfen.“ [2] Hier war mithin der Fremdsprachenerwerb der gentilhommesken Stiftsdamen Voraussetzung zu ihrer Aufnahme, auch der Kontakt mit „fremden“ Besuchenden, so daß trotz der sozialen Zurückgezogenheit im Stift auch eine gewisse Weltläufigkeit im Geiste zu den Zielen weiblicher Adelsfortbildung im jungen ebenso wie fortgeschrittenen Alter gehörte. Jedoch mußte dieses institutionell geforderte und geförderte Lernen keineswegs bedeuten, daß man es zu einer Meisterschaft in der Sprachbeherrschung brachte. So kritisierte ein weiterer Anonymus (1778) den russischen Adel anhand einer biographische Skizze des russischen Dichters Sumarokow: „Unser Dichter war den 14ten November 1727 in Moskau gebohren. Sein Vater [...] war Kaiserlicher Geheimer Rath und Ritter des St. Annen Ordens, seine noch lebende Mutter […] ist aus dem adelichen Geschlecht der Priklonskoi. Seine erste Erziehung genoß er in dem Hause seines Vaters, welcher sowohl die lateinische als auch seine Muttersprache gründlich verstand und zur damaligen Zeit ein seltener Mann unter dem Adel seyn mußte, da es auch noch je[t]zt viele Edelleute unter uns giebt, die zwar fremde Sprachen ziemlich sprechen, aber weder von diesen noch von ihrer eignen Muttersprache gründliche Kenntniß haben.“ [3] Waren hier also unvollkommen beherrschte fremde Sprachen lediglich ein Prestige- und Distinktionsmerkmal, wie es auch Girtler und Veblen für spätere Zeiten als typisch für die Gentilhommerie beschrieben haben? [4] Diese positiv anzunehmenden Folgen waren jedoch nicht die einzigen Wirkungen des Fremdsprachenerwerbs. Im Gegenteil konnte fremdsprachliche Übung auch negative Folgen für die eigene Identität haben, sofern dadurch altsprachliche Fähigkeiten und Kenntnisse verloren gingen. Diesen Umstand beklagte beispielsweise Johann Graf Harrach (1909); er „äußert sich in der Prager allslavischen `Union´ über die Ursachen der `untergeordneten Stellung´ der slavischen Völker in Oesterreich-Ungarn. Er erblickt die Ursachen in der Uneinigkeit der Slaven, in der besonderen Fähigkeit der Slaven, fremde Sprachen zu erlernen, vor allem aber im Mangel eines nationalen Adels. Der Adel der Slaven sei, da die Dynastie eine deutsche ist, germanisiert worden. Wenn man die Namen des deutschen und magyarischen Adels etimologisch [sic!] prüft, so findet man, daß fast alle (?) diese Namen Spuren slavischen Ursprungs tragen. In Oesterreich und ganz Deutschland, besonders aber in Norddeutschland, sprechen noch heute die Namen des Adels, der Burgen, der Städte und Dörfer, der Wälder und Felder, der Flüsse und Bäche, der Berge und Täler für den slavischen Ursprung. Die Slaven, wohl die Ureinwohner von Europa, hatten als solche fast in allen europäischen Ländern ein ähnliches Schicksal zu erdulden, wie die Einwohner von Amerika.“ [5] Diese drei Beispiele zeigen bereits den Myrioramismus des Fremdsprachenerwerbs und -gebrauchs im Adel an. Weiter ausgeleuchtet wird die breit gefächerte Thematik nun aber auch durch einen neuen Sammelband aus der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, die Ende September 2016 eine entsprechender Tagung veranstaltet hatte, deren Redebeiträge nun in Schriftform vorliegen.6 Auch hierin wird – im Vorwort (Seite 9) – auf die Wichtigkeit des modernen Fremdsprachenerwerbs hingewiesen, war dies doch oft genug karrierefördernd für Adelige in der Frühen Neuzeit. Dabei war das von den Referent*innen der Tagung erwählte Forschungsgebiet nicht leicht zu bestellen, war doch der Erwerb von Fremdsprachen oft genug nicht primärer Gegenstand dezidierter Quellen, mußte daher hier für die Aufsätze über Quellen mit anderer Ausrichtung ermittelt werden, beispielsweise über Tagebücher, Stundenpläne, Leichenpredigten, Sprachordnungen, Hofmeisterinstruktionen, adelspädagogische Schriften und Anweisungen, Direktiven, Normen, aber auch Inventare gentilhommesker Bibliotheken. Eben diese Quellengattungen wurden von den Beitragenden reichlich genützt und sie zeigen, wie oben angedeutet, sehr unterschiedliche Facetten der Thematik an. Dort werden beispielsweise die Thesen geäußert und untermauert, daß Frauen und Mädchen vielfach auch im Adel an Fremdsprachen herangeführt wurden und sie pflegten (Seite 203-239), daß rudimentäre Fremdsprachen andererseits teils nur der Erhöhung symbolischen Kapitals dienten (Seite 75-96), daß es bestimmte Zentren des Spracherwerbs gab, in denen Adelige auf Bildungsreisen eine Landessprache erlernen konnten (Seite 33-47), daß es auch politische Implikationen des Spracherwerbs gab und damit Identitäten verbunden waren (Seite 145-162). Adelige wurden zudem auch als Dolmetscher oder Übersetzer zu „interkulturellen Interfaces“, [7] zu Mittler*innen und polyglotten Personal-Medien des Kulturtransfers. [8] So pendelte der Fremdsprachenerwerb des Adels oft zwischen dem Pragmatismus, mit dem die Hoffnung auf künftige Arbeitsplätze verbunden war, schöngeistiger Erweiterung des eigenen Gesichtsfeldes und standesgemäßem Konsum toter oder lebender Sprachen aus Gründen der versuchten Ansehensvermehrung, erstrebten Statusabsicherung und Erhaltung des „Splendor familiae“. [9] In jedem Fall war der Erwerb aber Ausdruck einer „erweiterten Bewältigungslage“ nach Böhnisch (2016), [10] in der Adelige über ihre gewöhnliche Alltagsbewältigung hinaus zu Bildung und Erweiterung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage waren. Der vorgestellte Sammelband mit seinen gemischt deutsch- und englischsprachigen Beiträgen bietet daher eine Fülle von Aspekten an, deckt auch die oben genannten Bereiche der drei Beispielfälle hinreichend ab. Umso erstaunlicher ist es, daß die Herausgebenden auf der Konstruktion der künstlichen Erzeugung einer Fallhöhe für eine lohnendere Lektüre ihrer Beiträge adelssprachlicher Formen und Absichten abzielen, weil sie im Vorwort (Seite 9) die Relevanz ihrer Tagung betonen, indem sie diese Wichtigkeit auf der unrichtigen Behauptung aufbauen, es gäbe noch keine Untersuchungen zum Themenkomlex adeligen Fremdsprachenerwerbs und -gebrauchs. [11] Diese Falschbehauptung wäre nicht nötig gewesen, da der Band ohnehin wesentlich neue Erkenntnisse zum Thema bringt. Adelige benützten Fremdsprachen daher aus vielfältigen Gründen, sei es Johann Graf Palffy (1918) aus Wien, der „wohl fast alle europäischen Sprachen sprach, aber keine vollständig beherrschte“ [12] oder Graf Dianowitsch aus Kroatien, der sein Sprachlerntalent – sicher eher untypisch für den Adel – in Alkohol umsetzte. [13] Insofern bieten sich auch in dem Sammelband zahlreiche Anregungen zu weiteren Untersuchungen über gentilhommeske Interkulturalität auf Sprachbasis, die sogar soweit gehen konnte, daß Adelige eigene Sprachen erfanden. [14] Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A. Annotationen:
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