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Aushandlungen von Herrschaft im frühneuzeitlichen rheinischen AdelMacht und Ohnmacht des Adels zwischen Reformation und NapoleonDie große innere Kohärenz, die die Gruppenbildung des rheinischen Adels pflegte, wird in vielerlei Zeugnissen deutlich, auch in der Mitteilung der Begründung einer ritterschaftlichen Schule, einer westdeutschen Ritterakademie, um besonders die religiöse Fundierung der Schüler zu unterstützen, sie auf ein Leben in Führungspositionen vorzubereiten und mit bestimmten konservativen Werten zu sozialisieren. So hieß es seitens eines Kölner Anonymus (1841): „Schon seit einigen Jahren ist es die Absicht der rheinischen Ritterschaft, in dem ehemals fürstl. Salmschen Schloß zu Bedburg (4 Stunden von hier) eine Art von Gymnasiumschaft – eine adelige Akademie, wie es hier genannt wird – für die Söhne des ritterlichen Adels einzurichten. Durch bedeutende Summen, die sie dafür zusammengebracht, ist es sehr wohl fundi[e]rt. Dem Vernehmen nach soll es nächstens eröffnet werden. Derjenige, den sie als Studienrektor ausersehen haben, hat schon vor der wissenschaftlichen Prüfungs-Kommission der Universität zu Bonn sein Colloquium pro recotoratu gehalten und ist nun für jene Stelle dem Ministerium des Kultus präsenti[e]rt worden, daß ihn ohne Zweifel genehmigen wird. Auch alle Lehrer jenes Institutes müssen, wie die königl. Gymnasiallehrer, ihre Examina machen und dürfen nur mit Genehmigung der k.[öniglichen] Schulbehörden dort eintreten. Der bekannte Hr. v. Bekedorf, der früher zum Direktor der Anstalt bestimmt war, aber seitdem im k. Ministerium des Innern in der Abteilung für Agrikultur-Angelegenheiten angestellt worden ist, wird, wie es es heißt, doch auf einigt Zeit nach Bedburg kommen, um um die ersten Einrichtungen und Anordnungen mit zu berathen. Ob die Adeligen wohl gethan haben, ein solches Institut zu errichten, darüber sind hier natürlich die Meinungen getheilt; das ausgesprochene Motiv derselben ist, ihre Söhne nur solchen Lehrern anzuvertrauen, von deren echtreligiösen und echtmonarchischen Grundsätzen sie überzeugt sind, wofür sie in den Staatsexamen, die nur die Kenntnisse zu ermitteln bestimmt sind, nicht hinlängliche Bürgschaften zu sehen glauben. An der Spitze des rheinischen Adels steht in dieser Angelegenheit außer dem Grafen v. Mirbach der Frhr. Max v. Loe. Es ist derselbe, der beim rheinischen Landtag durch seinen Toast, durch seine Rede in der erzb.[ischöflichen] Angelegenheit und durch sein Votum in der Frage über Preßfreiheit Aufsehen gemacht hat.“ [1] Auch wenn die geplante Ritterakademie Bedburg konservativen Werten und einer Königstreue verpflichtet war, so kann doch allein deren Einrichtung nach dem Leistungsprinzip, mit vorgeschriebenen Laufbahnwegen der Lehrenden, als Zugeständnis an die Moderne verstanden werden, als kollektive Strategie der Gruppenbildung namens „Adel“, „oben zu bleiben“, sich bürgerlichen Kriterien und einer rationalen Bürokratie zu unterwerfen. Diese Flexibilität machte es dem Adel immer wieder möglich, elitebildend aufzutreten, erfolgreich Ansprüche auf Führung zu erheben. Dies war im „langen 19. Jahrhundert“ mit seinen Megatrends der Konstitutionalisierung, Emanzipation, Reichseinigung und Industrialisierung nicht anders als in Zeiten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Auch hier suchte der rheinische Adel perpetuierende Herrschaftsmöglichkeiten zu ergreifen, zu erhalten, auszubauen, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen oder mit ihnen zu verhandeln. Dies war umso besser (wenn auch nicht zwangsläufig leichter) möglich, als der rheinische Adel, anders als der ostelbische Adel, seine ruralen Güter oftmals nicht 1918 oder 1945 verloren hat, weder erheblich durch Landesteilabtretungen, wie in Schlesien oder Nordschleswig, beeinträchtigt worden ist, noch durch Enteignungen, Flucht und Vertreibung von Grund und Boden getrennt worden ist. Hier gab es mithin im Westen viel eher eine Kontinuität der Sozialverhältnisse als in Ostelbien. Vielfach sitzen daher auch noch im 21. Jahrhundert Nachkommen des ehemaligen Adels auf Land, das bereits von ihren Vorfahren beherrscht und bewirtschaftet worden ist. Doch in der Pflege der Memoria als Beitrag zu einem aufrechterhaltenen Selbstwirksamkeitsglauben und einer kollektiv behaupteten Identität unterscheiden sich rheinischer und ostelbischer Adel kaum; beiden gemein ist eine ausgesprochene Vorliebe des Weberschen „traditionalen Handelns“ im Sinne der Aufrechterhaltung der Verfügungsgewalt über Ressourcen, seien sie materieller oder immaterieller Art. Und zumindest auf den rheinischen Adel, wie diese fortlaufende Gruppenbildung hier kurzerhand genannt werden soll (auch wenn sich diese Formulierung unreflektiert stark an die Selbstsicht der Gruppenbildung anlehnt), trifft nicht zu, was noch Mansfield (2019) für Teile des ostelbischen Adels feststellte. Dieser würde sich nur minderheitlich für die wissenschaftliche Erforschung seiner Historie interessieren. [2] Das Gegenteil ist der Fall, so verfügen auch rheinische Familien des historischen Adels noch vielfach über mannigfaltig und umfangreich überlieferte Archivbestände, haben sich zusammengeschlossen, pflegen ihre Akten, Verzeichnisse und schriftlichen Überlieferungen in gemeinsamen Adelsarchiven, [3] die als Widerstand gegen die Krisen der Adelsgruppenbildung des 20. Jahrhunderts errichtet wurden, einmal in der Weimarer Republik, dann in der Bundesrepublik. Aus diesen Archiven mit ihrem reichhaltigen Fundus, der vielfach noch ungehoben ist, derzeit rund 150 Adelsarchive umfaßt, publizieren engagierte Protagonist*innen und universitär Forschende immer wieder auch einzelne Antworten auf alte wie neue Fragestellungen. Somit ist das Rheinland aus regionalhistorischer Sicht ein oft und gern benutzter Betätigungsraum der Adelsforschung, erwies sich die Forschung zum „Rheinlandadel“ bisher als äußert produktiv. [4] Zu diesen produktiven Ergebnissen der Forschung zählt auch der jüngst erschienene Band „Zwischen Macht und Ohnmacht. Spielräume adeliger Herrschaft im frühneuzeitlichen Rheinland“. [5] Denn trotz des recht guten Forschungsstandes bleiben immer noch Desiderate der Forschung übrig. Der hier anzuzeigende Band hat sich einigen dieser Fehlstellen gewidmet, die sich vor allem mit der Frage des sozialen Handelns zwischen Strukturen und individuellen Akteur*innen beschäftigen, der Frage nachgehen, wie Herrschaft ausgeübt und aufrechterhalten werden konnte. Dabei ergab sich ein reiches Spannungsfeld der im Rheinland oft zersplitterten Kleinstterritorien der Frühneuzeit, die sich mit Verhandlungen und Aushandlungen von Macht mit den Untertanen einerseits und den Durchsetzungsansprüchen der territorialstaatlichen Bestrebungen von aufsteigenden Landesherren andererseits auseinandersetzen mußten. Dabei spielen dann, wie die elf Beiträge des Bandes zeigen, die auf eine 2017 abgehaltene wissenschaftliche Konferenz auf Schloß Ehreshoven im Rheinland zurückgehen, auch Fragen der Hexenverfolgung und des möglichen Konfessionswechsels oder -verbleibs eine bedeutende Rolle, die im Band in den Einzelbeiträgen am Beispiel etlicher Herrschaften und Unterherrschaften gekonnt ausgelotet wird. Auch das Bottom-Up-Verfahren der Unterhandlung mit den Untertanen, die der reinen Auffassung eines Drop-Down-Verständnisses von Herrschaft widerspricht, wird hier ausreichend berücksichtigt und erörtert, Herrschaft als immer wieder gemeinsam gestalteter Prozeß permanenter allelopoietischer sozialer Ordnungsfindung betrachtet, ausreichend Komplexität und Kontingenz dieser Formen von Herrschen und Beherrschtwerden werden beachtet. Man wird daher vielfach auch für den rheinischen Adel annehmen können, was Tammen (2017) mit „gelebtem Pragmatismus“ und “automatischem Aushandeln“ für andere (norddeutsche) Adelsregionen als üblichen Sozial- und Rechtsvollzug bezeichnet hat. [6] Von besonderem Interesse erscheint in dem Band indes im Zuge neuerer Diskussionen um die Konstruktion von Adel ein Beitrag zur Entstehung des rheinischen Adels (Seite 19-73). Hier wird allerdings dann doch nur eine eher strukturelle Ebene bedient, nach Institutionen, Landesherren und Korporationen gefragt, nicht aber die fortwährenden adelskonstituierenden adelig-nichtadeligen Wechselwirkungen betrachtet, die als Voraussetzung für eine Humandifferenzierung namens Adel gelten können. [7] Dennoch kann konstatiert werden, daß der Sammelband auch mit dem Fokus auf der Aushandlung von Herrschaft und auf der Frage der beständigen gegenseitigen Versuche der Einflußnahme der vielen Beteiligten zur Erhaltung oder Erlangung von Zugriffsrechten auf Grund, Boden und Arbeitskraft, Vieh und Menschen, Geld und sonstigen Ressourcen ein reichhaltiges Spektrum von den Forschungsstand ergänzenden und präzisierenden Perspektiven anbietet. Das nähere Analysieren von Governance-Vorgängen – das Aushandeln von Politik in Mehrebenensystemen – erweist sich damit nicht nur für die Spätmoderne des 21. Jahrhunderts, sondern auch schon für die rheinländische Frühneuzeit als fruchtbarer Ansatz. [8] Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
[8] = Zur Governance der Jetztzeit als Analysemodell siehe Katrin Möltgen-Sicking / Thorben Winter (Hr.): Governance Eine Einführung in Grundlagen und Politikfelder, Wiesbaden: Springer VS 2019, 296 Seiten. |
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