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Zur Biographie des Marineoffiziers Hans Carl v.SchlickEin Leben in vier Welten zwischen Kaiserreich und NachkriegszeitZwei eher schlichte und für sich genommen unbedeutende Ereignisse kennzeichnen – heruntergebrochen auf die persönliche Ebene eines einzelnen Individuums – treffend die große soziokulturelle wie auch politische Transformation, die die Sozialgruppe des ehedem deutschen Adels nach dem ersten Weltkrieg durchlaufen mußte. Am 1. November 1922 gründeten einige Angehörige des ehemaligen deutschen Adels – der gerade 1919 per Weimarer Reichsverfassung von seinen letzten rechtlichen Privilegien getrennt worden war – die „Aktiengesellschaft für Grundstücks- und Hypothekenverwertung“ mit Sitz in Berlin. Das zugehörige ins Handelsregister eingetragene Stammkapital in Höhe von 5 Millionen Mark (Stand von 10. Februar 1923) hatte, neben Rechtsanwalt Dr. Max Roosen und anderen Beteiligten, auch Kraft Prinz zu Hohenlohe-Oehringen (Berlin) als Aktionär zur Verfügung gestellt. Aber der ehemalige Prinz war nicht der einzige Beteiligte an diesem Unternehmen, der dem historischen Adel entstammte. Als Aufsichtsräte standen dem Unternehmen ferner der Kapitän zur See außer Diensten Hans-Carl v.Schlick aus Berlin-Wilmersdorf sowie Ernst Prinz von Ratibor und Corvey aus Wilkendorf (Kreis Oberbarnim) zur Seite. [1] Das zweite Ereignis war eine schmerzhafte Konfrontation des eben erwähnten Marineoffiziers, allerdings einige Jahre früher, als dieser noch in Berlin im Reichsmarineamt aktiv tätig gewesen war. Darüber berichtete eine Berliner Zeitung im Jahre 1912: „Automobilunfall im Tiergarten. An der Kreuzung der Charlottenburger Chaussee und der Siegesallee kam es gestern in früher Morgenstunde zu einem schweren Zusammenstoss zwischen zwei Automobildroschken, von denen aber nur eine besetzt war. Durch einen Anprall wurde eines der Automobile umgeworfen und auch sonst erheblicher Schaden angerichtet. Die Scheiben gingen in Trümmer und verletzten die Insassen der Droschke, den 37 Jahre alten Korvettenkapitän v.Schlick, am Lietzenseeufer 8 zu Charlottenburg wohnhaft, die 80 Jahre alte Direktrice Emmy Schwan aus der Bayerischenstrasse 39 und die Direktrice Sophie Apfel. Alle drei Personen erlitten schmerzhafte Schnittwunden und Hautabschürfungen und mussten die Hilfe der Charité in Anspruch nehmen, Fräulein Schwan trug außerdem mehrere Beinquetschungen davon. Die beiden Chauffeure blieben unverletzt.“ [2] Beide Ereignisse können als besondere semiotische Formen der Modifikation des deutschen Adels gesehen werden. Denn in einem übertragenden Sinne waren sie Formen und Ausdrucksarten der bedeutendsten Auseinandersetzung, die der deutsche Adel ab 1919, nachdem er Namensbestandteil geworden war, durchzustehen hatte. Es war die Begegnung eines im Grunde vormodernen Rechtsstandes mit der egalisierenden Moderne, es waren Brüche und Kontinuitäten, Annäherungs- und Abstoßungsvorgänge, die hier vollzogen wurden. Der Verkehrsunfall stellt eine Kehrseite der Moderne und des Automobilismus dar, der mit schweren körperlichen und auch traumatischen Folgen einhergehen konnte und viele Tote und Verletzte forderte, nicht zuletzt auch unter Adeligen, die zu dieser Zeit noch neben großbürgerlichen Industriellen und Sportrennfahrern die Hauptnutzenden des prestigeträchtigen Automobils in einer Zeit des erst aufkommenden Massenautomobilismus waren. Die Gründung der Aktiengesellschaft wiederum beschreibt ein schwieriges und nicht konfliktfreies Hybridisierungsfeld arbeitslos gewordener ehemaliger deutscher Adeliger, die sich hier auf einem neuen Betätigungsfeld versuchten, nachdem ihnen mit dem Heer – oder wie in diesem Falle mit der Marine – eine wichtige berufliche Basis infolge der Truppenbeschränkung des Versailler Vertrages weggebrochen war. Unfall und Aufsichtsratsposten waren beides Indikatoren für das Erleiden und zugleich den Versuch des Gestaltens der Moderne durch eine verunsicherte deutsche Sozialgruppe, die mit der Novemberrevolution von 1918 vor gänzlich neue Verhältnisse gestellt worden war. Wie in einem Brennglas lassen sich diese Vorgänge vor allem und besonders gut an individuellen Beispielen belegen. Hans Carl v.Schlick (1874-1957) ist eines dieser Beispiele, für die der Militärhistoriker Dr. phil. Roland Kopp, der schon früher mit Soldatenbiographien publizistisch hervorgetreten ist, nun eine umfangreiche Biographie vorgelegt hat (Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main 2015, 391 Seiten, Preis: 69,95 Euro, gebunden, mit 49 schwarz-weißen Abbildungen). Kopp zeichnet denn auch detailliert – und auf einer sehr breiten Materialbasis jahrelanger Recherchen in zahllosen staatlichen wie privaten Archiven und gedruckten Quellen – den Lebensweg Schlicks nach, der als Marineoffizier 1918 in ein Sinnvakuum geriet, das erst wieder gefüllt werden mußte. Sozialisiert im Kaiserreich als bürgerlicher Aufsteiger – er war erst im Kindesalter durch Verleihung des preußischen Adels an seinem Vater, einen Gutsbesitzer und Offizier in Schlesien, geadelt worden – und sodann als Kadett, wurde er standesgemäß Marineoffizier. Am Ende der „Belle Epoque“ aber brach für ihn eine Welt zusammen, versuchte er als Konterrevolutionär die Weimarer Republik zu beseitigen, arrangierte sich aber doch mit ihr als Halbkapitalist, konterkarierte sie aber auch wieder als konservativer Verbandsfunktionär, war Antisemit, besaß Schnittmengen mit dem Nationalsozialismus, lehnte dabei aber „Hitler und Consorten“ ab, wurde Flüchtling, der ehedem materielles ebenso wie kulturelles Kapitel verloren hatte und verbrachte seinen Lebensabend in Schweden, der Heimat seiner zweiten Frau. Welche Kontinuitäten und Verwerfungen, welche Ambivalenzen im deutschen Adel in diesen Epochenwechseln stattfanden, läßt sich paradigmatisch an Schlicks Lebensweg ablesen, auch wenn seine Biographie nur eine unter vielen war, die in ihrer Gesamtheit und in anderen Beispielen auch anders verlaufen waren. Gleichwohl gilt, daß Schlick einen nicht unwichtigen Typus bei dieser Suche des historischen deutschen Adels nach Neuorientierung verkörpert hat. Kopp zeichnet dessen Vita minutiös nach, Schlicks Lebenslauf wird mit allen wichtigen beruflichen und privaten Stationen dokumentarisch und wenig methodisch geschildert (Seite 9-120). Kopp erwähnt jedenfalls keine besondere Methodik, was vermutlich damit zu tun hat, daß es sich bei der Biographie um ein persönliches Liebhaberprojekt des Verfassenden und nicht um eine akademische Qualifikationsschrift handelt. Kernstück und das Besondere an der Biographie ist auf der Mehrzahl der Seiten die Transkription zweier Tagebücher, die lückenlos und ausführlich den Zeitabschnitt März bis Juni 1945 betreffen (Seite 145-287), also die Übergangsphase zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit, die zugleich auch eine Phase der inneren Lebensbilanz Schlicks war. Vorangestellt hat Kopp dann aber doch noch ein eher analytisches Kapitel über die „Strukturelemente“ der beiden Tagebücher (Seite 125-144), in denen er das Welt- und Menschenbild seines Protagonisten zu ergründen sucht. Hier sind Kopp treffende Beobachtungen gelungen, die den Mikrokosmos eines vormaligen Adeligen aufdecken, seine Erklärungsmuster, seine Feindbilder in der Krisenzeit von „Untergang“ und „Zusammenbruch“, seine Sorgen um seine Familie und Ausreise nach Schweden, auch seinen Neid auf andere „Klassen“ und Besitzende zeigen, ebenso seine psychologischen Copingstrategien der Viktimisierung des eigenen Sozialgruppe und die Herstellung einer negativ konnotierten Fremdgruppenhomogenität ans Tageslicht bringen. Hinzu kommen aber zugleich auch Spuren von Konflikten mit seinem Bruder, bei dem Schlick auf dem mecklenburgischen Gut Müsselmow [3] als „halbvertriebener“ Flüchtling – immerhin noch auf familiärem Grunde und in der Herrenhausumgebung – lebte, bevor er als „gänzlicher“ Flüchtling in Hamburg unterkam. Kopps Werk ist somit eine beobachtende Aufzeichnung einer persönlichen wie kollektiven Krisenzeit, einem System der Schuldigensuche angesichts einer als „Ende“ empfundenen Zeit, aber auch die Aufzeichnung von Suizidgedanken, wie sie – nicht von Schlick, aber von anderen Angehörigen des historischen deutschen Adels ebenso wie von Handwerkern oder Beamten – vielfach durchspielt und auch durchgeführt worden sind. [4] Die Tagebucheintragungen erscheinen vor diesem Hintergrund wie ein Abgesang auf eine Zeit, die endgültig zur Neige ging, die eine jahrzehntelang gehegte Wertewelt (der Glaube an bessere Rassen, den Adel als Idee, die rechtliche Ungleichheit der Menschen, den Kampf der „Anständigen“ und ihre – nach Thorstein Bundle Veblen – „ehrenvollen Gewalttätigkeiten“) zum Einsturz brachte. Kopp hat mit dieser Transkription und der überaus tiefgehenden historischen Kontextualisierung – er hat in über 1.380 Fußnoten möglichst alle Personalien der überhaupt je in den Tagebüchern erwähnten Personen oder Umstände erläutert – ein weiteres Mosaiksteinchen zur mittlerweile doch recht ansehnlichen Menge an Fluchtberichten aus der Sozialgruppe des ehemaligen deutschen Adels hinzugefügt. [5] Für eine später noch zu schreibende umfängliche Geschichte dieser vormaligen Adelsgruppierung im Dritten Reich und in der unmittelbaren Nachkriegszeit [6] wird das Werk daher unentbehrliche Hinweise auf innere Verfaßtheiten liefern, die unter anderem an Schlick symbolträchtig abgelesen werden können. Obwohl sich viele Schilderungen Schlicks aus den Tagebüchern auf einem Niveau materieller Sorge bewegen, sind doch immer wieder auch Sinnkonstruktionen Schlicks zur Wiederherstellung seines Kohärenzgefühls enthalten, die ein nachgerade persönliches Licht auf die Seelenlage und Denkweise dieses ehemaligen Seeoffiziers werfen. Diese durchaus reichhaltig vorhandenen mentefaktischen Weltkonstruktionen machen das Werk zu einem wertvollen Beitrag der deutschen Adelsforschung. Es ist daher vielleicht nicht ganz unzutreffend, wenn man Schlicks Verkehrsunfall in der Frühzeit des Automobilismus als Analogie zum Bedeutungsverlust des Adels sieht. Zwar war der Adel im Kaiserreich vielfach der sich formierenden Moderne gegenüber aufgeschlossen, so bei der Fliegerei oder den Automobilen (beides eine Art „Kavallerie“ moderner Verkehrstechnik und daher auch beim Adel beliebt), dennoch aber erfolgte keine innere Angleichung von Überlebensstrategien. Der ehemalige Adel nach 1919 wurde vielmehr in der Moderne als sperriges vormodernes Konzept von den Betroffenen eher nicht aristokratisiert. Wie bei Schlicks Unfall wurden Angehörige des vormaligen Adelsstandes vielmehr Opfer der unaufhaltsamen Formierung der Moderne, die neben den technischen Bruchstellen – Urbanisierung und Industrialisierung – auch soziale Bruchstellen aufriß. Wenn Schlick, wie Kopp feststellt, am Ende seines Lebens auch die von ihm gern bemühte Klage der Bitternis über das deutsche und sein persönliches Schicksal als deutscher Rentner in Schweden ablegte, so mag diese Versöhnung mit den Verhältnissen einer persönlichen Sinnrekonstruktion entstammen; für die soziofaktische Gruppe des vormaligen Adels war dies die einzige Möglichkeit, Verlorenem nachzutrauern. Erst der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik ab 1948 schuf wieder neue Möglichkeiten einer in den Augen der besprochenen Sozialgruppe sinnvollen neuen gouvernementalen Betätigung nach den Flüchtlingswirren; diese jedoch wurden von Schlick a conto seiner Auswanderung und seines vorgerückten Alters – bei Kriegsende war er bereits 71 Jahre alt – nicht mehr mitgestaltet. Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A. Annotationen:
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