Institut Deutsche Adelsforschung
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Murkens religionspsychologische Forschungen

Rezension zu zwei seiner Werke mit der Untersuchung religiöser deutscher Randgruppen

Der 1963 geborene Dr. und Dipl.-Psych. Sebastian Murken M.A., Religionswissenschaftler und Psychotherapeut, auch Professor mit entsprechenden Lehraufträgen an diversen deutschen Universitäten, ist ein ausgewiesener Kenner der deutschen Religionspsychologien und bereits mit etlichen Veröffentlichungen zum Thema hervorgetreten. 2008 und 2009 hat er außerdem unter anderem zwei Werke publiziert, die hier besprochen werden sollen und die im Diagonalverlag Marburg erschienen sind.

Sie sind von besonderem Interesse, weil Murken als Fachmann auf seinem Gebiet nicht nur die nötige Kenntnis seines Untersuchungsgegenstandes besitzt, sondern auch innovativ arbeitet und Konzepte, Theorien und Modelle zusammengestellt, entworfen und erprobt hat, die in der Religionspsychologie künftig wohl nicht mehr zu umgehen sind. Niedergelegt hat er diese unter anderem in dem Werk „Neue religiöse Bewegungen“ und in „Ohne Gott leben“, [1] wobei vor allem das erstgenannte Werk ein originäres Murkensches Elaborat ist., während Murken im letzterwähnten Buch nur eine moderierende und interpretierende Funktion innehat, da die meisten Beiträge von Internetnutzern einer Plattform stammen. Vor allem in dem Werk über „Neue Religiöse Bewegungen“ wird Murkens Kenntnis und Fähigkeit zum religionspsychologischen Denken und analytischen Darstellen deutlich. Dieser Umstand wird bereits evident, wenn man sich die Graphiken in Murkens Werk ansieht, die beispielsweise so vorgeblich simple Dinge wie die möglichen Wege und Faktoren einer schlichten Konversion eines Gläubigen in all ihrer Komplexizität zu beschreiben suchen.

Daß bei Bekehrungen zu einem religiösen Kult eine ganze Reihe von Merkmalen und Dispositionen zu beachten sind, hat Murken eindrucksvoll dargestellt. Er ist freilich nicht der Erste, der sich in der Religionspsychologie mit dem beliebten Thema der Konversion befaßt, [2] aber er bewerkstelligt dies mit einem frischen Blick auf die Thematik, fragt nach Kult-Bedürfnis-Passungen und stellt heraus, wie Konversionswillige und religiöses Kultangebot aufeinander treffen und unter welchen Bedingungen Bekehrungen stattfinden.

Er beschäftigt sich mit Bewältigungsstrategien der Religiosität und fragt nach den Konfliktarten, die maßgeblich durch religiöse Betätigung und Haltung eliminiert werden sollen. Er bestätigt in weiteren Untersuchungen, daß der Beitritt zu einem neureligiösen Kult häufig von einer persönlichen Krisenphase vorbereitet wird. Er beteiligt sich an der Diskussion um die Schaffung eines Gesetzes für gewerbliche Lebensbewältigungshilfe, betrachtet die Kontexten zwischen Weltvertilgungsideen und Religiosität, die Fragen nach der Rekrutierung und der Mitgliedschaftskündigung in neoreligiösen Bewegungen sowie besonders intensiv die Frage, unter welchen Umständen und Rahmenbedingungen Religiosität zur seelisch-geistigen Gesundheit eines Individualgläubigen beiträgt und wann sie zerstörerisch auf die Gesundheit wirkt.

Murken versteht es dabei exzellent, die untersuchten Gemeinschaften, dazu zählen mehrere „kleinere“ Kirchen, Denominationen und Kulte, angefangen von der zahlenmäßig größeren „Neuapostolischen Kirche“ (etwa 380.000 Mitglieder in Deutschland) bis hin zum kleinen Kult „Ananda Marga“ (rund 100 Mitglieder in Deutschland) als verschiedene esoterische Sinnangebote zur Kontingenzbewältigung und als Mittel zur Aufhebung intrapersonaler Konflikte zu analysieren.

Seine Modelle sind grundlegend und werden für künftige Forschungen wichtige Beiträge leisten, auf die zurückgegriffen werden kann. Murken hat sich in diesem Werk zwar auf neoreligilöse Kulte spezialisiert, doch sind seine Ergebnisse und Forschungen durchaus auch mit gewisser Rücksichtnahme auf allgemein religiöse Phänomene anzuwenden. Freilich ist die Bedeutung der Gründe für einen Beitritt eines Proselyten zu einem kleinen Kult eine andere als für einen in einen religiösen großen Kult bereits Hineingeborenen; trotzdem darf Murkens Werk als Grundlagenuntersuchung angesehen werden, die nicht nur in Bezug auf dieses Spezialgebiet religiöser Marginalerscheinungen gerichtet ist. Denn gleich ob es sich um die römisch-katholische Kirche mit rund 1,8 Milliarden Gläubigen handelt oder um bekennende Oshosophisten mit wenigen tausend Anhängern: Allen gemeinsam ist, daß sie bestimmte Glaubenssysteme entwickelt haben, mit der sie die Welt um sich herum sehen und ihren eigenen Lebensstil gestalten, aber auch sozial, kulturell und politisch nach bestimmten Mustern interagieren.

Religiosität hat so besehen einen großen und massenhaften Einfluß auf die Weltgeschichte und je nach Prägung kann Religion Lebenshilfe, Bewältigungsstrategie, Anlaß zu Fanatismus und Mord, aber auch zu Versöhnung und Vergebung sein. Dies wird nicht nur deutlich in den religiösen Kreuzzügen des Mittelalters und den Selbstmordattentätern des XXI. Jahrhunderts, sondern auch durch den Norweger Anders Behring Breivik (*1979), der im Juli 2011 als Amokläufer und Bombenattentäter agierte: Sowohl seine Motivation zur Tötung von Menschen als auch die Verarbeitung der Morde durch das norwegische Volk wurden unter anderem religiös untermauert und bewältigt. In beiden Fällen bildete Religiosität einen Teil der Motive, in beiden Fällen sind bestimmte Perspektiven mit ausshclaggebend für eine bestimmte Weltsicht.

Insofern schließt Murkens zweites Werk über den modernen Atheismus in der Industrie- und Kommunikationsgesellschaft hier nahtlos an. Auch bekennende Atheisten leben ein bestimmtes Glaubenssystem, das sich nicht nur in der Negation des Bestehenden oder Üblichen - in der BRD ist dies immer noch der römisch-katholische und evangelisch-lutherische Glaube - erschöpft, sondern ein eigenes Weltdenkgebäude aufstellt: Diese Gläubigen leben in einer Welt, in der für sie keine Gottheit existiert. Murken hat sich jedoch spezialisiert. Er untersucht in „Ohne Gott leben“ die Reaktionen von Internetnutzern auf eine katholische Weltnetzseite, auf der das Erzbistum Köln die Motive von Gottheitsverweigerern eruieren wollte.

Murken, der für dieses Werk die Herausgeberschaft zusammen mit einigen anderen Religionspsychologen und Theologen übernommen hat, untersucht mit seinen Mitautoren dabei Fragen nach den Motiven von Gottheitslosen für ihren Atheismus. Dargestellt werden außerdem die zugehörigen Argumentationsstränge, die Geschichte des deutschen Atheismus, die bereits häufig diskutierte und eigentlich leidlich erschöpfte Frage der Theozidee, also die Gottheitsrechtfertigung im Zeichen von Krieg, Hunger und alltäglichem Leiden und Tod, die Sehnsucht nach Sinngebung und Verstehen als natürliche anthropomorphe Eigenschaft (wie sie auch schon Maslow  früher in seiner Bedürfnispyramide beschrieben hat), Ansätze für eine zum Gottheitsglauben alternativ zu sehende humanistische Lebenseinstallung im Gegensatz zur christlichen Ethik, Alternativen zu christlichen Gottheiten (Satanismus, Allahismus, Buddhismus) sowie das Verhältnis von Religion und Wissenschaft.

Diese Bandbreite ist faszinierend und wirft neue Lichter auf einen alten Gegenstand. Dabei ist es verwunderlich, daß atheistische Positionen bisher in der Religionspsychologie noch nicht ausreichend untersucht wurden, stellen sie doch ebenfalls eine bestimmte Betrachtungsweise auf das Phänomen „Religion“ dar, die „andere Seite der Medaille“, die bisher nur allzu selten besehen wurde. Doch gerade die Gegenbewegung zu einem Weltdenkgebäude kann deren Merkmale besser herausarbeiten. Das gilt für alle Phänomene der Geisteswissenschaft, vor allem im Zeichen kulturwissenschaftlicher Forschung: Multiperspektivität erweitert das Spektrum der Sichtweisen und ist eher geeignet als dogmatisch einwegige Interpretationsvorschriften.

Murken hält sich zumeist in seinen Untersuchungen neutral. Er beansprucht den Grundsatz der „Epoché“, will also über Wahrheit und Nichtwahrheit im Sinne der religiösen Kulte, die zumeist, bis auf wenige Ausnahmen (z.B. die Unitarier), stets eifersüchtig über ihre eigene Wahrheit mit Globalanspruch wachen, nicht urteilen. Dennoch übernimmt Murken teils die Definitionen von religiösen Kulten, was seine Distanz zu ihnen verringert. Den Spagat zwischen menschlichem Kontakt mit dem Ernstnehmen religiöser Fremdüberzeugungen und der rationalen Befragung und Untersuchung auf wissenschaftlicher Ebene hat er zwar sehr anschaulich in seinem Werk über die neoreligiösen Bewegungen beschrieben, [3] verwendet aber doch, wenn er ins einen Analysen von Gottheiten spricht, durchgängig den Begriff „Gott“, als gäbe es nur eine Gottheit. Daß der Begriff verwendet werden muß, wenn die religiösen Kulte von sich selbst und ihrem Verehrungs- und Anbetungsobjekt sprechen, ist verständlich, nicht jedoch in der Übernahme des Wissenschaftlers. Murken macht sich damit fast durchgängig die jeweilige Perspektive der religiösen Kulte zu eigen. Tatsächlich untersucht Murken ja nicht „einen Gott“, sondern verschiedene Gottheiten, die je nach Kult andere Eigenschaften haben. Als Beispiel sei nur genannt, daß, jeweils nach Aussage der entsprechenden Priesterschaften, die mormonische Gottheit will, daß ihre Anhänger keinen Kaffee trinken, die siebenten-tags-adventistische Gottheit, daß die Gläubigen keinen Schmuck tragen, die gemeindechristische Gottheit, daß Frauen nicht in Versammlungen beten, predigen oder anleiten und dergleichen mehr.

Die Religionspsychologie als vergleichende und multidisziplinäre Wissenschaft ist also schlecht beraten, wenn sie hier beliebige Gottheiten, von denen es de facto sehr viele gibt, mit „Gott“ gleichsetzt, da hierdurch Definitionen übernommen werden, die das Gebot der wissenschaftlichen Neutralität auflösen und zu beeinträchtigen im Stande sind. Gleichwohl: Murkens Werke und Modelle sind so wertvoll und beachtenswert, daß diese kleine Kritik nicht weiter ins Gewicht fällt, betrachtet man sich die beiden empfehlenswerten und anregenden Bände.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill.

Annotationen:

  • [1] = Sebastian Murken: Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Perspektive, Diagonalverlag Marburg 2009, 316 Seiten, Broschur, 35,00 Euro und Sebastian Murken: Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des Unglaubens, Diagonalverlag Marburg 2008, 262 Seiten, Broschur, 15,00 Euro
  • [2] = Siehe hierzu Ulrike-Popp-Beier: Bekehrung als Gegenstand der Religionspsychologie, in: Christian Henning / Sebastian Murken / Erich Nestler (Herausgeber): Einführung in die ReligionspsychologiePaderborn 2003, Seite 94-117

  • [3] = Kapitel „Vertrauensvolle Nähe und kritische Distanz. Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit neuen religiösen Bewegungen“, Seite 281-312

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