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Samoanische Völkerschauen im Fin de SiècleAnmerkungen zur Darstellung von deutschen Südsee-AlteritätsbildernEin mittlerweile ausgestorbener Beruf, der im späten XIX. und beginnenden XX. Säkulum aktuell war, in der Belle Epoque, ist der der Völkerschauunternehmer. Dies waren durchwegs männliche geschäftstüchtige Unternehmer mit globalen und interkontinentalen Beziehungen, die zu temporären „Völkerschauen“ [1] Vertreter ausländischer Kulturen in deren traditionellem Lebensumfeld zeigen wollten. [2] Hierzu wurden durch Anwerbeverträge oder auch in Zwangsarbeit infolge informeller Herrschaftsausübung Indigene aus anderen Kontinenten dazu verpflichtet, zumeist einige Monate lang mit dem Unternehmer auf Tournee durch Europa zu gehen, um hier in Menagerien, ähnlich oder auch kombiniert mit zirzensischen Darstellungen oder Tierausstellungen, den europäischen Hunger der Moderne nach Amusement und Ablenkung zu stillen und den Völkerschauunternehmer „reich“ zu machen. Völkerschauen wurden derart Mode, daß sich die einzelnen Unternehmer das Feld streitig machten und sich in Qualität und Quanität ständig zu übertreffen suchten. So warb beispielsweise der Zirkus Charles im Sommer 1914 mit unausgesetzt wie in einem Feuerwerk aufeinander folgenden sprachlichen Superlativen: „Charles, Europas grösste Zirkusschau bringt die Verzehnfachung der bisher gewohnten `weltberühmten´, `vornehmsten´ und `leistungsfähigsten´ Zirkusinstitute! Eine grandiose Zusammenfassung der zirzensischen Künste aller Völker und Zeiten in blendender, glänzender Aufmachung. Ein imposantes, Achtung und Bewunderung heischendes Riesen-Material an Menschen, Tieren und Inventarien. Ein rollendes Reich mit eigener Verwaltung, mit eigenen Werkstätten, mit einer eigens erdachten Technik und den verblüffendsten Wundern der rastlos schaffenden Industrie. Ein grandioses Werk im stets mobilen Zustand, eine Stätte der Belehrung, der Anregung und Unterhaltung, verpackt in einigen hundert Transportwagen. Drei Extrazüge führen eine Fabelwelt ins graue Reich der Wirklichkeit ... 600 Personen und 400 Tiere bilden den Troß der kühnsten Schau des Erdenballes. Ein Aufgebot der Besten, eine Auslese der Berufensten bildet den Train dieser internationalen Völkervereinigung ... über 100 echte Sioux-Indianer, Mexikaner, Trapper und Cowboys in dem gewaltigsten Manegeschaustück der Gegenwart. Ungeheure Kautionen mußte Direktor Charles für die Zustimmung der amerikanischen Regierung zur Freigabe der durch Jahrzehnte gehüteten seltenen Rothäute hinterlegen. Bare 200.000 Mark mußten für die sichere Heimkehr der gehegten echten Sioux-Indianer deponiert werden, welche als die tollkühnsten Reiter der Welt gelten und im Ensemble mit ihren Landesbrüdern ein Reiterschauspiel bieten, wie es in solcher Vorwegenheit, Tollkühnheit und urechten Romantik noch von keinem Zirkus der Welt geboten werden konnte, nicht nur echte Indianer, sondern außerdem noch ganze Trupps von Marokkanern, die zähen markigen Gestalten des afrikanischen Nordens; Chinesen, die bezopften Himmelssöhne ihres entthronten Herrn; Indier, die naturbegüterten Zauberer, Gaukler und Fakire; Araber, die glutäugigen Rächer ihres Volkes. Eine komplette Völkerschau von ungeheurem unterhaltendem und belehrendem Wert. Kurz gesagt die Einlösung all der tausendfältigen, bunten Versprechungen, die seine Reklame in Stadt und Land verheißt. Charles bringt Freude, bringt Fröhlichkeit, Lust und Leben! Charles bietet Aufklärung, Belehrung und Unterhaltung für jedes Alter und jeden Stand! Charles will mit Ernst und Nachdenken betrachtet werden, mit Verständniß beurteilt sein. Charles will es durch billige Eintrittspreise auch dem wenig Bemittelten ermöglichen, seiner seltenen Anregungen in allen Einzelwirkungen teilhaftig zu werden! Dann nennt er sich mit Fug und Recht ein schätzenswerter, durch keinerlei veraltete Anschauungen zu hemmender Kulturfaktor, dann soll er und dann wird er sein die wahre Schau der Massen! Eröffnung: Anfang Juli!“ [3] Bereits in dieser großformatigen Ankündigung wurden verschiedene Motive angesprochen, die für eine Betrachtung im Sinne der `Postcolonial Studies´ [4] furchtbar gemacht werden können. Neben der Aussicht auf pekuniären Gewinn wurden hier auch volkspädagogische Gründe angeführt, Intellektuelle ebenso wie Mittelstand und Arbeiterschaft angesprochen. Der Zirkus wollte damit gleichermaßen alle vier verschiedenen Formen des Lusterlebens nach Hausmanninger [5] fördern: Die `delectatio sensibilis´ sollte durch Gerüche, Farben und Formen bedient, die `delectatio emotionalis´ durch das Indenbannziehen der fremdartigen Umgebung um die Zuseher*Innen befördert, die `delectatio cognitionis´ durch Erkenntisse der komparatistischen „Völkerverständigung“ und die `delectatio reflexiva´ durch die beruhigende Erkenntnis, nach dieser latent eigene Sinn- und symbolische Ordnungssysteme gefährdenden Alteritätserfahrung auch wieder in die gewohnte Umgebung - „ins graue Reich der Wirklichkeit“ - zurück zu können, angeregt werden. Zugleich aber wird auch in dem Tatsachen vollziehenden Sprechakt von Charles der Sensations-, Waren-, Tier- und Sachcharakter der „ausgestellten“ Indigenen deutlich, die als `homo ferus´ diametral dem europäischen `homo technologicus´ gegenübergestellt wurde, damit sich dieser zu einem `homo discens´ wandeln konnte. Aber nicht nur der Zirkus Charles, sondern auch die Berliner Gebrüder Marquardt waren Völkerschauunternehmer, die in den Jahren 1895 bis 1914 durch Europa zogen und ähnliche Ethnien präsentierten. Hierüber hat das Staatliche Museum für Völkerkunde im Januar 2014 eine bis Oktober 2014 dauernde Ausstellung eröffnet, zu der auch ein Buch erschienen ist, das hier besprochen werden soll; der Band kostet 39,90 Euro und hat 216 Seiten. Das hardcovergebundene Werk, herausgegeben von Hilke Thode-Arora und 2014 im Münchener Hirmerverlag unter dem Titel „From Samoa with love? Samoa-Vökerschauen im deutschen Kaiserreich. Eine Spurensuche“ erschienen, enthält neben zwei Grußworten seiender und ehemaliger Herrschergeschlechter (Samoa und Bayern) elf Aufsätze zum Thema, bringt dazu teils großformatige schwarz-weiße und farbige Ablichtungen, auch einige wenige Bilder der Exponate. Inhaltlich rekonstruiert der Band nicht nur die beiden großen Samoa-Völkerschautouren mit den Stationen durch den europäischen Kontinent, bildet Ergebnisse aus Interviews mit Nachfahren und Wissenschaftlern der samoanischen Teilnehmer*Innen der Völkerschau ab, sondern konnte auch Samoaner*Innen auf alten deutschen Photographien identifizieren und berichtet auch über die interkulturellen Begegnungen und Konflikte, selbst intergruppale samoanische Auseinandersetzungen und Perspektiven. Dies alles könnte den Band in seinem Duktus in den Bereich der `Subaltern Studies´ [6] nach Ranajit Guha, Dipesh Chakrabarty und Shmuel Eisenstadt rücken, doch geht er darüber hinaus, indem er in interkultureller Manier mit dem Bemühen um enzyklische Hermeneutik beide Seiten (wenn man denn eine dichotomosierende Perspektive zweier „Völker“ einnehmen will) zu Wort kommen läßt. Daher werden „die Saomoaner*Innen“ durchaus nicht als `subaltern group´ unter Bestätigung einer eben niedrigen Stellung in einer wie auch immer gedachten Hierarchie dargestellt, sondern mit eigener Agency behandelt und geschildert. [7] Auf diese Weise wird z.B. offenbar, daß die Samoaner*Innen ihre Völkerschaureise nicht als Arbeitnehmer sahen, sondern als diplomatische Mission an den Kaiser, den König Tupua Tamasese Lealofi dann auch 1911, nach langem Bitten, bei einem Manöver oder Empfang die Hand küssen durfte, ohne daß es dabei aber offensichtlich zu einem tiefergehenden diplomatischen Austausch gekommen wäre (Seite 165). Für die Diasporaforschung [8] bemerkenswert sind die Bildung wechselseitiger und miteinander verschränkter Diasporen in Samoa und Deutschland, dazu zählten nicht nur der temporär auf Samoa lebende Völkerschauunternehmer Fritz Marquardt (*1862) mit seiner französisch-samoanischen Frau Marie Denise geborene Devère, sondern auch der in samoanischen Diensten stehende `Minister´ Brandeis, der eine samoanische Häuptlingstochter geehelicht hatte. [9] Von besonderer Bedeutung bei den Völkerschauen in Deutschland waren die Frauen aus Samoa und deren Inszenierung zu Alteritätsobjekten der europäischen Moderne. Es überstieg dabei nicht nur rein quantitativ die Zahl der Frauen bei weitem die der mitreisenden Männer der Völkerschauen, sondern ihre öffentliche Wahrnehmung war vor allem eine sexualisierte Perspektive, die in einer vorwiegend männlichen Welt voyeuristische und auch durchaus bisweilen handgreifliche Aneignungspraktiken zur Folge hatte. Samoanerinnen wurden daher oft als „Mädchenschönheiten“ in ihrem Exotismus [10] und in exotistischen Settings (z.B. mit dem großen "Wasserrutsch“) präsentiert, die es Männern ermöglichte, in einer (öffentlich) entsexualisierten Epoche ihre Phantasien auszuleben oder zumindest entsprechende Projektionsflächen zu generieren. Derlei Aneignungspraktiken wurden auch in deutschsprachigen Feuilletons bedient, produziert, prolongiert und verbreitet, beispielsweise 1915 in der Erzählung „Tiotosa Aigai“, einer „Humoreske von Sophus Flöte“, die in einer untersteiermärkischen Zeitung abgedruckt wurde: „Mein Freund Fritzchen war doch nun einmal so sehr dafür, nämlich fürs Exotische. Sein Arbeitszimmer hatte das Gepräge eines internationalen Völkerkundemuseums. Neben der stachlichen Drahtpeitsche Tippu Tipps, des letzten Sklavenhändlers, starrten malaiische Speere, die so giftig waren, daß man dieselben beileibe nicht allzu genau ansehen durfte, und wenn man gar über einige merkwürdig erhabene Muster des großen Perserteppichs stolperte und entsetzt: `Hilfe, was ist das?´ ausschrie, antwortete Freund Fritzchen mit überlegener Selbstverständlichkeit: `Das sind Ameier, Bemeier, Cemeier, meine Lieblingsschildkröten.´ Dabei blickte er verzückt auf seine indischen Pantoffeln herab, die ein Geschenk des Maharadscha von Mahamalaipur sein sollten. Das Schicksal war so liebenswürdig einsichtig gewesen, meinem Freunde ein Vermögen zu gestatten, das gerade in dem richtigen Verhältnisse zu seinen exotischen Leidenschaften stand. Eines Tages - ich vergesse nie den strahlenden Sommertag - kam er mir entgegen, leuchtend wie die Sonne selbst: `Nun trat das Wunder in mein Leben! Freue dich mit mir! Im kommenden Frühling führe ich die schönste Königstochter von Samoa heim als Gattin.´ Und das schier Unglaubliche sollte in der Tat Wirklichkeit sein: Tiotosa Aigai, in London, Lausanne und Lippspringe europäisch erzogen, hatte sich mit ihrer Pensionsmama in ein heimliches Tal des Südharzes verirrt. Freund Fritz, der die Strapazen eines allzu länglichen Sommersemesters in eben demselben kleinen idyllischen Kurorte unterbrochen hatte, gab sich sofort als Führer, Beschützer und - Freier her. Er hatte ja immer an dieses verlästerte Märchen von der Liebe auf den ersten Blick geglaubt ...“ [11] Mit dieser Humoreske wurde nicht nur Orientalismus und Exotismus bedient, sondern auch erneut die Zwitterstellung der Wahrnehmung von Samoanerinnen als „Menschware“ angesprochen: „Fritzchens" Sammelleidenschaft für `das Andere´ hatte seine Krönung in einem weiteren `Exponat´ gefunden, einem sinnlich aufgeladenen `Kunstwerk´, das allein seiner `delectatio sensibilis´ - und durch die Verschriftlichung als Bühne auch der aller Leser*Innen der Zeitung im ersten Weltkrieg - dienen sollte. Samoa war daher hier Ausweg, Ziel- und Fluchtpunkt aus dem Unbehagen der Moderne, die sich gerade anschickte, sich mit dem ersten großen Massenkrieg selbst ad absurdum zu führen und in eklatanter Weise die negativen Folgen einer Modernisierung aller Lebensverhältnisse aufzuzeigen. In diesem Krieg wurde die Janusköpfigkeit der industriellen Revolution evident, denn Maschinen brachten nicht nur eine größere Mobilität und Leistungssteigerungen der Gesellschaften hervor und eine größere Vielfalt in den Produktenhandel, sondern war auch in der Lage, als Todesmaschinerie eingesetzt zu werden: Der sorgsam in vielen Jahren zuvor gezüchtete Flaschengeist der industriellen Vernichtung war mittels des Gaskrieges (ab 1914) erlebbare Wirklichkeit geworden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß zu dieser Zeit des drohenden Untergangs der Belle Epoque `die Südsee´ und mit ihr auch Samoa als Projektionsfläche von Sehnsüchten auftrat und diese auch mit weiblicher Konnotation aufgeladen wurde. So nahm es nicht Wunder, daß Samoanerinnen zeitgenössisch im Fin de Siècle bisweilen als „Marzipanpüppchen mit Chocoladenüberzug“ bezeichnet wurden (Seite 96). Der Band greift diese Konnotation auf und dekonstruiert den zugehörigen
Diskurs, so daß auf diese Weise auch hinter die Kulissen dieser Sehnsüchte
geblickt werden kann. Dabei steht das Völkerkundemuseum auch in einer
besonderen Plficht. Entstanden aus ehedem kolonialer Absicht, haben derartige
Institutionen einen Paradigmenwechsel vollzogen. Vom anfänglichen
exotistischen, dann ethnologischen Interesse können sie heute im XXI.
Säkulum und der zunehmenden Globalisierung wichtige Aufgaben im Bereich
der interkulturellen Verständigung leisten, müssen dann aber
eben stets ihre alten Kontexte mitdenken, überdenken, neu konnotieren.
So kann es durchaus überraschen, daß bei den qualitativen Interviews, die mit Nachfahren der Samoaner*Innen geführt wurden, die menschenverachtenden Praktiken der Völkerschauen gar nicht thematisiert wurden (Seite 201), in der dortigen Erinnerungskultur also offensichtlich keinen hervorragenden Platz einnehmen. Hier wird deutlich, daß intrakulturell doch durchaus ganz voneinander differenzierende Perspektiven bestehen und der Topos des `schlechten Gewissens´ der Europäer, mit dem diese ihre heute Kolonialzeit betrachten, in Samoa nicht (mehr?) geteilt wird, sondern dort ganz andere Aspekte - Abenteuerlust et cetera - im Vordergrund stehen. Dies zeigt, daß die Betrachtung von derlei Völkerschauen durchaus eine hohe Ambiguitätstoleranz nötig hat und erst aus der Vielfalt aufgetretener Sichtweisen ein Kaleidoskop entsteht, welches mit schlichten dichotomistischen Mustern nicht beschrieben werden kann, auch wenn der Mensch gern kontingenzreduziert denkt, um Entitäten besser einordnen zu können und für sich sinnhaftig zu machen. Daß also Kohärenzgefühle [12] in unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich hergestellt wurden, zeigt nicht zuletzt dieser Münchener Ausstellungsband beispielhaft - und vorbildlich. [13] Diese Rezension stammt von B.A. Claus Heinrich Bill (2014). Zugehörige Annotationen:
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