Institut Deutsche Adelsforschung
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Religion zwischen Restauration und Säkularisierung?

Neues Handbuch des Metzler-Verlags erschienen (2014)

Im Jahre 1866 druckte das deutschsprachige Südtiroler Volksblatt ein Debatte der Volksvertretung des Landesteils Tirol an, welches sich mit einem scheinbaren Kernproblem der Modernisierung im XIX. Jahrhundert befaßte, das aber bereits mit der Aufklärungszeit geboren worden war: 

„In der 24. Landtagssitzung vom 3.Februar wurde die Regierungsvorlage über die Bildung protestantischer Gemeinden in Tirol verhandelt. Das Religions-Comite beantragt auf die letzte Entscheidung hin: I. Ein Landesgesetz mit der Bestimmung: Die Bildung einer selbstständigen nichtkatholischen Gemeinde oder Filiale, von welcher Bildung das Recht der Ausübung des öffentlichen Gottesdienstes abhängt, kann innerhalb der Landesgränzen der gefürsteten Grafschaft Tirol von den kompetenten Behörden nur über Einverständniß des Landtages bewilligt werden. 2. Eine Adresse an Se. Majestät den Kaiser. Diese Adresse lautet nach dem Antrag des Comites folgendermaßen: Allergnädigster Kaiser und Herr! Mit allerhöchster Entschließung vom 17. Nov. 1865 haben Euere k. k. Majestät an Allerhöchstihre Regierung den Auftrag ergehen zu lassen geruht, dem Tiroler-Landtage zur verfassungsmäßigen Behandlung ein Landesgesetz vorzulegen, wodurch die Petita I. und II.des Landtagsbeschlusses vom 25. Febr. 1863 betreffend die Bildung evangelischer Pfarrgemeinden und die Ausübung ihres Kultus in Tirol, der endlichen Erledigung zugeführt werden sollten. 

Der treugehorsamste Landtag fühlt sich verpflichtet, hiefür seinen wärmsten Dank an den Stufen des Thrones Euerer k. k. Majestät niederzulegen. Indem dieser hochherzige Akt landesväterlicher Vorsorge die Erhaltung der Glaubenseinheit in Tirol als eine Landesangelegenheit wiederholt anerkennt: sind Euere k. k. Majestät den Fußstapfen Allerhöchstderer Ahnen treu geblieben, die als Landesfürsten durch ihren Glaubenseifer dem Volke von Tirol vorangeleuchtet, und in dessen Herzen jene Flamme des Patriotismus angefacht haben, die als treue Anhänglichkeit an das Allerhöchste Herrscherhaus in der Nacht des Unglückes noch jedesmal am hellsten hervorgebrochen ist und wie ein glückverheißendes Gestirn in derselben geleuchtet hat: In diesem Akte landesväterlicher Vorsorge ist die Hoffnung begründet, es werde in dieser wichtigsten Angelegenheit ein Gesetz zu Stande kommen, das im Ein klänge mit der geheiligten Sitte des Landes ist und darum auch die Bürgschaft einer gesegneten Wirksamkeit in sich trägt. 

Mit tiefem Schmerz vermißte jedoch der treugehorsamste Landtag in der Regierungsvorlage die Gewährung des IV. Petitums des Landtagsbeschlusses vom 25. Febr. 1863, betreffend die Beschränkung der Besitzfähigkeit der Nichtkatholiken in Tirol. Dieses Petitum betrifft einen Hauptpunkt. Selbst das Allerhöchste Handschreiben Euerer k. k. Majestät vom 7. Sept. 1859 hat dies anerkannt, indem darin gerade die Ansässigmachung der Protestanten in Tirol als jene Frage bezeichnet wurde, die der Landtag der umsichtigsten und reiflichsten Erwägung gewissermaßen dem Zufalle preisgegeben. Eine solche Preisgebung können wir mit unserem Gewissen nicht vereinbaren. Indem wir berufen sind, für das Landeswohl in der Gegenwart zu wirken, sind wir auch für die Zukunft verantwortlich. Eine solche Preisgebung können wir auch vor unseren Komittenten nicht verantworten. 

Das Volk von Tirol hat seinen Willen, das Nationalgut der Glaubenseinheit zu bewahren, mit allen Mitteln kundgethan, die einem loyalen Volke zu Gebote stehen. Es hält diesen seinen Wunsch für einen vollkommenen berechtigten und es wird nie begreifen, wie und auf welche Weise es ein Recht sollte verloren haben, dessen sich seine Väter erfreuten und für das sie Gut und Blut geopfert haben. Durch die dem Lande stets zu Theil gewordene Huld ermuthiget, nahen wir [uns] daher vertrauensvoll dem erhabenen Throne Euerer Majestät, unserer tiefgefühlten Besorgniß Ausdruck gebend, denn nur Euerer Majestät ist es möglich, die Gefahr abzuwenden, welche in dieser Hinsicht dem Lande droht. Diese Bitte des treugehorsamsten Landtages wird zwar den vielfachsten Mißdeutungen und Verunglimpfungen begegnen. Wir sind darauf gefaßt. Denn wir leben in einer Zeit, welche uns die völlige Trennung von Staat und Kirche und auf die Säkularisirung des Staatsgesetzes bis zum Atheismus hinarbeitet. 

Einer solchen Zeit klingt natürlich die Sprache des Tiroler Volkes, mit der dasselbe sich für die Erhaltung der Glaubenseinheit begeistert, fremd und unverständlich. Daß jedoch unsere Bitte von Euerer k. k. Majestät nicht wird mißverstanden werden, dessen sind wir gewiß. Euere k. k. Majestät kennen das Land und die Gesinnung seiner Bewohner. Die sicherste Bürgschaft dafür liegt in den erhabenen Worten, welche Euere Majestät am ewig denkwürdigen Jahrtage der 500jährigen Vereinigung Tirols mit Österreich zu den versammelten Männern Tirols gesprochen haben: `Mit Gottes Beistand werden die Tiroler noch Hunderte und Hunderte von Jahren fest und treu zu ihrem Kaiser stehen; fest und treu wird auch der Kaiser zu Seinen Tirolern halten.´ Eurer k. k. apost. Majestät treugehorsamster Landtag. Innsbruck, 28. Jän. 1866. Benedikt v. Riccabeau, Fürstbischof von Trient, Obmann. Vinzenz Gasser, Fürstbischof von Brixen, Berichterstatter.“(Südtiroler Volksblatt [Bozen], Ausgabe Nr.11 vom 7. Februar 1866, Seite 1-2)

Was in diesem Bericht deutlich wird, ist nicht nur die geschickte Lavierung des Landtages und seiner katholischen Protagonisten, sondern auch eine Instrumentalisierung der Säkularisierungsthese zu ihren Gunsten. Die Verweltlichung und Profanisierung der Tiroler Gesellschaft sahen die beiden bischöflichen Berichterstatter bereits mit der Gewährung des protestantischen Glaubensausübung gegeben. Die Andeutungen gingen daher dahin, die Abwehr des Protestantismus noch im XIX. Jahrhundert mit einer drohenden Auflösung der Glaubenseinheit zu begründen. Das dystopische Schreckensszenario einer teils nicht mehr rein katholischen Bevölkerung und der damit befürchtete künftige Machtverlust der katholischen Kirche waren in diesem Falle offensichtlich Grund genug, die Säkularisierungsthese ins Feld zu führen.

Um eben dieses Spannungsfeld bemüht sich nun auch ein neues interdisziplinär angelegtes Handbuch des Metzlerverlages in Stuttgart. Der hardcovergebundene und 380 Seiten starke Band mit dem Titel „Religion und Säkularisierung“ wurde 2014 herausgegeben von dem Religionsphilosophen Thomas W. Schmidt und der katholischen Theologin Annette Pietschmann; er ist für 59,95 Euro im Buchhandel erwerbbar. Er befaßt sich mit einer seltsam anmutenden, in der Wissenschaft aber breit diskutierten Frage, namentlich dem Aspekt, ob gesellschaftliche Modernisierung zu einem Verschwinden von Religion führt oder aber ob es in einer säkularisierten Welt zu einer Rückkehr der Religionen kommen würde? Diese Fragen muten indes seltsam an, weil sie sehr engsichtig gestellt worden sind. Denn es lassen sich keine empirischen Beweise dafür finden, daß die Religion an sich, d.h. der Glauben an Übersinnliches, in der Moderne „verschwunden“ sei.  Ebenso wenig kann daher auch von einer „Rückkehr“ von Religion die Rede sein, weil das, was nicht „verschwindet“, auch nicht „zurückkehren“ kann. Es muß daher als hoch erstaunlich bezeichnet werden, daß sich Gesellschaft und Wissenschaft mit diesem angeblichen Phänomen befassen. 

Abraham Maslow (Philip Zimbardo: Psychologie, Berlin 51992, Seite 352) hat in seinem Modell menschlicher Bedürfnisse gezeigt, daß der Wunsch nach transzendentaler Verankerung eine anthropologische Grundkonstante sei, eine Behauptung, die auch empirisch nachweisbar ist: Jede Gesellschaft auf der Welt hat je eigene Formen übersinnlichen Glaubens, die der Sinnbildung und damit dem Kohärenzgefühl jedes Menschen und jeder Gruppe dienen, wenn auch diese Glaubenssysteme höchst unterschiedlich sind. Die so feststellbare Dauerhaftigkeit religiösen Glaubens läßt die Diskussion um „Verschwinden“ und „Wiederauftauchen“ müßig erscheinen, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß diese epistemischen Muster, die in der Vergangenheit oft genug von interessierter Seite axiomatisiert wurden, durchaus als Instrumentalisierungswerkzeuge Gebrauchswert besaßen, was nicht zuletzt auch der eingangs geschilderte Tiroler Fall zeigt. 

Es mag an Emile Durkheim und Max Weber, die Mitbegründer dieser These der Säkularisierung waren, gelegen haben, daß sie so breit rezipiert und aufgegriffen worden ist. Allein läßt sie sich bereits damit falsifizieren, wenn man auf die große Mannigfaltigkeit religiöser Ausdrucksformen und Glaubensgemeinschaften der Moderne sieht. Denn wenn die Welt im XX. Jahrhundert säkularisiert wäre, gäbe es ja keine religiösen Äußerungen mehr. Das Gegenteil läßt sich ziemlich leicht nachweisen. Besonders die esoterischen Bereiche haben viele Glaubensanteile, die früher auf wenige große Kirchen monopolisiert waren, heterogenisiert. Deswegen aber gleich von einer Säkularisierung zu sprechen, mag argumentative Gründe haben, hat aber mit Realität religiöser Vielfalt nichts zu tun. Prinzipiell könnte man sagen, daß alle Kennzeichen der sich formierenden Moderne vom XVIII. bis XX. Jahrhundert auch vor dem religiösen Gebiet nicht Halt machten, sondern es zunehmend ergriffen; dazu gehören Fragmentarisierung und Pluralisierung, nicht aber ein gänzliches Verschwinden religiöser Phänomene. „Wandlung“ sollte man hier nicht mit „Eliminierung“ oder nachfolgender „Wiederauferstehung“ verwechseln. Von einem monoperspektivischen und vor allem apozyklischen Standpunkt aus kann diese Verwechselung allerdings schnell stattfinden.

Der vorliegende Band widmet sich trotzdem der Säkularisierungsthese, was insofern auch gerechtfertigt ist, weil sie lange Zeit nicht nur den kirchenpolitischen Tageskampf zwischen verschiedenen Konfessionen, sondern auch die Forschung bestimmt hat. Die These kann somit als ein Zeitbild ihrer Epoche und der Multiplikationsträger ihrer Protagonisten gesehen werden, hat auch auf diese Weise einen diskursiven Behandlungswert. 

Die Herausgebenden haben löblicherweise, obwohl sie teilweise aus der katholischen Theologie stammen, nicht den Versuch unternommen, kontingenzreduzierend zu wirken, sondern durch die verschiedenen Beiträger*Innen dialektische Positionen versammeln lassen. Sie gliedern ihr Werk in drei große Teile, die sie mit den Überschriften „Konzepte“, „Kategorien“ und „Konflikte“ versehen haben. Im ersten Teil geht es um die Theoretika des Wechselverhältnisses zwischen Sakralisierung und Profanisierung, indem die Modelle von Weber, Habermas, Hegel, Troeltsch, Löwith, Blumenberg, Berger, Luckmann, Rousseau, Luhmann, James Dewey, Casanova, Taylor, Riesebrodt, Pollack sowie auch Eisenstadt in einzelnen Artikeln vorgestellt werden. Dabei kommt dem Modell von Eisenstadt mit seinen multiplen Modernitäten, erst im Jahre 2000 entwickelt, eine besondere Bedeutung zu. Denn Eisenstadt lehnt jede Dichotomisierung zwischen Moderne und Vormoderne ab, sieht vielmehr Aktualisierungstendenzen am Werk, die sich, je abhängig nach Zeitgeist, Gesellschaft und Kulturkreis im religiösen Feld auswirken können, nicht gesetzmäßig, sondern individuell (Seite 164-171). 

Auch wenn man darüber streiten kann, ob denn antike „Achsenkulturen“ als gemeinsame Basis der Menschheitsgeschichte der Ursprung der Diversität war oder ob nicht doch das bei Maslow konstatierte menschliche Bedürfnis nach Transzendenz und Sinnhaftigkeit für das Religiöse in seinen je verschiedenen Formen verantwortlich für das Religiöse an sich ist, so stellt doch dieser erste Buchteil eine Fülle von veralteten und aktuellen (weil im Diskurs oft genannten) Positionen dar, die die profanisierten Religionsfragen erörtern und darstellen. 

Der zweite Buchteil beleuchtet 17 Lemmata und setzt sie gekonnt in Beziehung zum Thema; es sind dies Themen wie „das Böse“, „Kritik“, „Rationalität“, „Moderne“ et cetera. Der dritte Buchteil schließlich widmet sich sechs Konfliktbereichen des Themenspektrums. Auch hier wird erneut offenbar, mit welchen erstaunlichen dialektischen Fragen sich manche Wissenschaftler*Innen auseinandersetzen, z.B. mit der scheinbaren Dichotomie von Glauben und Wissen. Der Philosoph und Katholische Theologe Sebastian Maly weist daher in seinem Beitrag „Glauben und Wissen“ (Seite 291-304) wohltuend auf die eher geringen Unterschiede zwischen diesen beiden Entitäten hin (Seite 294). Viele Diskurse lösen sich dabei als Scheingefachte auf, wenn man sie - in interkultureller und interreligiöser Manier - nur enzyklisch genug betrachtet.

Insgesamt besehen präsentiert der Band eine ausgewogene Mischung von Bereichen, die im Zuge angeblich oder tatsächlich vollzogener Verweltlichungen des Religiösen in der Vergangenheit stattgefunden haben beziehentlich auch noch in der Gegenwart stattfinden oder behauptet werden. Insofern ist das genannte Handbuch als Grundlage wissenschaftlicher Forschungen, namentlich auch für eine kulturwissenschaftliche orientierte historische Forschung von Belang und Wichtigkeit. Es kann auf zitierfähiger wissenschaftlicher Basis, zudem betrachtet aus unterschiedlichen Perspektiven, mit dazu beitragen, das teils ontoformative, teils auch tatsächliche Phänomen profanisierter Sakralität zu charakterisieren und zu vermessen.

Vor diesem Hintergrund kann auch der eingangs zitierte Beitrag aus der Gefürsteten Grafschaft Tirol eingeordnet werden. Das dort festgestellte Aufkommen der Vorboten einer Ökumene wurde 1866 von der Tiroler katholischen Kirche in fuktionalistischer Hinsicht als drohendes Zeichen der Säkularisierung verstanden, jedes Abweichen von „Glaubenseinheit“ als Entkirchlichung befürchtet und beschworen. Dieser Befund läßt sich mithilfe des Handbuchs wissenschaftlich gut im Themenkreis der scheinbaren Antagonistik zwischen „Religion“ und „Welt“ verifizieren und vermessen - und das gilt auch für sehr viele andere Konfliktbereiche, die in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion um Religionen und Modernisierung so vielfältig auftreten.

Diese Rezension erscheint zugleich auch in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.


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