|
|||||
Start | Sitemap | Tipps | Anfragen | Publikationen | Neues | Über uns | AGB | Impressum |
|||||
|
|||||
Weibliche Adelsarmut im deutschen KaiserreichAdelsdeviante Aspekte einer bislang selbstverständlichen ElitengeschichteIn dem Roman „Maud“ läßt die Autorin die Figur der Frau v.Kelder zu ihrer 16-jährigen Tochter Nelly über deren Zukunft, deren Benehmen und die Wahl eines geeigneten Ehepartners sprechen: „Ich weiß nicht, was heute in Dich gefahren ist. Du benimmst Dich durchaus unpassend. Ein Mädchen ohne Vermögen, wie Du, kann gar nicht darauf rechnen, jung zu heiraten – unsere jungen Herren brauchen heutzutage alle eine viel größere Zulage, als der Papa sie Dir geben könnte! Dieser unglückliche Polterabend zwingt mich, über Dinge mit Dir zu sprechen, die reichlich verfrüht sind, aber Dein Benehmen gegen diesen Leutnant von Wilden hat mich geradezu erschreckt. Die Wildens sind zwar alter, aber ganz armer Adel; solchen jungen Herren gegenüber thut ein Mädchen wie Du immer gut, sehr zurückhaltend zu sein. Und Du verfolgtest ihn förmlich mit Deinen Blicken – Du hast überhaupt eine Art, die Menschen anzusehen, die ganz unmöglich ist für eine junge Dame der guten Gesellschaft [...] Ganz gleich, so sieht man eben Herren nicht an, und so blickt man ihnen nicht nach!“ [1] Die hier genannten Handlungsspielräume adeliger Frauen zwischen 1870 und 1918 stammen zwar aus einem zeitgenössischen Roman, haben aber auch einen realen Hintergrund. Das zeigt die neue Studie von Johanna Mirjam Singer aus Tübingen, die am dortigen Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ weiblichen Lebensläufen in Württemberg und Preußen nachspürt, um sich der Frage verarmten weiblichen Adels zu widmen. Ein Ergebnis ihrer 2015 in Tübingen angenommenen Dissertation ist denn auch die Bestätigung dessen, was bereits im Roman vorweggenommen wurde: Arme Frauen fanden schlecht einen Ehemann und Ehelosigkeit konnte leicht zu materiellen Versorgungsengpässen und zu einem armutsgenerierenden Faktor werden, so dass ein Teufelskreis entstand. [2] Und was war zu tun, wenn die reale wirtschaftliche Situation nicht dem Adelsideal von `Standesgenoss*innen´ und Gesellschaft entsprach? In welche Spannungslagen und Konflikte gerieten adelige Frauen, wenn sie eben nicht über wirtschaftliche Prosperität verfügten? Adel und Armut schließen sich zwar nicht aus, gefragt wurde danach aber bislang in der Forschung nur wenig. Das ist merkwürdig. Noch immer hält sich das Bild von `Glanz und Gloria´, wenn der Begriff `Adel´ aufgerufen wird, in der Öffentlichkeit ebenso wie in der Forschung. [3] Diese erstaunliche Fokussierung der öffentlichen Meinung – und dies offenbar über viele Jahrzehnte hinweg – scheint einem unhinterfragbaren Axiom zu folgen, den sich Singer mit der Beharrungskraft der Leitbildgebungsmacht des Adels über seine eigene Stellung erklärt (Seite 404). Andererseits bereitet diese perpetuierte Einseitigkeit einer neuen Forschungsrichtung, der Kombination aus Armutsforschung und Adelsgeschichte, einen Auftrieb und bietet ein reiches Betätigungsfeld. Es ist daher sehr erfreulich, daß Singer einen weiteren Beitrag zur Geschichte der Devianz und der abweichenden Realitäten des `üblichen´ Adelskonzeptes leistet. Diese Arbeit hilft damit wesentlich, die Heterogenität des Adels auch von seinen `Rändern´, von `innen´ und von `unten´ wahrzunehmen (Seite 7), fernerhin dessen lange unangefochtene Legende der ewigen und festgeschriebenen Elitezugehörigkeit zu ergänzen und zu konterkarieren. Gerade diese Konfliktlage zwischen Beharren und Praxis macht `den Adel´ auch künftig für die historische Sozialwissenschaft – oder sozialwissenschaftliche Historiographie – als eine angeblich abgeschlossene Gesellschaftsschicht besonders interessant. Gut gelöst hat Singer die Frage, wie Armut denn eigentlich zu definieren wäre. Da Armut immer nur relativ gesehen werden kann, können keine absoluten Grenzen zwischen Armut und Wohlhabenheit gezogen werden; [4] sie versucht die Misere daher über den Vergleich mit dem Einkommen anderer Adeliger zu der Zeit in Beziehung zu setzen – und diese Annäherung gelingt und ist in ihrer Zurückhaltung angemessen. Singer arbeitet sodann überzeugend die armutsgenerierenden Faktoren heraus und erwähnt dazu ausführlich und quellengestützt Aspekte wie Geschlecht, Familienstand, Alters-, Bildungs- Berufs- und Gesundheitsaspekte als Risikofaktoren für die weibliche Adelsarmut in der `entkonkretisierten Ständegesellschaft´ der Belle Époque. Dabei stellt sie auch fest, was schon im oben erwähnten Roman angesprochen wurde; der `Teufelskreis der Armut´ war für weibliche Adelsfrauen schwer zu durchbrechen, wenn sie mitgiftlose oder pekuniär schlecht gestellte Töchter verarmter oder früh verstorbener Väter waren und dann keinen Mann und somit auch keine finanzielle Versorgung fanden. Viele Frauen sicherten ihr Existenzminimum daher, so Singer weiter, mit Mischfinanzierungen ab (Seite 217). Verwandte, Stiftungen und die Adelsgenossenschaft waren dabei um gesellschaftliche Inklusion und finanzielle Unterstützung bemüht, sofern nicht bestimmte moralische Grenzen überschritten wurden. Auch eine eigene weibliche Berufstätigkeit war zur Existenzsicherung vereinzelter Frauen möglich und wurde praktiziert, allerdings ungern gesehen – daher bewertet Singer dies auch als Prekariatsgefährdung (Seite 346-347). Einige wenige Mängel schmälern den Wert der gelungenen Ausarbeitung über weibliche adelige `Statusinkonsistenzen´, die mit vielen Beispielen aus Bittbriefen der betroffenen Frauen und Behördenakten arbeitet, kaum. Es fehlt jedoch bedauerlicherweise – wie bei so vielen Doktorarbeiten in der Geschichtswissenschaft – ein heuristisches Protokoll, obgleich konstatiert werden muss, dass es immerhin in groben Ansätzen bei einer einzigen Quelle von ihr nachgewiesen worden ist (Seite 375, Fußnote 96). Insgesamt bleiben aber leider die eingeschlagenen Suchwege – trotz eines allgemein strengen wissenschaftlichen Transparenzgebots – unklar. Ein weiterer Punkt ist die mehrfache Ankündigung statistischer Verfahren bei der Auswertung zweier Datenbanken für preußische und württembergische Adelsfrauen (Seite 23, 88-89). Tatsächlich spricht die Verfasserin zwar auch vom Median als einem Untersuchungsparameter der deskriptiven Statistik (Seite 25), verwendet letztlich aber dann doch „nur“ Auszählungen aus ihren Grundgesamtheiten (Seite 88-108) und bleibt den Leser*Innen im Übrigen die Anwendung deskriptiver oder induktiver Kennzahlen schuldig. [5] Dies ist prinzipiell nicht weiter schlimm und im Gegenteil ist sogar die Heranziehung von Grundgesamtheiten immer der Auswertung von Stichprobenverfahren vorzuziehen. Allerdings ist es unverständlich, weshalb Singer dann überhaupt mit der Vokabel „Statistik“ hantiert. [6] Auch ein zu kritisierender Punkt ist die nicht belegte Behauptung von Singer, dass das Thema der Adelsarmut in der Presse „keine nennenswerte Rolle“ gespielt habe (Seite 374). Sie leitet diese Aussage von einer Untersuchung der Zeitschrift „Neue Rundschau“ in den Jahrgängen 1890-1914 ab. Es ist aber erstens nicht ersichtlich, weshalb sie diese Zeitschrift überhaupt ausgewählt hat und weshalb dieses Periodikum repräsentativ für die deutsche Presselandschaft sein sollte. Die gewagte Singersche Erkenntnis kann jedoch mindestens in Frage gestellt werden. Sicherlich ist es streitbar zu verhandeln, was denn „eine nennenswerte“ Rolle sein soll. Nicht zu leugnen ist aber mindestens, dass Adelsarmut ein alltägliches Thema in der deutschsprachigen Presse war, denn es taucht dort immer wieder in sachlicher und polemischer Form auf. [7] Teils geschah dies auch in Form der Fortsetzungsromane, dort wurden nach Ansicht des Rezensenten (und des New Historicism als literaturwissenschaftlicher Forschungsrichtung) [8] eben auch Verhandlungsräume symbolischen Probehandelns offenbar, die aus der Gesellschaft stammten und diese reflektierten. Die Romane zeigen zumindest, dass in der Belletristik die Thematik im Kaiserreich nicht unbekannt war. [9] Jene Mängel können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass Singer mit Stephan Malinowski, Daniel Menning und Ewald Frie zu jenen Pionier*innen gehört, die der devianten Adelsforschung zuarbeiten und wesentlich mit dazu beitragen, das Adelsbild in der Forschung zu konkretisieren und myrioramatischer darzustellen als dies bisher oft der Fall gewesen ist. Insgesamt ist die Arbeit daher als sehr erfreulich zu werten und wird hoffentlich auch für andere Regionen und Zeiten Vorbildwirkung haben und Inspiration sein. Noch ist die historische Adelsdevianz ein sehr junges Forschungsfeld; derartige Arbeiten wie die Singersche 452-seitige Dissertation aber werden sicher helfen, hier mehr Licht ins Dunkel zu bringen. [10] Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. Annotationen:
|
|||||
© Institut Deutsche Adelsforschung - Quellenvermittlung für Wissenschaft, Familienforschung, Ahnenforschung | Seitenanfang |