Institut Deutsche Adelsforschung
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Adel in der Schweiz früher und heute

Blicke in die Geschichte und Gegenwart einer traditionsreichen Sozialformation

Das Thema des Adels in der Schweiz mutet nur auf den ersten Blick sonderbar an, hat es doch auch in den alten Eidgenossenschaften zwischen dem Mittelalter und dem Ende des Ancien Régime starke soziale Hierarchien gegeben. Doch anders als in anderen deutschsprachigen Teilen Europas spielte die Aristokratie als politische Elite ab 1798 keine bedeutende Rolle mehr und ist deswegen im nachfolgenden kollektiven schweizerischen – und europäischen – Gedächtnis eher marginalisiert worden. So heißt es bei einem Anonymus (1925) treffend: 

„Mit dem Jahre 1848 war die politische Rolle des Schweizer Adels ausgespielt; er nimmt auch heute an dem politischen Leben des Landes keinen Anteil mehr und wendet sich freien Berufen zu; der junge Schweizer Aristokrat wird hie und da Berufsoffizier und Diplomat, gewöhnlich Advokat, Arzt, Förster oder sonst Unternehmer und Geschäftsmann. Mit der herrschenden Demokratie hat sich der Schweizer Adel ausgesöhnt, ohne sich mit ihr zu vermengen. Veranstaltungen, an denen Mitglieder des Adels und der Regierung teilnehmen, gibt es kaum; einen geselligen Verkehr beider Schichten auch nicht, was den Fremden einigermaßen wundernimmt, der geglaubt hatte, in der Eidgenossenschaft alle sozialen Gegensätze verwischt zu finden. 

Offiziell gibt es natürlich einen Adel in der Schweiz nicht, aber jeder Schweizer kennt die alten adligen Namen seines Landes, ebenso wie jene der alten bürgerlichen Geschlechter, die in seiner Geschichte eine Rolle gespielt haben. Wenn der Adel in der Schweiz aber auch keine offizielle Existenz führt, er wird doch von Sitte und Gesetz nicht vollkommen ignoriert. So wird den adligen Familien das `von´ gegeben, das als ein Bestandteil des Namens und nicht als Adelsprädikat aufgefaßt wird; ebenso ist es vorgekommen, daß Schweizer Gerichte, und zwar aus demselben Gesichtspunkt heraus, über das Einschreiten adliger Familien, die Führung des `von´ solchen Schweizer Bürgern absprachen, die aus dem Grund einer zufälligen Namensgleichheit sich die Führung dieser Partikel anmaßten und solchergestalt eigentlich ihren Namen veränderten.“ [1] 

An der grundsätzlich oben geschilderten Situation der Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen schweizerischen Adels hat sich indes auch für das Jahr 2018 nicht viel geändert. In der Schweiz führen heute die ehemaligen Aristokraten keine Adelstitel mehr, sind eher versteckt präsent, nach wie vor jedoch im Staatsdienst, als Akademiker, Winzer, aber auch als Schloß- und Herrenhausbesitzer. Im Gegensatz zur populären Randseitigkeit des vormaligen Adels hat sich aber die geschichtswissenschaftliche Forschung mit dem schweizerischen Adel durchaus befaßt. [2] Um die ehemalige Nobilität aber auch in breiteren schweizerischen Kreisen wieder wahrnehmbarer zu machen, ist der promovierte Politologe Andreas Z´Graggen angetreten. 

Er veröffentlichte mit seinem Agenda-Setting jüngst sein gefälliges Lese- und Bilderbuch „Adel in der Schweiz“. [3] Der reich bebilderte Band ist eine Sammlung von Aufsätzen, die zunächst von einem Überblick ausgehend, die Geschichte des schweizerischen Adels und seiner Blütezeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert (Seite 11) aufrollt. Sodann werden in kleinen Leseportionen, die jeweils nur über wenige Seiten gehen, einzelne Themen angerissen. Dazu zählen die Geschichte des Baseler Daigs, Erörterungen zu den Bereichen Ehe, adelige Disability Studies (Seite 61), Spionage (Seite 105), [4] Familie, Politik, Kirche, Obenbleiben (Seite 25, 28), Söldnervermietung, ausländischer Kriegsdienst, Militärdiensttraditionen, Frauenlebenswelten (auch als Militärunternehmerinnen; siehe dazu Seite 52), Sepulkralkultur (Seite 204-207), Friedhofsstätten, Grabsteine, Herrensitze, [5] Gerichtsherrschaften, Vogteien, Schlösser, Religion, Reformation, Tagsatzungen, Weinanbau, Patriziats- und Magistratenfamilien. Damit nicht genug enthält der Band ferner Vorstellungen der Adelsgesellschaften der Schildner zum Schneggen, des Constaffels, des Affenwagens, der Turniergesellschaften oder der Gesellschaft der Herren zu Schützen. 

Aufgelockert werden die vielen historiografischen Bemerkungen ferner durch neun Interviews lebender Nachkommen ehemaligen Adelsfamilien über deren Selbstverständnis, die zudem eindrucksvoll in Portraitaufnahmen in ihrer Lebenswelt, meist im privaten Rahmen in ihrem Zuhause, fotografiert worden sind.

Ein angehängtes Literaturverzeichnis (Seite 224-229) erschließt den sonst leider fußnotenlosen Haupttext, so dass Quellenverweise erst mühsam aus diesem Verzeichnis extrahiert werden müssen, sofern dies überhaupt möglich ist. Es schmälert dies den Wert des Bandes leider insofern, als die im Haupttext gemachten Angaben nicht mehr hinsichtlich ihrer Herkunft unterschieden werden können. Was also aus Quellen geschöpfte Erkenntnisse sind und was persönliche Meinungsäußerungen der Autor*innen, ist so bedauerlicherweise nicht nachvollziehbar. 

Dieser Umstand rückt das opulent ausgestattete Buch leider in den Rang eines monolithischen Werkes, das nun selbst unhinterfragbare Quelle werden könnte. Dagegen ist zwar grundsätzlich nichts einzuwenden, durch die mangelnde Möglichkeit einer einfachen Rückversicherung durch Fuß- oder Endnoten aber kann das Werk letztlich nur mit Vorsicht zitiert werden. Weiterhin ist bei der Lektüre zu beachten, daß es sich bei dem Buch um eine Hommage an die alten Adelsfamilien handelt, wie der Hauptautor in seinem Vorwort betonte, der seinen Gegenstand mit „wohlwollender Begeisterung“ wahrnahm und darstellen wollte (Seite 7). 

Die Stärken des Bandes liegen daher eher in den Innenansichten der heutigen Nachfahren der Adelsfamilien, in deren Selbstsicht und Identität, entweder unter dem Gesichtspunkt des „Kultes der Kargheit“, [6] des Understatements, der „eleganten Frugalität“, [7] aber auch der Verpflichtung (beispielsweise Seite 7 und 168) – und der Distanzierung vom ehemaligen eigenen Stand (exemplarisch dazu Bemerkungen zu „diesen Leuten“ auf den Seiten 21, 42, 44). Auch betont „bürgerliche“ (bisweilen ethnologisch anmutende) Fremdsichten auf den ehemaligen Adel seitens eines sich betont nicht zum Adel zählenden (und gerade dadurch vormodern-ständische Hierarchisierungen bestätigenden und aufrufenden) Autors (dazu siehe dessen Bemerkungen auf Seite 7) lassen sich hier zuhauf finden. So ist der Zug zu Anekdoten stark angelegt, werden besondere Ereignisse und Personen und weniger Strukturen und Entwicklungen hervorgehoben, Devotionalien präsentiert (so Seite 50-51).

Die Stärken des Bandes liegen in der Behandlung von Nischengebieten; hierzu zählen soziale Aufstiege (Seite 10), soziale Abstiege (Seite 17), Adelsverzichte (Seite 32) und weibliches Adelsleben. Auch wer eine leichte Einführung in die schweizerische Adelsgeschichte sucht, ist mit dem Band sehr gut bedient. Er lädt zudem dazu ein, manche der nur kurz angeschnittenen Bereiche zu vertiefen und kann daher nicht nur für interessierte Laien (und „Heimweh-1798er*innen“), sondern auch für die Geschichtswissenschaft eine lohnende Anregung sein, zumal die Ausstattung des Bandes durch Bindung und Lesebändchen gediegen, durch Einschübe zu Biographien – nahezu aller Jahrhunderte vom Mittelalter bis heute – farbig aufgelockert wird.

Diese Rezension stammt von Dr. Claus Heinrich Bill, M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio (A.M. G. ): Schweizer Adel, in: Neues Wiener Journal (Wien), Ausgabe Nr. 11241 vom 8. März 1925, Seite 18.
  • [2] = Siehe dazu die vielen Einträge zur Schweiz im Abschnitt „33. Adel im europäischen Umfeld“ bei Claus Heinrich Bill: Neue Adels-Bibliographie – Monographien, Sammelbände und Aufsätze des Erscheinungszeitraums Jänner 2000 bis Mai 2018 zum Adel in den deutschsprachigen Ländern, Sønderborg på øen Als 2018 (1. Auflage), Seite 374-387.
  • [3] = Andreas Z´Graggen (unter Mitarbeit von Barbara Franzen / Ruedi Arnold / Vera Bohren): Adel in der Schweiz – Wie Herrschaftsfamilien unser Land über Jahrhunderte prägten, gebunden, Zürich 2018 (erschienen im September 2018), Verlag Neue Zürcher Zeitung Libro, 232 Seiten,mit 139 farbigen und schwarz-weißen Abbildungen, Größe: 30,5 cm x 23,3 cm, Gewicht: 1500 Gramm, Preis: 54,00 Euro.
  • [4] = Dazu auch detaillierter die zeitgenössisch gefärbte Biographie bei Nomen Nescio: Glück und Ende der Spionin Benita von Berg, in: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 8 vom 25. Februar 1935, Seite 7-8; hier werden neben den v.Zollikofer-Altenklinges aus der Schweiz auch Töchter der Familien v.Natzmer und v.Jena erwähnt.
  • [5] = So werden auf den Seiten 216-221 auch in Text und Bild elf Herrensitze vorgestellt, die sich nach vor im Besitz alter Adelsfamilien befinden.
  • [6] = Dazu siehe Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2002, Seite 90-103.
  • [7] = Zu diesem Begriff siehe Gregor von Rezzori: Idiotenführer durch die deutsche Gesellschaft, Band I. (Hochadel), Reinbek bei Hamburg 1962, Seite 11.
 

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