|
|||||
Start | Sitemap | Tipps | Anfragen | Publikationen | Neues | Über uns | AGB | Impressum |
|||||
|
|||||
Die Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen ostelbischen AdelsLeben in der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1975Im Juli 1951 veröffentlichte Dr. Reichert, der persönlich nie der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels angehört hatte, aber eine Affinität zu dieser Gemeinschaft besaß, im Frakturdruck eine Rezension in der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“, in der Folgendes zu lesen stand: „Ein bemerkenswerter Vorgang: ein Professor jüdischer Herkunft hält an einer bayerischen Universität (Erlangen) den Festvortrag zur Erinnerung an die vor 250 Jahren erfolgte Gründung des preußischen Staates. Kann man darin eine Hoffnung sehen, daß das Fehlurteil über Preußen, das die letzten Jahre beherrscht hat, im Wandel begriffen ist? Die Bedeutung dieses vielverlästerten Machtkomplexes für die gesamtdeutsche Staatlichkeit aufzuzeigen, ist die Absicht des Vortrages. Das alte Preußen war eine Schöpfung seiner Könige. Es ist mit der Monarchie untergegangen, nicht erst durch das Dekret der Alliierten vom 25.2.1947 aufgelöst worden. Man soll nicht die Augen vor den Schwächen und Grenzen des preußischen Wesens verschließen, aber sie sind nur die Fehler seiner Tugenden. Die tragenden Grundkräfte dieses Staatsbaues waren Recht und Ordnung, also ethische Werte. Preußen war eine große Erziehungsanstalt. Ihren fortwirkenden Kräften haben wir es zu verdanken, daß sich die Eingliederung der aus dem preußischen Osten vertriebenen Millionenbevölkerung in die westliche Staatlichkeit ohne revolutionäre Erschütterung vollzogen hat. Die Einheit Deutschlands hat die territoriale Wiederherstellung Preußens zur Voraussetzung. – Eine besondere Würdigung läßt der Verfasser den konservativen Kräften im alten Preußen zuteil werden, die durch Namen wie Ludwig von der Marwitz und später Ludwig von Gerlach gekennzeichnet sind. Auch die Gestalt Friedrich Wilhelm IV. erscheint in einem anderen Lichte als gewöhnlich. Es handelt sich bei diesen Fragen um ein wenig bekanntes Kapitel aus der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, über das der Verfasser in Kürze eine eingehende Darstellung unter dem Titel `Das andere Preußen´ vorlegen wird.“ [1] Obgleich es sich hierbei lediglich um eine gewöhnliche – man könnte sagen alltägliche – Buchbesprechung handelt, die neben der Vorstellung des Buches auch eine persönlich positive Wertung des Rezensenten und eine implizite Kaufempfehlung enthielt, so handelt es sich doch um die Auffächerung eines ganzen Wertehimmels aus einem sozialen Milieu, welches von besonderen Eigenschaften gekennzeichnet war. Denn die Konnotation mit der Zeitschrift „Deutsches Adelsarchiv“ – sozusagen die Situation nach Wittgenstein – macht deutlich, daß Reichert eine Passung zwischen dem Buch und der Zielgruppe, die mit der Buchbesprechung adressiert werden sollte, anstrebte. Dies konnte indes nur gelingen, wenn Werte dieser Zielgruppe aufgegriffen und in die Rezension eingebaut wurden. Es ist anzunehmen, daß dies Dr. Reichert gelungen ist. Gestützt wird diese These durch eine neue wissenschaftliche Qualifikationsschrift, mit der der Marburger Historiker Michael Seelig M.A. in seiner 2013 abgeschlossenen Dissertation an der Universität Marburg zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Seelig, der mit seiner 2015 im Böhlauverlag zu Köln (591 Seiten, Preis: 79,90 Euro) erschienenen Nachkriegsstudie „Alltagsadel“ erstmals umfassend [2] den ehemaligen ostelbischen Adel (im „ständischen“ Sinne bis zur Weimarer Reichsverfassung von 1919) in seinen kulturellen Festlegungen und Ausprägungen der Jahre von 1945 bis 1975 in der Bundesrepublik beschrieben und analysiert hat, stellt darin nämlich fest, daß es eben jene Milieu-Inhalte waren, die bei der angesprochenen Erinnerungsgemeinschaft „Adeligkeit“ generierten. Symptomatisch eröffnet daher Reicherts Buchschau ein ganzes Universum von Werten und Agenda-Settings. Da ist zunächst die Konzentration auf eine geschichtliche Erzählung, die in rein traditionaler Weise erfolgt war. Dazu unterschied Krameritsch (2003) fünf Arten historischer Narrationsformen; er benannte die traditionale, exemplarische, kritische, genetische und situative Erzählsituation. [3] Das traditionale Erzählen perpetuiert die Vergangenheit, mit der sich die Erzählenden identifizierten; genau dies läßt sich auch an den Zeilen von Dr. Reichert erkennen. Aber die Erinnerung und das Erzählen waren stets selektiv, die erinnerten Vergangenheiten – auch und gerade für die die Leser*Innenschaft des Adelsarchivs, die, wie Seelig betont, vor allem aus Angehörigen des ehemaligen ostelbischen Adels bestand – bezogen sich auf Preußen, das ostelbische Kernland, und seine tatsächlichen oder vermeintlichen, in jedem Falle aber zugeschrieben Tugenden. Daß indes die von Dr. Reichert beschworenen Werte „Recht und Ordnung“ aus der NS-Zeit kontaminierte Worte waren, focht Dr. Reichert nicht an. Seine Verknüpfung mit dem „anderen“, dem „alten“, dem „reinen“ Preußen, ermöglichte ihm den Werte-Rekurs trotzdem ohne Sinnverlust. Auf solch des Nationalsozialismus unverdächtige Vorbilder und Idole wir Marwitz und Gerlach zurückgreifend, ergab sich für die Leser*Innenschaft des Adelsarchivs ein gedanklicher Erinnerungspool, von der Seelig (Seite 266) bemerkt, daß sie als Distinktionsstrategie benützt worden sei. Erzählen von Vergangenheiten ist kein beliebig-willkürliches oder assoziativ-spontanes Erzählen, sondern untersteht, wenn auch wohl oft nur implizit, stets auch der Bildung gegenwärtiger Identität. Woraus diese Identität bei einer Gruppe von vertriebenen ehemaligen Adeligen und deren Nachkommen aus Ostelbien bestand, hat Seelig in seiner atmosphärisch-nahen und quellengesättigt dichten Analyse dargelegt. Diese Gruppe nennt Seelig den „Alltagsadel“, weil nach dem Verlust materieller Werte die Nachkommen ehemaliger Adeliger nur noch ideelle Werte besessen hätten und in der bundesdeutschen Mittelstandgesellschaft aufgegangen seien. Das einzige Distinktionsmerkmal war die Vergangenheit, eine Währung, mit der Angehörige dieser sozialen Milieus – Seelig lehnt die Begriffe „Randgruppe“ und „Subkultur“ dafür Seite 531-532 ab – unter sich „bezahlten“, sich erkannten oder gleiche „Erinnerungsorte“ (nach Pierre Nora) teilten. Weil dies im Freizeitbereich, im Alltag mit „Banalitäten“ geschehen sei, hält Seelig den Begriff des Alltagsadels für angebracht und passend. Überhaupt ist „das Banale“, mit dem der oft im Pluralis majestatis sprechende Seelig („unsere Studie“) die besprochene soziale Gruppe etikettiert, die er zudem „ostelbischen Adel“ nennt, eine oft vorkommende Vokabel in der genannten Dissertation der Uni Marburg. Dieser Umgang mit Begrifflichkeiten hat bestimmte Folgen. Zum Einen verläßt Seelig damit die Epoché oder den für die Geschichtswissenschaften sonst üblichen Wertenthaltungsgrundsatz, weil „banal“ eine negative Konnotation ist, mithin das so Bezeichnete abgewertet wird, obwohl es doch lediglich Untersuchungsgegenstand sein sollte. Pierer (1857) schreibt zum Wort „banal“ Folgendes: „gewöhnlich, abgebraucht; daher banale Phrase, ein an sich richtiger, aber wegen veränderter Verhältnisse bedeutungslos u. wirkungslos gewordener Ausspruch.“ [4] Das war kein Einzelfall. Meyer (1905) bemerkt: „Im Lehnrecht eine Sache, die der Lehnsherr seinem Vasallen zur Benutzung gegen gewisse Gegenleistungen überlassen hat; figürlich etwas, das jedermann zum freien Gebrauch überlassen wird; daher das, was im höchsten Grade gewöhnlich, durch häufige Anwendung alltäglich, abgedroschen und bedeutungslos geworden ist.“ [5] Schließlich notierte dazu der Brockhaus (1911): „alltäglich, unbedeutend“. [6] Alle diese Bedeutungen waren abwertend und eignen sich wenig als Bezeichnungsterminus, auch wenn die Wortschöpfung „Alltagsadel“ durchaus originell ist. Aber „bedeutungslos“, „abgebraucht“ oder gar „wirkungslos“ waren die Distinktionsstrategien für diejenigen Personen oder Gruppen, die sie anwandten, wahrscheinlich ja keineswegs. Sie waren vielmehr wohl vermutlich nötige Instrumente zur Herstellung und Perpeetuierung von Sinnhaftigkeit. Neben der kritisch anzusehenden Verwendung der Bezeichnung „banal“ kann ebenso die von Seelig oft benützte Vokabel „Adel“ für seinen Untersuchungsgegenstand kritisiert werden. Seelig nennt seinen Untersuchungsgegenstand sogar häufig „der ostelbische Adel“, als würde es noch einen „Adel“ geben. Das ist zwar seit 1919 im deutschen Raum rechtlich nicht mehr der Fall, aber Seelig beteiligt sich mit seinem performativen Schriftakt (bewußt oder unbewußt?), der Unselbstverständliches und sogar historisch nicht Nachvollziehbares selbstverständlich und wiederholend auf der Bühne seiner Doktorarbeit aufführt, an eben jener Vergangenheitsperpetuierung und einem Erinnerungsort, den schon Dr. Reichert mit seiner (im Übrigen auch traditionalen) Erzählung von alt-neuen Lichtgestalten „des Adels“ (als es ihn tatsächlich noch im XIX Säkulum noch gab) bedient hatte. Die inhaltlichen Ergebnisse der Seeligschen Studie sind indes, abgesehen von diesen Bezeichnungen, die aktuell noch „den Adel“ als existierend ansehen, dagegen durchwegs überzeugend. Seelig, der sich in kulturgeschichtlicher Grundausrichtung mit Webers Standesdefinition, mit der Schützschen Lebenswelttheorie, mit Foucaults Diskurslehre und Bourdieus Habitusmodell methodisch wappnete, erarbeitet in drei großen Kapiteln den Schock von Flucht und Vertreibung als große Zäsur des Frühjahrs 1945 der Erinnerungsgruppe des ehemaligen ostelbischen Adels, skizziert sodann detailreich die Krisenbewältigung in den Nachkriegsjahren vom heimatlosen Flüchtling bis hin zur Integration in den bundesdeutschen Mittelstand und er untersucht schließlich die Strategien des Identitätserhalts, zu denen Familiengeschichten, Familiennachrichten, Familientage, Erinnerungsliteratur und -symbolik, Auseinandersetzungen mit „Ehrenhändeln“, die bestimmende Rolle der Genealogie, Denk- und Handlungsmuster, „Seinsweisen“, Adelsnamen und weitere Entitäten zählen. Auf diese multiperspektivische Weise befaßt sich Seelig umfassend mit der erwähnten Sozialgruppe und leuchtet das aus, was als „Adeligkeit“ die Gruppalidentität ausmachte, als Essenz über die Zeiten und Räume in die BRD an kulturellem Kapital oder immateriellen Werten „gerettet“ werden konnte. Seelig kommt zu dem Ergebnis, daß es vor allem diese Entitäten waren, die maßgeblich dafür verantwortlich waren, daß sich Angehörige des vormaligen (d.h. nur noch historischen!) ostelbischen Adels auch im XX. und XXI. Centenarium immer noch als „Adelige“ verstehen. Seelig vertritt zuletzt in Anlehnung an den alten – und auch weiterhin noch aktuell-beliebten – Diskurs um „Obenbleiben vs. Niedergang“ [7] „des Adels“ in der Moderne die These, der Adel sei im Grunde „oben geblieben“, weil er sich weiter Distinktionsstrategien einer eigene gruppalen Identität bewahrt habe. Dem mag man zustimmen oder nicht. Sicher ist, daß sich Seelig fleißig an der Genese dieses Bekenntnisses beteiligt hat. Er gibt allerdings auch der von Matzerath vertretenen Auffassung eines „Zusammenbleibens“ Raum (Seite 544) und stellt fest, daß es wohl auch dieses „Zusammenblieben“ war, das wesentlich dazu beitrug, daß die untersuchte Erinnerungsgemeinschaft heute sowohl sich noch selbst als „Adel“ betrachtet als auch von außen (wenn auch als Projektionsfläche) [8] so apostrophiert wird. Dafür sorgte nicht zuletzt auch Dr. Reichert mit seinen Rezensionen im „Deutschen Adelsarchiv“, der vermutlich die Wünsche und Sehnsüchte dieser Gruppe bediente und das untergegangene Preußen wiederbeleben wollte, ideell und als Staat. So wurde die Vergangenheit als Zukunft bedeutungsvoll gegenwärtig. Der Verfasser der Doktorarbeit, der „en passant“ (einer seiner Lieblingsformulierungen) nach einem Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Duisburg-Essen auch schon seine Magisterarbeit über das „Selbstverständnis des vertriebenen ostelbischen Adels in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1963 in der Ära Adenauer“ geschrieben hatte, [9] meint in seinem Schlußwort, „der Adel“ habe es auf diese Weise verstanden, sich zu erhalten und würde daher noch heute existieren. Einen größeren Gefallen hätte Seelig der Erinnerungsgemeinschaft von Personen, die von nunmehr vor rund 100 Jahren einmal adelig gewesen Personen abstammen, nicht tun können. Dennoch darf die besprochene Arbeit als gelungen betrachtet werden; sie ist in der Tat als Pionierstudie dieser Thematik aufzufassen, die der löblicherweise seit der Jahrtausendwende stark engagierten deutschen Adelsforschung weitere Erkenntnisse und Impulse, gekleidet in ein intelligentes und überzeugendes Forschungsdesign, beschert hat. Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. Annotationen:
|
|||||
© Institut Deutsche Adelsforschung - Quellenvermittlung für Wissenschaft, Familienforschung, Ahnenforschung | Seitenanfang |