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Einführung in die Praktische Religionswissenschaft

Rezension eines kumulativen und innovativen Sammelbandes aus dem Jahre 2008

Ein bißchen wehmütig beginnt es, das Vorwort des hier zu besprechenden höchst informativen Bandes zweier ausgewiesener Religionswissenschaftler aus Köln und Jena. Denn es heißt wegen des gesellschaftlichen »religious turn« Abschied zu nehmen von der Säkularisierungsthese der Postmoderne, von der für manchen Forschenden liebgewordenen Vorstellung des Nischendaseins der Religionswissenschaft als einer Geisteswissenschaft der Philologen und reinen Textinterpretationen, von der Monodisziplinarität des Religionsbegriffes und des Faches infolge des »cultural turn« in den Kulturwissenschaften.

Das Motto heißt: Weg vom trauten, einsamen und damit ungefährlichen Schreibtisch hinaus ins abenteuerliche und beobachtbare »Feld«! Aber die Chancen stehen gut, diese Abschiede in ein positives Willkommen neuer Themenfelder, neuer Methoden und neuer Ansätze im Sinne der Globalisierung und Vernetzung der Wissenschaften untereinander zu verwandeln. Dazu beitragen möchte zweifelsohne der vorliegend zu besprechende Band, herausgeben von Prof. Michael Klöcker und Prof. Udo Tworuschka mit dem Titel: »Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf«, erschienen im Böhlau-Verlag in Köln im Jahre 2008 und erhältlich zum Preis von 18,90 Euro.

Was hat man sich nun darunter vorzustellen? Im Gegensatz zur »Religionswissenschaft« soll die »Praktische Religionswissenschaft« keine rein philologische, sondern eine kulturwissenschaftliche Wahrnehmungswissenschaft sein, die sich anschickt, ein eigenes Profil in der religionswissenschaftlichen Forschungslandschaft zu etablieren. Es geht nicht mehr nur um die Heiligen Schriften und deren Kommentierung und Einordnung, sondern zunehmend auch um den Kultus, um vergleichende Fragen der religiösen Praxis der Menschen und der Gesellschaft. [1] Das Adjektiv »Praktische« wurde allerdings erst von Udo Tworuschka erfunden (zur näheren Fachdefiniton siehe Seite 16 in dem besprochenen Werk), andere Attribute wurden 1997 und 2007 von anderen Autoren mit »angewandte« und »engagierte« vorgeschlagen, haben sich aber bisher nicht etabliert. Inwieweit dies für den Tworuschkaschen Begriff stattfinden wird, sei dahingestellt.

Unbestritten aber ist, daß der Band vielfache Ansätze vereint und ein Kaleidoskop eröffnet, welches noch vor Jahrzehnten in der Forschung zur Religion nicht denkbar gewesen wäre. Der Kanon der Methoden der »Praktischen Religionswissenschaft« ist offen. Das kann als eine große Freiheit verstanden werden. Aber: Das Forschungsset muß je nach erkenntnisleitenden Interessen der Forschenden neu angepaßt werden und erfordert mehr Fingerspitzengefühl und die Auswahl der jeweiligen Methoden muß besser begründet werden. Dieses Verfahren bietet dennoch große Chancen auf eine Erweiterung und Befruchtung der bisherigen Forschung und so ist es nicht verwunderlich, daß sich die »Praktische Religionswissenschaft« auch mit Aspekten der Religionssoziologie, Religionsethnologie, Religionsphänomenologie, Religionsökonomie, Religionsphilosophie, Religionshistorie, Religionsgeographie und der Religionspsychologie beschäftigen kann. Diese Öffnung der Disziplin kann man auch an der »Deutsche Vereinigung für Religionsgeschichte« ablesen. Im Jahre 1950 begründet, wechselte sie 2005 den Namen; nun heißt sie dementsprechend und dem »cultural turn« folgend »Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft«. [2]

Auch der zu besprechende Band wird diesem Anspruch der Fachübergreifung gerecht. Er gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil behandelt in sechs Kapiteln theoretische, methodische und inhaltliche Zielsetzungen der Praktischen Religionswissenschaft. Hier werden neue Herangehensweisen erläutert und mit Einblicken skizziert, die sich beispielshalber auf die Nutzung und Kritik hörbarer Quellen zur Religion beziehen, auf feministische Religionssicht, auf die Erforschung von atheistischer und agnostizistischer (sprich sophistischer) Religionskritik oder auf die qualitativen Methoden von Befragung und Beobachtung (übernommen aus den Sozialwissenschaften) beziehen. Hier, bei diesen neuen Ansätzen, wäre beispielsweise auch die bisher nur stiefmütterlich behandelte Erforschung religiösen Prestiges einzuordnen, wie sie der Soziologe Thorstein Veblen schon 1899 als Pionier betrieben hatte. [3]

Weitere neue oder erweiterte Forschungsthemen stehen aber zugleich auch ins Haus. Dies könnten religiöse Phänomene in nichtreligiösem Kontext sein: Sport als Religion, Politische Religionen, religiöse Souveniers , das Eindringen religiöser Lebenskonzepte in die Ethik von Managern und Unternehmen. Aus der Globalisierung ergeben sich außerdem aktuell neue Forschungsfelder, die sich mit den Fragen von Frieden und Gewalt in den Religionen befassen, beispielsweise mit religiösen Motiven bei Selbstmordattentätern. Auch beim präventiv angelegten Diskurs um interreligiösen Dialog können Religionswissenschaftler hinzugezogen werden oder als Forschende ansetzen. Ebenso werden in dem Band Überlegungen zur intereligiösen Pädagogik erörtert und vorgestellt.

Der zweite und weit umfangreichere Teil des Buches behandelt dahingegen mit 16 Aufsätzen bestimmte Forschungs- und Handlungsfelder der »Praktischen Religionswissenschaft«. Hier werden in erster Linie die Branchen ausgelotet, in denen Religionswissenschaftler nach ihrem Studium arbeiten können. Das liest sich teils wie eine Unverzichtbarkeitserklärung der Religionswissenschaft und einer Rechtfertigung der Disziplin: Warum sollte man in den Medien, in Zeitungen und Zeitschriften, im Internet, in Film und Fernsehen, im Tourismus oder in einem Museum Religionswissenschaftler beschäftigen und was tun sie dort?
Insgesamt besehen ist das Werk ein Praxishandbuch, das sich weniger mit den Forschungsmethoden auseinandersetzt, sondern mehr dem angehenden Religionswissenschaftler ein breites Spektrum an Forschungsfeldern und Berufsmöglichkeiten eröffnet. Dabei ist das Buch komfortabel zu nutzen. Jedem Beitrag ist neben den benutzten Quellen, die in Fußboten vermerkt wurden, auch ausführliche Schrifttumslisten zum jeweiligen Thema angefügt. Ein zweiteiliges Sach- und Personenregister erleichtert den Quereinsteig zu einzelnen Themen, Kurzlebensläufe der 20 beteiligten Verfasserinnen und Verfasser runden das Bild ab.

Trotz des hohen Berufsfragenanteils in dem besprochenen Buch ist die »Praktische Religionswissenschaft« wohl auf dem besten Wege, sich im XXI. Jahrhundert als profilierte Wissenschaft einzuführen. Eine erste Präsentation hat sie mit dem vorliegenden Werk bereits literarisch bestanden: Der Name ist gefunden, das Kind geboren, nun aber muß es laufen lernen. Das vorliegende Werk ist dabei jedoch durchaus kein Nepotismus unter Religionswissenschaftlern, die sich gegenseitig ihre Unentbehrlichkeit bescheinigen, sondern es sind die darin aufgestellten Postulate im Gegenteil ein erkennbares Erfordernis der Gegenwart. Die Globalisierung der Welt läßt auch die Religionen näher zusammenrücken, läßt zugleich Trennschärfe und Verschmelzung erkennen, die sich hier durch religiöse Intoleranz, die in Videoportalen wie Youtube oder Clipfish verbreitet wird und dort durch Synkretismus oder die Bausteinreligion der konfessionell nicht mehr gebundenen Wahlreligiösen und Esoteriker, die von einem schon unüberschaubaren Markt an Anbietern für Engel, Astrologie, Channeling, Edelsteine, Heilströmung, Amulette et cetera bedient werden, äußert. [4]

Mögen auch die großen christizistischen Kirchen in Deutschland oder überhaupt im kapitalistischen Westen der Industrieländer über einen massiven Mitgliederschwund klagen: Die Religiosität des Menschen ist deswegen nicht aufgehoben und sucht sich andere Kanäle zur Realisation. Die Aufgabe der Praktischen Religionswissenschaft wird es sein, diese Entwicklungen in Gegenwart und Zukunft aufmerksam zu beobachten und zu betrachten, mit Erklärungsversuchen aufzuwarten und Lösungen für Konflikte anzubieten, die sich aus dem härter werdenden Konkurrenzkampf der Religionen ergeben haben und auch noch zweifelsfrei ergeben werden.

Diese Rezension wurde verfaßt von Claus Heinrich Bill.

Annotationen:

  • [1] = Ein Beispiel für diese neue Forschungsrichtung ist das populärwissenschaftlich verfaßte Werk von Martin Riesebrodt: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München 2007. Riesebrodt versucht darin in einem neuen Ansatz die Religionen anders als bisher zu definieren, nämlich aus Sicht der religiösen Handlungen und nicht aus Sicht der Schrifttumsüberlieferung
  • [2] = Jörg Rüpke: Historische Religionswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart 2007, Seite 15
  • [3] = Siehe hierzu Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute, Köln 1958, 383 Seiten

  • [4] = Auch solche Phänomene wie der Atheismus als Gegenentwurf zu den Religionen kann dann Forschungsfeld werden. Ein gelungenes Beispiel dafür ist Sebastian Murken (Herausgeber): Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des Unglaubens, Marburg 2008, 262 Seiten

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