Institut Deutsche Adelsforschung
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Soziologische Theorien als Grundlage für die Adelsforschung

Begriffe und Denkgebäude aus den Gesellschaftswissenschaften als Perspektivenerweiterung

Im Jahre 1873, einem Jahr, in dem sich die Soziologie als eigenständige Wissenschaft der Gesellschaft erst noch bilden mußte, publizierte der britische Außenseiter-Philosoph Herbert Spencer (1820-1903) eine neuartige Schrift mit dem Titel „The Study of Sociology“. Es war nach Auffassung eines anonymen österreichischen Rezensenten als „ein Vorläufer seines der Vollendung entgegengehenden Werkes ‚Principles of Sociology‘“ gedacht, [1] „bestimmt, durch die populäre Behandlung einiger Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft in weiteren Kreisen Interesse und Verständniß für dieselbe zu wecken. Daß ein Mann von der Bedeutung Spencers sich zur Popularisirung seiner eigenen Lehren herbeiläßt, kann zwar einerseits als eine bedauerliche Zersplitterung seiner kostbaren Arbeitskraft erscheinen, andererseits aber beweiset es, welch hohen Werth er darauf legt, das Terrain für das Erscheinen seines großen Werkes vorzubereiten. Die ungemein rasche Verbreitung, welche ‚The Study of Sociology‘ gefunden, mag dem Verfasser Bürge dafür sein, daß die in ihrem Complex erst kurz erstandene Wissenschaft, der er seine besten Kräfte weiht, in ihrer Bedeutung erfaßt und gewürdigt werde.

Wir wollen uns damit begnügen, nur die Hauptumrisse des Buches wiederzugeben und ein paar Stellen anzuführen, welche das Vorgehen Spencers im Aufbau seiner Theorien charakterisi[e]ren: Die Sociologie ist eigentlich nur Physiologie in weiterer Scala; wie die Physiologie die Phänomene, welche das individuelle Leben des Menschen bietet, generalisi[e]rt und erläutert, so behandelt die Gesellschaftswissenschaft das Collectiv-Leben der Menschen und Gesellschaften. In demselben Verhältniß, in dem die Medicin zur Physiologie des menschlichen Körpers [stehe], stehe Politik und Gesetzgebung zum politischen Körper oder präciser: socialen Organismus. Spencer sucht der Einwendung zu begegnen, daß die Verschiedenheit der menschlichen von der ganzen übrigen Natur den Aufbau einer Gesellschaftswissenschaft nicht gestatte. Stütze sich doch jeder Herrscher und Gesetzgeber, ja jeder Einzelmensch in der Behandlung seiner eigenen Angelegenheiten auf die Berechnung, wie sich die anderen zu dem gegebenen Fall in Beziehung stehenden Menschen zu demselben verhalten, was sie thun werden.

Eine Berechnung, die sich auf Erfahrungsprämissen aufbaut. Seien dieselben im Einzelnfalle [sic!] maßgebend, um eine fruchtbare Lehre daraus zu ziehen, so könne es nicht weniger der Fall sein, wo sie zusammengefaßt das Bild eines organischen Ganzen böten […] Ebenso müsse man aufhören, die Geschichte als ein Conglomerat von Geschehnissen zu betrachten und sie demselben Zwecke, einer Generalisi[e]rung der Erscheinungen dienstbar machen, um aus ihrem Studium den einzig wahren Nutzen zu ziehen. [2] Das Nothwendigste ist, uns möglichst genau davon zu unterrichten, was die Menschen gethan und unter welchen Umständen sie es gethan; dann mögen wir hoffen, daß es uns ermöglicht sein werde, darauf zu schließen, was sie unter Umständen, welche wir vorauszusehen vermögen, thun werden. [3] Selbstverständlich sei dies eine Methode, welche man so wenig durch Kannegießen als dem Ausspinnen einer Milleniums-Träumerei entwürdigen dürfe. Doch lassen wir Spencer seinen Jdeengang selbst illustri[e]ren.

‚Betrachten Sie einmal diese geschmiedete Eisenplatte, sie ist nicht vollkommen eben, sondern wölbt sich hier links zu einer kleinen Erhabenheit. Wie werden wir sie glätten? Indem, werden Sie erwiedern [sic!], auf diesen sich wölbenden Punkt wuchtig losgeschlagen wird. Gut denn, hier haben Sie einen Hammer, führen Sie nun den Streich, den Sie für rathsam halten. Noch wuchtiger! sagen Sie. Noch keine Wirkung. Abermals ein Schlag! Gut, da ist einer, und noch einer, und wieder einer. Die Erhöhung aber ist verblieben; das Uebel ist so groß wie vordem, ja noch größer. Das ist aber noch nicht Alles. Betrachten Sie einmal die Biegung, welche die Platte am entgegengesetzten Ende erhalten hat. Wo sie früher glatt gewesen, ist sie nun auch gebogen. Eine schöne Stümperei, die wir da zuwegegebracht [haben]. Statt den ersten Defect zu beseitigen, haben wir einen zweiten herbeigeführt. Hätten wir einen Handwerker gefragt, der im ‚Plani[e]ren‘ geübt, er würde uns gesagt haben, daß wir, indem wir auf den hervorragenden Punkt losschlagen, die Sache nur noch schlimmer machen würden.

Er würde uns gelehrt haben, wie wir an anderen Stellen wohlgezielte Hammerschläge anzubringen hätten, das Uebel nicht direct, aber indirect wirksam zu bekämpfen. Der erforderliche Proceß dazu ist eben minder einfach, als wir es uns vorgestellt. Selbst eine Metallplatte ist durch die Methodik des ‚gesunden Verstandes‘, in die wir so viel Vertrauen setzen, nicht erfolgreich zu behandeln. Und nun erst die Gesellschaft! ‚Denkt Ihr, daß ich leichter zu spielen sei als eine Flöte?‘ fragt Hamlet. ‚Soll die menschliche Gesellschaft leichter zu ebnen sein als eine Eisenplatte?‘ Und ergänzend im letzten Capitel: ‚Würde uns nicht die Erfahrung darauf vorbereiten, allenthalben bei Wesen, welche sich selbst als rationelle auszeichnen, einen gewissen Grad von Irrationalität anzutreffen, so müßte man annehmen, daß, ehe man Institutionen für Corporationen ersinnt, man die Menschen, welche dieselben bilden, erst als Individuen und dann in ihrem Verhältniß zur Allgemeinheit überhaupt studi[e]ren müsse.

Setzen Sie einen Zimmermann in eine Grobschmiede, lassen Sie ihn härten, schmieden, plani[e]ren und es wird nicht erst des Spottes der Grobschmiede bedürfen, um ihm zu zeigen, wie thöricht es ist, ehe er die Eigenschaften des Eisens kennt, es zu Werkzeugen gestalten zu wollen. Lassen Sie dagegen den Zimmermann den Grobschmied, der vom Holze im Allgemeinen nichts versteht und noch weniger im Besonderen, ausfordern, seine Arbeit zu thun, so wird er, wenn er es nicht ablehnt, sich lächerlich zu machen, zweifelsohne schief durchsägen, mit seinem Hobel stecken bleiben, seine Utensilien brechen oder sich damit in die Finger schneiden.

Allein während jedermann die Thorheit einsieht, Holz oder Eisen nützlich gestalten zu wollen, ohne während einer Lehrzeit ihre Eigenschaften und deren entsprechende Behandlungsweise kennen gelernt zu haben, sieht niemand ein, welche Thorheit es ist, Institutionen zu schaffen, welche die menschliche Natur in dieser oder jener Form modeln sollen, ohne vorgehendes Studium des Menschen oder des Lebens im Allgemeinen, welches das Leben des Individuums erläutert. Für einfache Verrichtungen bestehen wir auf sorgfältiger, jahrelanger Vorbereitung, während wir für die complici[e]rteste Function, welche selbst der Weiseste nicht entsprechend zu vollziehen vermag, keiner Vorbereitung zu bedürfen meinen.‘ Die Schwierigkeit dieser Vorbereitung ist jedoch in Spencers Studie eben so sehr hervorgehoben wie die Nothwendigkeit derselben. Ein großer Theil des Buches ist der Erwägung der verschiedenen Motive und Einflüsse gewidmet, welche die Menschen hindern, eine unparteiische Anschauung der Thatsachen zu gewinnen, auf welche das gewünschte wissenschaftliche Urtheil basi[e]rt sein müsse.“ [4]
          
Was Spencer hier als einer der Pioniere der Soziologie bewerkstelligte, war über Grundsätze nachzudenken, die das Gesellschaftsleben ausmachen könnten; er betrieb schon früh mithin soziologische Theorie als Ableitung von der Empirie, dem Beobachtbaren, als Abstrahierung, um allgemeine Gesetze zu finden, Theorien, die das Gesehene erklären, beschrieben und vereinfachen, möglicherweise sogar auf soziale Gesetze zurückführen könnte. Manches, was bei ihm anklang, ist heute noch nachvollziehbar, trotz großer Ausdifferenzierung der Soziologie, manche seiner Auffassungen waren auch weniger anschlußfähig. Daß man aber wie ein Handwerker lernen müsse, Soziologie zu treiben, dürfte einer der bleibenden Erkenntnisse sein, die auch aktuell nicht an Bedeutung verloren haben. Dies gilt namentlich für die Adelsforschung als eine „natürlich“ erscheinende Allianz – man könnte auch sagen: als im Grunde eine unauflösliche Melange – aus der Betrachtung eines historischen Gegenstandes, der zugleich eine heterogene soziale Gruppenbildungen war. [5]

Hierbei spielen Theorien eine große Rolle, um vertieft über die ebenso faszinierende wie randständige Sozialgruppenbildung der Gentilhommerie und insbesondere der Gentilhommisierung – der historischen Erzeugung von Adel – nachzudenken. Bis heute ist soziologische Theorie ohnehin ein wichtiger Bestandteil soziologischer Forschung, auch zu Zeiten der Bindestrichsoziologien, der Fachsoziologien, der weit ausdifferenzierten Forschungslandschaft, die mittlerweile weltweit besteht. Zwei nicht unbedeutende Beiträge leistet dazu auch der Verlag Philipp Reclam Junior mit seinen kleinformatigen gelben Bänden, den Reclamheften. Hier sind zwei dieser Hefte, die man ihres Umfangs halber aber doch gern auch bereits als (wenn auch kompakte) Bände bezeichnen darf, zu besprechen. Es handelt sich um zwei Neuerscheinungen aus der Reihe „Reclam Premium“, deren Merkmale allerdings auf der Verlagswebseite unter den „Reihen“ nicht weiter erklärt und nicht einmal als Reihe benannt wird. [6] Man ist also auf Mutmaßungen angewiesen, woraus die „Premiumausgabe“ eigentlich konkret besteht. Rein äußerlich wird man vermuten dürfen, daß die Hefte umfangreicher sind, außerdem scheinen sie in einem festeren ebenso wie glänzenden Karton eingebunden.

Die zwei angerissenen Bände behandeln ähnlich und sich ergänzende Theoriebestandteile der Soziologie. Der erste Band im Format von 9,6 × 14,8 cm wurde von Alexander Bogner verfaßt und trägt den Titel „Soziologische Theorien. Eine kurze Einführung“, erschien 2023 im erwähnten Verlag Philipp Reclam Junior in Stuttgart, umfaßt 232 Seiten, kostet im virtuellen wie analogen Buchhandel  9,60 Euro und trägt die internationale Standartbuchnummer „978-3-15-014362-9“. Der zweite Band dagegen mit dem Titel „Grundbegriffe der Soziologie und Sozialtheorie“ wurde von Sina Farzin und Stefan Jordan herausgegeben, erschient ebenfalls in Klappenbroschur im Format 9,6 × 14,8 cm, besitzt 359 Seiten und ist unter der internationalen Standartbuchnummer „978-3-15-014363-6“ um den Preis von 12,80 Euro erwerbbar; er erschien im Jahre 2024.

Da die Erscheinungsjahre als relativ aktuell gelten dürfen, darf man neueste Erkenntnisse der Forschung, gut aufbereitet, erwarten. Ist dies indes der Fall? Der erstgenannte Band zu den soziologischen Theorien bietet eine Auswahl aus Ansätzen, die in jeweils kompakten Artikeln vorgestellt werden, in denen die Grundzüge der Theorien gut erklärt werden. Sowohl spezielle Literaturnachweise in den einzelnen Artikeln als auch eine Literaturliste mit weiteren bibliographischen Hinweisen ermöglichen zudem einen raschen Zugriff auf die Originaltexte und soziologische Einführungswerke. Es werden in dem Band nach einem einleitenden und überaus sinnreichen Artikel über die Thematik „Wozu Theorie(n)?“ sieben verschiedene Theorien, aber auch Theorienfamilien verhandelt. An Einzeltheorien sind dies die Luckmann-Berger‘sche Wissenssoziologie, die Adorno-Horkheimer‘sche Kritische Theorie der Frankfurter Schule, die Latour-Akrich‘sche Akteur-Netzwerk-Theorie und die Luhmannsche Systemtheorie. Die Theoriefamilien finden Darstellung in Form der Modernisierungstheorien, der Feminismustheorien, der Institutionentheorie, etwas verloren in der Systematik folgt dann ein Kapitel über „Das geschichtsphilosophische Erbe der Soziologie“ und ein Kapitel „aktuelle[r] Kapitalismuskritik“. Beide letztgenannten Artikel passen nicht recht in einen Band mit Theorien, weil hier nicht bestimmte Theorien im Mittelpunkt stehen oder erläutert werden, sondern mithilfe unterschiedlicher Theorien Sachfragen wie die „Liebe im Kapitalismus“ oder der „Akademiker-Kapitalismus“. Auch das Kapitel über die Geschichtsphilosophie ist weniger ein Theoriekapitel denn mehr als eine Erläuterung der Hinführung zur soziologischen Denkform über Voltaire, Kant, Hegel und Fichte zu verstehen. Das ist nicht zwangsläufig verkehrt, aber kommt unerwartet in einem Werk, dessen Titel „Soziologische Theorien“ heißt.

Man kann mithin nicht sicher und zweifelsfrei erkennen, weshalb diese beiden Abschnitte aufgenommen worden sind. Es handelt sich bei dem Band daher nicht allein um „eine kurze Einführung“, sondern richtigerweise um eine um sonstige Belange supplementierte Einführung. Der – oben schon erwähnte – vorangestellte Aufsatz „Wozu Theorie(n)?“ beschreibt zwar auch nicht einzelne Theorien, ist aber als Einleitungsaufsatz sehr gelungen. Hier wird einem noch einmal ins Gedächtnis gerufen, daß Theorien bis zur Falsifikation als vorläufig gelten dürfen (Seite 21-23), daß ihre Weiterentwicklung der „dauernden Korrektur zu kurz greifender Erklärungen“ (Seite 23) folgt, obschon die angerissene Poppersche Art der Theorieprüfung in einzelnen Fällen kompliziert zu bewerkstelligen wäre. So läßt sich der Bildungserfolg von Kindern überwiegend auch an der Herkunft aus entsprechendem Elternhaus festmachen, soziale Durchlässigkeit besteht indes gleichwohl bei einzelnen Aufsteigern, die bestimmte Gelegenheiten nutzten und eigene Fähigkeiten entwickelten, bei nichtakademischem Elternhaus einen akademischen Habitus erstreben. Deswegen aber ist der Effekt der Selektion nach Herkunft gleichwohl im überwiegenden Maße eruierbar, [7] ohne daß durch derlei Einzelfälle die Theorie dieses Zusammenhangs als falsifiziert angesehen werden müßte.

Im Einleitungsteil des Bandes, um darauf zurückzukommen, werden nun Fragen verhandelt wie die, was das Theoretisieren in der Soziologie bedeuten kann.  Auch die drei Arten von Theorien werden erläutert, die in der Soziologie derzeit üblich sind: Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsdiagnosen und Sozialtheorien (Seite 13-15). Ebenso wird die provokante These von Thomas S. Kuhn (1922-1996), Wissenschaft brauche ein Verständnis über einheitliche Grundlagen und allseitig anerkannte gemeinsame Paradigmata, behandelt (Seite 10); eben jene seien aber in der Soziologie nicht vorhanden, da man sich beständig über eine Neuorientierung und Auslegung des Sozialen streite. Die ungeheure Produktivität der Soziologie, sich selbst fortlaufend neu zu erfinden, kann zwar, wie bei Kuhn, negativ gesehen werden, bietet aber auch Chancen auf grundlegend neue Perspektiven, denkt man hier beispielsweise an die revolutionäre „Kritische Theorie“ oder die Dinge und Symbole einbeziehende „Akteur-Netzwerk-Theorie“, schließlich auch die Praxis- oder Ereignistheorie. [8] Etwas holprig sind die Übergänge von einem zum nächsten Theoriekapitel gestaltet (Seite 89, 131, 152), obschon es dieser künstlichen Übergänge an sich nicht bedurft hätte. Zu bemerken ist fernerhin, daß die Texte, trotz des relativ aktuellen Erscheinungstermins von 2023 schon wieder historisiert sind; bemerklich ist dies an dem Umstand, daß darin Entitäten als „aktuell“ besprochen, selbst wenn sie derzeit gar nicht mehr existieren, so die Covidpandemie (Seite 161) und die sächsische soziale Bewegung der Pegida.

Für die Adelsforschung ist der Band insgesamt jedoch als fruchtbar zu bezeichnen, kann man mit ihm doch in der Heranführung auf unterschiedliche Blickwinkel Adel auch sehr differenziert betrachten, mal als System, mal als Klasse, mal als Gruppe, mal als Herrenschicht. Abseits entsprechender seltener dezidiert soziologischer Studien zum Adel [9] wäre es erfreulich, die Adelsforschung auch mehr soziologisch auszurichten, nicht allein über den Bourdieuansatz mit seinen Kapitalsorten, der schon recht gut in der Adelsforschung verbreitet ist. [10] Der kleine Band ist daher vor allem monodisziplinär arbeitenden Historiker:innen und Studierenden zu empfehlen, kann aber auch zur Hand genommen werden, um in Zeiten der Erfordernis der Kenntnis großer Textmengen einen knappen und gut zusammengefaßten Überblick des österreichischen Autors der Universitäten Wien und Innsbruck zu verschaffen, dessen hier besprochenes Buch zudem noch, im Gegensatz zu leicht erreichbaren KI-Zusammenfassungen, fachlich versiert und exakt zitierbar ist.

Damit sei übergeleitet zum zweiten Bande, zu den „Grundbegriffe[n] der Soziologie und Sozialtheorie“. Der Band ist zwar 2024 erschienen, jedoch handelt es sich um die Neuausgabe einer Vorgängerausgabe aus dem Jahre 2008, ergänzt lediglich um bibliographische Daten zu mittlerweile neu erschienener Forschungsliteratur. Aktuell ist der Band damit nicht, immerhin fast 20 Jahre alt. Das ist indes insofern zunächst nicht problematisch, als es sich bei den 100 aufgenommenen Lemmata um Grundlagen handelt, die in ihrer Bedeutung nicht allzu rasch verjähren. Auch wurden schon einige Begriffserläuterungen in andere Handbücher übernommen, so daß eine Neuauflage insofern gerechtfertigt gewesen ist, als der Band selbst zur weitgehend anerkannten Grundlage weiterer Ausarbeitungen geworden ist. In der Quantität handlich, praktisch, leicht, steht der gelbe Hochglanzband zwischen dem nur über kleinere Artikel verfügenden Benkel-Lexikon der Soziologie [11] und dem Begriffeband von Endruweit, der seinerseits rund 290 etwas umfangreichere Artikel aufweist. [12] Der Zugriff auf kurz ebenso wie prägnant formulierte Artikel macht den Band zu einem gern herangezogenen sowie handlichen Nachschlagewerk. Ab und an macht sich jedoch der ältere Forschungsstand bemerkbar; so beim Lemma „Akteur“, der die Akteur-Netzwerk-Theorie und die an Handlungen beteiligten Dinge nicht kennt, auch nicht den Begriff „Aktant“. [13]

Veraltet ist auch der Artikel über die „Sozialtheorie“ (Seite 260-264), da hier zwar auf den Streit zwischen Mikro- und Makroperspektiven sowie System- (auch: Struktur-) und Akteurstheorien hingewiesen worden ist, allein aber die Synthese daraus, die die dichotomistischen Ansätze miteinander versöhnende Praxistheorie, als resümierende Herangehensweise an einen sozialen Forschungsgegenstand leider nicht benannt worden ist. Eine ähnliche Rückschrittlichkeit ist auch im Artikel zum „Subjekt“ zu verzeichnen; hier wird nicht auf die naheliegende Weiterentwicklung des Subjektbegriffs zum „Sobjekt“ verwiesen, [14] obschon in dem Artikel selbst explizit konstatiert worden ist, daß mit dem Begriff auch Entitäten gemeint seien, die sich Strukturen unterwerfen müßten (Seite 288), mithin nicht allein als eine Entität zu verstehen wäre, die allein aus sich selbst heraus handeln würde.
Dennoch kann gerade auch die soziohistorische Adelsforschung von dem kleinen Lexikon profitieren; ebenso wie beim ersten vorgestellten Band enthält des vorliegende Werk etliche Anregungen, die noch einer Umsetzung in der interdisziplinären Betrachtung der Gentilhommerie harren. Dazu gehört nicht nur ein so offensichtlich adelsaffines Lemma wie „Macht und Gewalt“ (Seite 169-171) mit einer Typologie von vier Grundtypen der autoritativen, der aktionistischen, instrumentellen und der artefaktisch „datensetzenden“ Macht.

Nachteilig freilich ist an der im Band vorgenommenen näheren Definition des Begriffes, daß hier Macht stets als Ohnmacht und Unfreiheit auf der einen Seite sowie Freiheit auf der anderen (Herrschenden-) Seite verstanden wird. Daß es auch freiwillige Einrichtungen von Machtübergaben, z.B. im Spätmittelalter durch friesische Landesgemeinden, die sich unter den Schutz eines „Häuptlings“ stellten, gab, wird damit ausgeblendet. [15] Indes sind auch die beiden Lemmata „Lebensstile“ (Seite 166-169) und „Habitus“ (Seite 98-100) einschlägig für die Adelsforschung, freilich auch das veraltete Lemma „Gruppe“ (Seite 96-98), weil diese Formulierung einen statischen Begriff suggeriert und besser von „Gruppenbildung“ die Rede wäre, denn mit Latour kann der konstruktivistische Grundsatz gelten, „daß soziale Aggregate nicht Gegenstand einer ostensiven Definition“ sein könnten, „sondern nur einer performativen Definition“, denn „sobald man aufhört, Gruppen zu bilden und umzubilden, gibt es keine Gruppen mehr“. [16] Aber auch eher nicht gleich eingängige Begriffe wie „Raum“ (Seite 232-234) oder „Zeit“ (Seite 336-339) lassen sich für die Forschung zur historischen Aristokratie gut fruchtbar machen. [17]

Inhaltlich wurden außerdem sowohl Forschungsrichtungen (z.B. „interpretative Soziologie“) als auch Theorien (z.B. „Symbolischer Interaktionismus“) und Begriffe (beispielsweise Alltag, Medien, Struktur) aufgenommen. Trotz einiger Mängel, vor allem beruhend auf veralteten Forschungsständen, bieten die „Grundbegriffe“ dennoch insgesamt aber ein für thematische Einstiege gutes Lexikon, um sich erste Überblicke zu verschaffen, aber auch ein geeignetes Werk, um sich konzise und bewährte Begriffserläuterungen und Definitionen für eigene Forschungen zu extrahieren.  Beide Bände sind daher geeignet, als Werkzeug zu dienen, um die einst von Spencer angedachten „wohlgezielten Hammerschläge“ auszuführen und um das Verhältnis zwischen den Individuen einerseits und der Gemeinschaft oder Gesellschaft andererseits näher zu eruieren.

Diese Rezension stammt von Dr. Dr. Claus Heinrich Bill und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Zu den Annotationen: 

1 = Herbert Spencer: A system of synthetic philosophy, Band VI (The principles of Sociology), London: Williams & Norgate 1876, VIII und 797 Seiten mit 17 Blatt. In deutscher Sprache erschienen unter Heinrich Marquardsen (Herausgebender): Einleitung in das Studium der Sociologie von Herbert Spencer (autorisierte Ausgabe nach der zweiten Auflage des Originals), Band I, Leipzig: Brockhaus 1875, VI und 264 Seiten (Band XIV der Schriftenreihe „Internationale wissenschaftliche Bibliothek“) sowie  Heinrich Marquardsen (Herausgebender): Einleitung in das Studium der Sociologie von Herbert Spencer (autorisierte Ausgabe nach der zweiten Auflage des Originals), Band II, Leipzig: Brockhaus 1875, 272 Seiten (Band XV der Schriftenreihe „Internationale wissenschaftliche Bibliothek“).

2 = Dem widerspricht indes neuerdings die Ereignistheorie; siehe dazu Frank Hillebrandt: Ereignistheorie für eine Soziologie der Praxis. Das Love and Peace Festival auf Fehmarn und die Formation der Pop-Musik, Wiesbaden / Heidelberg: Springer VS 2023, VIII und 365 Seiten.

3 = Von dieser Hoffnung, soziale zukünftige Erscheinungen regelgeleitet vorhersehen zu wollen, ist die Soziologie wieder abgekommen; sie verfolgt keine kybernetische Perspektive mehr.

4 = Nomen Nescio: Gesellschaftswissenschaft, in: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung (Wien), Ausgabennummer 286 vom 13. Dezember 1873, Seite 2284.

5 = Sieht man einmal ab von den eher wenigen Werken und Studien, die sich dezidiert mit der Nachkriegs-Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschsprachigen Adels befassen, also beispielsweise Michael Seelig: Alltagsadel. Der ehemalige ostelbische Adel in der Bundesrepublik Deutschland 1945/49-1975, Köln: Böhlau 2015, 591 Seiten sowie Barbara Mansfield: Wir sind nicht besser aber anders. Deutscher Adel in der Nachkriegszeit und in der Bundesrepublik Deutschland. Sein Selbstverständnis unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechtes derer von Arnim, Berlin: Simon-Verlag für Bibliothekswissen 2019, 500 Seiten.

6 = Fehlt auf der Webseite „https://www.reclam.de/programm“ unter dem seitlichen Reiter „Reihen“ gemäß Abruf vom 16. Jänner 2025.

7 = Zur mittlerweile unüberschaubar gewordenen Literatur zu dieser Thematik siehe beispielhaft Hartmut Esser: „Wie kaum in einem anderen Land“? Die Differenzierung der Bildungswege und ihre Wirkung auf Bildungserfolg, -ungleichheit und -gerechtigkeit, Band II (Empirische Zusammenhänge), Frankfurt / New York: Campus-Verlag 2022, 661 Seiten. Mit Bezug auf den Adel siehe Norbert Conrads: Ritterakademien der frühen Neuzeit. Bildung als Standesprivileg im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982, 414 Seiten (Band XXI der Reihe „Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“; zugleich Hbilitationschrift an der Universität zu Saarbrücken 1978).

8 = Dazu siehe exemplarisch Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden: Springer VS 2014, 130 Seiten.

9 = Ronald Gregor Asch: Hof, Adel und Monarchie. Norbert Elias „Höfische Gesellschaft“ im Lichte der neueren Forschung, in: Claudia Opitz (Hg.): Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln 2005, Seite 119-142;  Monique de Saint-Martin: Die Konstruktion der adeligen Identität, in: Berliner Journal für Soziologie, Band 1, Heft Nr. 4, Berlin 1991, Seite 527-539; Monique de Saint Martin: Der Adel. Soziologie eines Standes (Band VIII der Reihe „Édition discours“), Konstanz 2003, 284 Seiten.

10 = Dazu weiterführend exemplarisch Claire Chatelain: Ein adeliges Beamtenpaar vor Gericht – Der Einsatz von Kapitalsorten im Eheverfahren zur Trennung von Tisch und Bett am Ende der Regierungszeit von Ludwig XIV., in: Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit (Hg.): Frühneuzeit-Info, Band 26, 2015, Heft Nr. 1, Seite 95-103; André Ralph Köller: Agonalität und Kooperation. Führungsgruppen im Nordwesten des Reiches 1250-1550, Göttingen 2015, 727 Seiten; Simon Schmitz: Adlig werden und es wirklich sein. Etablierung im Adel im 17. und frühen 18. Jahrhundert im Gesamtzusammenhang des Phänomens Neuadel im 16. und 17. Jahrhundert, Heidelberg 2024, X und 1339 Seiten; Andreas Pecar: Prestige zwischen Zuschreibung und Besitz – Allgemeine Überlegungen am Beispiel des höfischen Adels in der frühen Neuzeit, in: Birgit Christiansen / Ulrich Thaler (Hg.): Ansehenssache. Formen von Prestige in Kulturen des Altertums, München 2012, Seite 61-79; Tina Eberlein: Adel und Industriekapitalismus. Das Beispiel katholischer Unternehmer im 19. Jahrhundert, in: Markus Raasch (Hg.): Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne, München 2014, Seite 78-107; Nico Raab: Adeligkeit und Widerstand. Das Beispiel des Katholiken Claus Schenk Graf von Stauffenberg, in: Markus Raasch (Hg.): Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne, München 2014, Seite 235-261; Sven Solterbeck: Blaues Blut und rote Zahlen. Westfälischer Adel im Konkurs 1700-1815, Münster 2018, 455 Seiten.

11 = Thorsten Benkel / Andrea D. Bührmann / Daniela Klimke / Rüdiger Lautmann / Urs Stäheli / Christoph Weischer / Hanns Wienold (Herausgebende): Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden: Springer Fachmedien, Siebente Auflage 2024, XXVIII und 1439 Seiten (mit  Lemmata).

12 = Günter Endruweit / Gisela Trommsdorff: Wörterbuch der Soziologie, Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft 3. Auflage 2014, 669 Seiten (mit 290 Lemmata).

13 = Dazu siehe Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, aus dem Englischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp 6. Auflage 2022, 488 Seiten (Band 1967 der Schriftenreihe „Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft“).

14 = Dazu siehe Larissa Ullmann: Das Sobjekt. Mögliche Beziehungen zwischen Mensch und Maschine aus einem phänomenologischen Blickwinkel, in: Alexander Friedrich / Petra Gehring / Christoph Hubig / Andreas Kaminski / Alfred Nordmann (Herausgebende): Jahrbuch Technikphilosophie, Baden-Baden: Nomos 2022 (Themenband „Kunst und Werk“), Seite 195-213. Siehe in Bezug zur Adelsforschung dazu Claus Heinrich Bill: Zur Geschichte und Gegenwart des stormarnischen Schlosses Ahrensburg als Museum für schleswig-holsteinische Adelskultur, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Herausgeber): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Band XXVII, Folgennummer 131, Sonderburg 2024, Seite 40. Der Begriff „Sobjekt“ wurde zufällig parallel zu Ullmann entwickelt bei Claus Heinrich Bill: Zur Geschichte des historischen Adels an Rhein und Ruhr zwischen dem Frühmittelalter und dem 21. Jahrhundert (2/2), in: Institut Deutsche Adelsforschung (Herausgeber): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Band XXV, Folgennummer 124, Sonderburg 2022, Seite 24. Ferner dazu aber auch Claus Heinrich Bill: Object Links als Theorieangebot für die Adelsforschung auf dem Prüfstand. Zu den Vorteilen, Nachteilen und Innovationen, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Herausgeber): Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Band XXV, Folgennummer 123, Sonderburg 2022, Seite 38.

15 = Dazu siehe Heinrich Schmidt: Häuptlingsmacht, Freiheitsideologie und bäuerliche Sozialstruktur im spätmittelalterlichen Friesland, in: Hajo van Lengen (Hg.): Die friesische Freiheit des Mittelalters. Leben und Legende, Aurich: Ostfriesische Landschafltiche Verlags- und Vertriebsgesellschaft 2003, Seite 372.

16 = Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, Seite 62 und 63.

17 = Dazu siehe beispielhaft die bereits erschienen Studien bei Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums, Leipzig 2018, 544 Seiten (deutsche Übersetzung aus dem 1974 erschienenen raumsoziologischen französischen Original betreffend u.a. adelige Wohnformen; enthält die These, daß der Adel in seinen Wohnungsverhältnissen nicht dem Konzept von „Sehen und Gesehenwerden“ gehuldigt habe; betrifft aber auch Adel als „sozialen Raum“, Adel als kontinuierlich zu schaffenden Raum sowie die Trias aus erstens konzipierten, zweitens symbolischen und drittens praxisvollziehenden Adelsräumen);  Melanie Wald-Fuhrmann: Caesare iubente? Fürstliche Repertoirepolitik in der Frühen Neuzeit zwischen Repräsentation, Identitätsbildung und Memoria, in: Klaus Pietschmann / Melanie Wald-Fuhrmann (Hg.): Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte, München 2013, Seite 343-375; Peter Rückert: Adelige Herrschaftsrepräsentation und Memoria im Mittelalter. Einführung, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte, Band 73, Stuttgart 2014, Seite 11-15; Helmut Flachenecker: Memoria und Herrschaftssicherung. Vom fränkischen Adel und von frommen Frauen zwischen Spessart und Thüringer Wald, in: Eva Schlotheuber (Hg.): Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen, Seite 143-177.


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