Institut Deutsche Adelsforschung
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Novitäre Forschungsfelder der Ritologie

Neuerscheinung auf dem Gebiet der Ritualforschung

Rituale wurden schon seit längerer Zeit in den Kulturwissenschaften untersucht und sind durchaus keine neue Disziplin mehr. Was aber sind Rituale genau? Pröve gab dazu folgende Definition: „Rituale sind  kulturelle Äußerungen, die ihren Sinn in der Erhaltung und Bestätigung, der Festigung und Bekräftigung sozialer und kultureller Ordnung haben. Zu den Merkmalen zählen etwa standardisierte Wiederholungen von Handlungen, dramatisches und expressives Pathos. In Ritualen dominiert eine Prozessabfolge, die von den an ihnen Beteiligten zwar aktiv initiiert und vollzogen wird, von der diese aber im Akt des Vollzugs selbst erfasst werden.“ [1] 

Allerdings ist dies nur eine von vielen Definitionen. Die Bandbreite an Begriffsbeschreibungen macht einerseits den Reiz der Ritualforschung aus, die aus unterschiedlicher Verfaßtheit heraus agiert, hält andererseits aber auch die Schwierigkeit bereit, festzulegen, was genau ein Ritual sein könne und was nicht. Deutlich wird dabei bereits, daß es sich bei Ritualen um ein breites Forschungsfeld mit mannigfaltigem Anwendungsgebiet handelt.2 So besehen ist es hoch erfreulich, daß die Ritualforschung - oder Ritologie - sich mittlerweile stark ausdifferenziert hat und neue Forschungs(sub)felder konturiert hat. Diese wurden nun jüngst abgebildet und erörtert in einer hier vorzustellenden Neuerscheinung von drei Herausgebenden, der Heidelberger Medienethnologien Christiane Brosius, dem Heidelberger Indologen Axel Michaels und der Bayreutscher Religionswissenschaftlerin Paula Schrode. Gemeinsam publizierten sie 2013 das Werk „Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen“ als Herausgebende, erschienen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen mit 240 Seiten, die für 24,99 Euro im Buchhandel erwerbbar sind.

Das paperbackgebundene Buch (mit der ISBN 978-3-8252-3854-4) ist als Sammelband gleichartig angelegter Beiträge konzipiert worden und versammelt recht neue Bearbeitungsfelder der Ritologie, die es sowohl einzeln als auch in ihrer Kombination miteinander ermöglichen, detaillierte Blicke auf einzelne Untersuchungsgegenstände zu werfen. Daher enthält der Band eine Fülle von Anregungen für Theorien, Modelle und Typologien zu diversen Ritualarten und -spezifika. Dabei werden zum Teil auch erstmals bestimmte Untersuchungsfelder neologistisch benannt, die sich in den letzten Jahren als interdisziplinäres Forschungsfeld - teils auch avant la lettre - konstituiert hatten (z.B. Ritualmacher) und die daher erst jetzt einen Namen erhalten haben. 

Insgesamt werden in dem Band 27 Problemfelder besprochen, wobei in jedem handbuchähnlichen Artikel je unterschiedliche Verfasser*Innen stets a) die Begriffsgeschichte und Definition des Begriffs, b) Diskussionen, c) Beispiele aus der Forschung und d) Literaturnachweise darlegen, so daß hier zu jedem Themenfeld luzide Einführungen gegeben werden, die zu eigenen Forschungen anregen können. 

Im Einzelnen handelt es sich um die Themenfelder Agency (Individualhandlungsmacht), Ästhetik, Erfahrungsdynamik, Ritualklassifikation und Typologie (mit 13 Formen von Ritualen), Liturgie, Macht und Herrschaft, Medialität, Performanz, Rahmen und Rahmungsprozesse, Reflexivität, Ritual und Mythos, Ritualdesign, Ritualdynamik, Ritualfehler, Ritualgegenstände und Materialität, Ritualgrammatik, Ritualisierung, Ritualkritik, Ritualmacher, Ritualökonomie, Ritualraum, Ritualtransfer, Ritus und Ritual, Tradition (Tradierung), Verkörperung und Wirksamkeit. 

Welche Fülle von Untersuchungsmöglichkeiten sich mit diesen teils ganz neuen Feldern (z.B. dem der Ritualfehler oder der Ritualmacher) ergeben, soll nun exemplarisch einmal am Fall einer Zeitungsmeldung aus dem Jahre 1817, wenn auch nur kursorisch, dargestellt werden, die die Einweihung des noch heute auf dem alter Kirchhof der Schinkelkirche in Groß Beeren (heute im Landkreis Teltow-Fläming) erhaltenen Obelisk-Denkmals für die in den Befreiungskriegen gefallenen Soldaten  als historischem Schlachtenort thematisierte. Zu dieser erinnerungskulturellen Maßnahme damaliger Eliten hieß es:

„Berlin. In Verfolg Allerhöchsten Befehles wurde am 28. das in der hiesigen Eisengießerei verfertigte und sehr schön gelungene Denkmal der Schlacht von Groß Beeren, an Ort und Stelle auf das feierlichste eingeweiht. Garde- und Grenadierkorps führten in Gegenwart der königl. Prinzen und Prinzessinnen, ein Manövre [sic!] aus, was um 10 Uhr Morgens an drei verschiedenen Punkten anfing und sich mit dem Zusammentreffen der Colonnen-Attaquen auf Groß-Beeren gegen 12 Uhr endigte, nicht nur einen sehr schönen Effekt machte, sondern wie man sich auch absichtlich Mühe gegeben, das Bild eines denkwürdigen Tages möglichst treu zurückrief. So hatte z.B. damals das Ostpreußische Grenadier-Bataillon die Attaque auf den Windmühlenberg - so wie das damalige Pömmersche Grenadier-Bataillon den Kirchhof am Eingang des Dorfes genommen, und als auch die letzte Attaque beim Manövre [sic!] daselbst statt fand, wurde Ap[p]ell geblasen und die genannten Bataillone befanden sich wirklich auf demselben Fleck, wo sie damals siegreich geblutet hatten; - das Letztere stand dadurch noch wenige Schritte vor dem errichteten Monument entfernt, was jetzt noch verschleiert und nicht zu erkennen war. 

Mit einer, wie die heutige Berliner Zeitung sich ausdrückt, nur in der Preußischen Armee möglichen Schnelle, wurden alle, einzelne Abtheilungen des Garde- und Grenadierkorps wieder vereinigt, und standen, bald in einem offenen Quarre geordnet, vor dem Denkmal; - die Tambours gaben das Zeichen zum Gebet und plötzlich stand das erwähnte Denkmal, durch Maschinerie entschleiert - ernst und ehrwürdig da; - die kräftige Melodie: Lebt Gott ihr Christen allzugleich, wurde nun von dem Sängerkorps zur Einleitung der religiösen Feier v.[on Strophe] 1 bis 3 gesungen, worauf ein Gebet folgte, was von dem Garnison-Prediger Ziehe mit Kraft und Wärme vorgetragen - von der ganzen Menschenmasse, wie von den Truppen selbst, mit entblößtem Haupte, nicht ohne Rührung gehört werden konnte. Die Tambours gaben nun das Zeichen zur Beendigung des Gottesdienstes, und als die Gewehre wieder aufgenommen waren, sprach der Obrist v.Klüx ... einige Worte als Soldat zu seinen Waffenbrüdern, und forderte sie dann auf, dies Denkmal nun militairisch und mit dem Schlachtenruf zu begrüßen, der die Preußischen Waffen so oft zum Siege geführt hat; - die Gewehre wurden präsenti[e]rt, und kaum hatte er das Wort: Hurrah ausgesprochen, als die ganze Versammlung, wie aus einem Munde, diesen Ruf mit heiliger Rührung kräftig erneuerte, und die Kanonen des ganzen Corps in demselben Augenblick auf einmal abgefeuert wurden; - die zahlreich und so gut besetzten Musikchöre bliesen sämmtlich: `Heil Dir im Siegeskranz´ und so wurde das zwei- und dreimalige Hurrah mit einer vollen Lage der ganzen Artillerie ächt-militairisch und kräftig begleitet. Die Hautboisten bliesen immerfort, während [die Gewehre] geschultert und das Quarre geöffnet wurde, und so entfernten sich die Truppen nach verschiedener Richtung mit demselben Gesang und mit gleicher Liebe und Treue für ihren König im Herzen. 

In dem nächsten Gehölz, dicht dabei, ruheten die Truppen eine Stunde aus, um die Erfrischung die ihnen für diesen Tag extraordinair bewilligt war - zu genießen, und kehrten dann, singend und fröhlich mit der Überzeugung zurück, daß es ein neidenswerthes Loos bleibt, auf einem siegreichen Schlachtfelde zu enden, und daß ein solcher Grabstein - wie jenes Monument den Gebliebenen wird - nicht für Millionen auf irgend eine Art zu erlangen ist. Heil dem Könige, dessen Gefühl auch die Entschlafenen so zu lohnen versteht, und wahrhaft glücklich der Soldat, der sich für einen solchen König schlagen darf! Der zur Bewachung des Denkmals zu Groß-Beeren bestellte Invalide ist von der Landwehr und zählt 13 Wunden.“ [3]

In diesem Quellentext sind nun zahlreiche Ansätze zur Ritualforschung enthalten, von denen hier einige beispielhaft vorgestellt werden sollen, um Anregungen für ritologische Untersuchungen zu geben, die sich aus dem genannten Sammelband unmittelbar ergeben. Zunächst handelt es sich bei dem vorgestellten Akt um einen doppelten Akt der Ritualität. Erstens fand das Einweihungsritual vor Ort 1817 in Groß-Beeren statt (Verkörperung, Performanz), zweitens wurde darüber als Ritual berichtet und damit für Nichtanwesende ein zweites Ritual erschaffen (Medialität). Durchführende des Rituals waren speziell dazu abgeordnete Autoritäten und Ausführende, denen infolge sozialer Ungleichheit und Amtsinhaberschaft ein hierarchisches Verhältnis von Befehlsempfängern und Befehlsgebenden innewohnte, aber auch aktiv zugeschrieben wurde (Herrschaft). Das Geschehen wurde zudem durch bestimmte Handlungen in bestimmten Räumen mit Sinn erfüllt (Ritualraum), die sich vor allem aus dem leibhaftigen Nachspielen der einstmals realen militärischen Vorgänge ergeben hatten (Bedeutung). Die ganze Feier folgte einer festgelegten Ordnung im Ablauf (Liturgie) und war, trotz der weltlichen Orientierung am Kriegsthema, transzendent überhöht worden, indem die Kirche hinzugezogen wurde und sich in patriotischer Weise hinzuziehen ließ (Mythos). Zugleich erfolgt weiters eine „Heiligung der Stätte“ durch das Bewachen des Denkmals eines Veteranen, der die Authentizität der verflossenen Schlacht sinnbildlich auf die Aura des Denkmals übertrug (Mythos).

Die Zusammensetzung der Ritualbestandteile von Märschen, Gesängen, Musik, Ansprachen sowie der „maschinellen“ Denkmalsenthüllung zeigte die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Akteure auf, die auch auf der zweiten Ebene der Journalisten, die über das Ereignis berichteten und es in der Öffentlichkeit weiter verbreiteten, stattfand (Materialität, Agency, Ritualmacher). Mögliche Mißgeschicke im Ablauf der Denkmalseinweihung oder auch Vorbehalte gegen die Feierdurchführung in ihrem symbolischen Charakter oder gegen die angefallenen Kosten (Ökonomie) wurden in der Zeitungsquelle nicht berücksichtigt oder kamen nicht vor (Ritualfehler, Ritualkritik), um nicht das journalistisch sich ergebende moralische Fazit - den Aufruf, auch künftig sein Leben für den Staat zu geben - zu gefährden (Tradition, Wirksamkeit). 

Dies wären indes nur einige der erwähnten Untersuchungsfelder, die hier auch  lediglich an der Oberfläche gestreift werden konnten, aber bereits in dieser Streifung verdeutlichen, welches Potenzial der Sammelband in sich trägt. Mit ihm wird es möglich, sich aktuell über die Forschungsbreite der Ritologie zu informieren und zahllose Ansatzpunkte für die eigene Forschung zu ermitteln. Ein kombiniertes Sach- und Personenregister erschließt den preisgünstigen Band zudem wirkungsvoll, der insgesamt nicht nur den neusten Forschungsstand repräsentiert, sondern auch einen wichtiger Wegweiser im Theoriedschungel der Ritologie darstellt.

Diese Rezension erschien zuerst in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (Jahrgang 2014) und stammt von Claus Heinrich Bill.

Annotationen:

  • [1] = Ralf Pröve / Carmen Winkel (Herausgebende): Übergänge schaffen. Ritual und Performanz in der frühneuzeitlichen Militärgesellschaft, Göttingen 2012, Seite 10
  • [2] = Siehe dazu auch die doch teils stark voneinander divergierenden Behandlungen des Themas bei Ansgar Nünning (Herausgebender): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart 52013, Seite 661-662; bei Ansgar Nünning (Herausgebender): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, Seite 190-192; bei Johannes Kopp / Bernhard Schäfers (Herausgebender): Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden 102010, Seite 241-243; bei Harald Baer / Hans Gasper / Johannes Sinabell / Joachim Müller (Herausgebende): Lexikon nichtchristlicher Religionsgemeinschaften, Freiburg im Breisgau 2009, Seite 196-198; bei Jan-Dirk Müller (Herausgebender): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band III., Berlin 2003, Seite 305-308; bei Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2003, Seite 73-81; bei Sina Farzin / Stefan Jordan (Herausgebender): Lexikon Soziologie und Sozialtheorie, Stuttgart 2008, Seite 244-247
  • [3] = Frankfurter Ober-Post-Amts-Zeitung, Ausgabe Nro. 244 vom 1. September 1817, Seite 1

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