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Historische Kriminalität als ForschungsbereichBesprechung einer Neuerscheinung des CampusverlagesDas Schriftwerk Die Leiden des jungen Werther von Goethe sind ebenso wie Anton Reiser von Karl Philipp Moritz der Gattung des anthropologischen Romans zuzuschreiben, der bereits im XVIII. Jahrhundert den Menschen als Ganzes, als kompliziertes und komplexes Wesen in den Blick nahm, seine inneren Welten offenbarte und deutlich machte, auf welche Weise Menschen in Grenzsituationen reagieren können. Eine Weiterentwicklung erfuhr die literarische Verarbeitung dann aber auch in der kriminalanthropologischen Belletristik, die sich, wie der Verbrecher aus verlorener Ehre von Schiller, auch für die inneren Kämpfe und äußeren Konsequenzen einer sozial devianten Verhaltensweise interessierte. Man kann diese Form von literarischer Beschäftigung mit Kriminalität durchaus als eine bestimmte Stufe der Kriminalitätsforschung bezeichnen, die freilich nur literarisch-psychologisch und noch nicht wissenschaftlich genannt werden kann. Zweifellos aber findet sich in der Öffnung des Seelenlebens eine Innenschau auf die Genesis von möglichen Verbrechen, wie sie sonst kaum möglich geworden wäre. Und sie zeigt zudem das Spannungsfeld und -verhältnis, in dem sich Kriminalität im jeweiligen gesellschaftlichen Diskurs bewegt. Dies bedingt auch eine gewisse Temporärigkeit von Kriminalität, die immer konstruiert wird und erst konstruiert werden muß, abhängig von Zeit und Raum als rahmengebenden Konstanten, abhängig von den Staatsidealen, den Zielen der Gemeinschaft, den moralischen Idealen einer Sozialität. Auf diesen Konstruktivitätscharakter der Kriminalität geht neuerdings Gerd Schwerhoff ein in seinem Buch Historische Kriminalitätsforschung ausführlich ein. [1] Der Titel ist zwar etwas unpassend gewählt, da es nicht darum geht, historische Kriminalitätsforschung zu betreiben, also zu sehen, wer wann in historischen Zeiten über Kriminalität geforscht hat (darunter würden dann in gewisser Weise eben auch Goethe und Schiller fallen), sondern Schwerhoff, der aufgrund vieler vorangegangener Veröffentlichungen als ausgewiesener Kenner der Materie gelten darf, befaßt sich vielmehr mit der aktuellen Forschung über historische Kriminalität - das ist inhaltlich korrekter, klingt aber vermutlich nicht so gut. Oder will Schwerhoff mit seinem Titel tatsächlich aussagen, daß es sich allein deshalb um eine historische Forschung handelt, weil er nur Literatur zitiert, die bis 2011 erschienen ist? Ist daher eine Literatur, die 2010 publiziert wurde, schon historisch bei Schwerhoff? Mit einen Quantum an Zugeständnissen könnte man immerhin pro Schwerhoff argumentieren, daß das Historische (griechisch für Erforschung) lediglich die Vergangenheit betrifft, also sowohl die Vergangenheit vor 2000 Jahren, die vor einem Jahrzehnt oder die vor einer Minute. Sehr wahrscheinlich dürfte aber im allgemeinen Verständnis des Begriffs Historizität doch wohl eher eine Gleichsetzung mit Zeiten gedacht sein, die nicht dem kommunikativen Gedächtnis, sondern vielmehr dem kollektiven und kulturellen Gedächtnis entstammen. [2] Abgesehen davon aber bringt Schwerhoff einen kompakten und auf 234 Seiten komprimierten sehr lesenswerten Einsteig in dieses Forschungsbereich, der dreierlei Vorteile hat: 1) setzt er den Fokus auf eine spezielle Fachdisziplin, die zwischen Soziologie, Geschichte und Kulturwissenschaften angesiedelt ist, 2) bestimmt er als einer der ersten fast kanonhaft Methoden, Theorien und Modelle zum Thema und 3) bringt er die Ergebnisse der aktuellen Forschungen in seinem Werk unter, beispielsweise eine Arbeit über die Transformation der Strafformen in Sachsen (Seite 102) oder die Geschichte der historischen Gerichtsreportage in verschiedenen Städten (Seite 195). Diese Forschungs-Einschübe werden auch farblich in Kästchen abgesetzt und lockern daher das Schriftbild gekonnt auf, während Quellenzitate in einem anderen Format vom gewöhnlichen Fließtext aufgenommen worden sind. Prof. Dr. Schwerhoff M.A., der zur Zeit an der Technischen Universität Dresden den Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit inne hat, untergliedert sein Buch indes insgesamt formal in sechs Kapitel. Das erste Kapitel befaßt sich mit einer Einleitung, in der Gegenstände und Begriffe der Fachwissenschaft (vor allem der Begriff Kriminalität) definiert werden, bevor er im zweiten Kapitel auf Themen, Disziplinen, Epochen und Modelle eingeht. Das dritte Kapitel widmet Schwerhoff dann den Quellen und Methoden der Kriminalitätsforschung, wobei er Gerichtsakten, Gaunerlisten, Verbrecherportraits und Kriminalstatistiken beschreibt (es fehlen leider die im Projekt von www.gaunerkartei.de entdeckten Steckbriefe späterer Zeit, so daß Schwerhoff die sehr reiche und vielfältige deutsche Steckbriefkultur des XIX. Säkulums leider gar nicht betrachtet) und auch quellenkritisch einordnet. Das vierte Kapitel befaßt sich sodann mit dem Spannungsfeld von Recht und Kriminalität, mit Normen, Gerichten, Strafprozessen, Strafen und den Funktionen der Justiz, bevor sich das fünfte Kapitel dem Verhältnis von Gesellschaft und Kriminalität widmet. Darin werden vor allem verschiedene Delikte in Hinsicht auf ihre gesellschaftliche Relevanz besprochen. Was beispielsweise bedeutet eine hohe Deliktrate an Eigentumsdelikten für eine historische Gesellschaft und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Im sechsten und letzten Kapitel schließlich kommt Schwerhoff auf die Verhandlung von Kriminalität in der im XIX. Jahrhundert zunehmend öffentlicher werdenden Sphäre von Kriminalitätsdiskursen (beispielsweise in der Rubrik Aus dem Gerichtsaal in den lokalen deutschen Tageszeitungen) zu sprechen. Schwerhoffs Einführung ist durchweg als gut geeignet zu bezeichnen. Er stellt Forschungsgestaltwandel und Perspektivenwechsel durch die Zeiten vor, betrachtet sowohl die Gegenstände als auch den Verlauf der Forschung zur Kriminalität, kann aber freilich nur eine erste grobe Einführung geben. Zum heute weitgehend vergessenen, bis 1918 aber hochaktuellen Thema Adelverlust als Ehrenstrafe sagt er beispielsweise gar nichts (immerhin erwähnt er aber auf den Seiten 128 und 129 den Zweikampf). Ebenso wenig rezipiert hat Schwerhoff leider die Forschung über bestimmte historische Verbrechertypen wie Orientbetrüger, Olivenprinzen, Industrieritter, Herzöge von Klein-Egypten oder Chilfer, Kracherfahrer, Goleschächter, Schottenfeller und Stipper, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. [3] Diese Art der Forschung - konstruierte verbrechensspezifische Feindbilder der Gesellschaft mit realem Hintergrund - steckt allerdings noch in den Anfängen, so daß sie wohl deswegen bisher kaum wahrgenommen worden ist. Positiv an Schwerhoffs Einführung ist aber, abgesehen davon und abgesehen von der Beschränkung, mit der Schwerhoff das Werk eben nur als Einführung konzipiert hat, insgesamt die gute Lesbarkeit des konzisen Werkes, die inhaltliche wie optische Gliederung in der Ausstattung des Campusverlages, die weiterführenden Literaturverweise und überhaupt das gelungen zu bezeichnende und erfolgte Agenda-Setting für eine interessante Crossoverdisziplin. Negativ freilich war, daß die ergänzenden Internetverweise mit Quellentexten und -beispielen, gekennzeichnet jeweils am Rande des Seitenspiegels mit einer stilisierten Computermaus, unter www.historische-einfuehrungen.de im Januar 2013 im Internet beim Verlag nicht abrufbar waren, doch mittlerweile sind sie es wieder im März 2013. Als Fazit kann man Schwerhoffs hinführendes Werk nur sehr empfehlen, nicht allein, um sich in diese spannende Fachdisziplin einzuarbeiten, sondern auch, um eigene Positionen zu finden, weil Schwerhoff immer auch kritische Stimmen laut werden läßt und Nachteile bei Ansätzen und Modellen zur Theorie nicht verschweigt. [4] Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (Jahrgang 2013) und stammt von Claus Heinrich Bill. Annotationen:
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