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Zum Lexikon der Raumphilosophie

Neues interdisziplinäres Handbuch erschienen

Im Jahre 1937 strebte das nationalsozialistische Dritte Reich nach der „Wiedererlangung“ des durch den Versailler Vertrag „verloren gegangenen“ Kolonialbesitzes beziehungsweise nach der Eroberung einst schon einmal okkupierter außereuropäischer Gebiete. Bemüht wurde dabei gern ein zunächst unbestimmter Raumbezug, der im Zusammenhang mit dem völkischen Grundfundament der NS-Idee stand und der besagte, daß — mit Hans Grimm gesprochen — das deutsche Volk ein „Volk ohne Raum“ sei. 

Diese rhetorische Figur wurde daher von diversen NS-Protagonisten gern und oft als Legitimationsgrund für weitere und erneute gewaltvolle Expansionen und einen neuen Imperialismus ins Feld geführt. Beispielhaft dafür können die Worte gelten, die Mitte Mai 1937 vom Bundesführer des Reichskolonialbundes, Franz Ritter v.Epp (1868-1947), auf einer Kundgebung des Gauverbandes Düsseldorf des Reichskolonialbundes während der Reichsausstellung „Schaffendes Volk" in Düsseldorf gesprochen worden waren. Er „betonte, daß seit zwei Jahren die koloniale Diskussion in der Welt außerordentlich lebhaft geworden sei. `Wir Kolonialkämpfer haben schon lange das Schlagwort `Volk ohne Raum´, und wenn wir nun unter Bezug auf die Ausstellung `Schaffendes Volk´ vom `Schaffenden Volk ohne Raum´ sprechen, dann haben wir die Situation, wie wir sie in Deutschland augenblicklich finden. Das haben wir nicht nur in der Kriegs- und Nachkriegszeit empfunden, sondern vor allem fühlen wir es in den jetzigen Jahren der Rohstoff- und Devisenknappheit. 

Solange wir also nicht wieder im Besitz unserer Kolonien sind, müssen wir versuchen, alles Menschenmögliche unserem heimatlichen Boden abzugewinnen´. General von Epp widerlegte dann die Behauptungen des Auslandes, als besäßen unsere Kolonien keinen wirtschaftlichen Wert mehr. Er wies ferner an Hand von Tatsachenmaterial das im Auslande verbreitete Schlagwort der `strategischen Lage´ zurück, die die Beibehaltung des gegenwärtigen Status erfordere. Zur Frage der Verteilung der Welt übergehend, sagte Ritter von Epp, daß es nicht einzusehen sei, warum unser Volk allein darauf angewiesen sein solle, nur indirekt an den Gütern der Welt teilzuhaben. Deshalb werde das deutsche Volk nicht aufhören, seine gerechte Forderung nach Rückgabe seiner Kolonien bis zur Lösung dieser Frage auf friedlichem Wege immer wieder zu stellen.“ [1]

War hier der Raumbezug zur Rechtfertigung deutschen Expansionsstreben explizit, so gibt es in der Geschichte und in vergleichbaren Geisteswissenschaften durchaus eine Reihe impliziter Raumbezüge, die keinesfalls sofort ins Auge fallen. Es ist zunächst aber Andrea Komlosy beizupflichten, die auf die stete Anwesenheit der Dimensionen von Zeit und Raum zumindest in historiographischen Untersuchungen hingewiesen hat. [2] 

Diesen beiden Grunddimensionen geschichtlichen Denkens kann man sich denn auch in der Tat nicht entziehen. Somit haben Raum und Zeit ganz grundlegende Bedeutungen in jeder Analyse historischer Vorgänge. Gleiches freilich gilt auch für kulturwissenschaftliche, philosophische und soziologische Untersuchungsgegenstände. Durch den „spatial turn“ ist diese grundlegende Dimension auch nach und nach offenbar geworden und so steht das neue „Lexikon der Raumphilosophie“, herausgegeben von Stephan Günzel und erschienen im Verlag der wissenschaftlichen Buchgesellschaft 2012 in Darmstadt, ganz in der Tradition dieses „spatial turns“. 
In rund 700 Lemmata sind dort Raumbezüge expliziter wie auch impliziter Art enthalten und werden informativ vorgestellt, so daß ein erster Überblick über Begriffe (z.B. „geistige Geographie“, „Origo“, „Fort-Da-Spiel“, „Cyberspace“), Methoden („Soziometrie“) und Theorien (z.B. „Lange Dauer“, „Semiperipherie“) einer auch raumbasierten Forschung offenbar werden. Dabei werden auch derart implizite Raumbezüge hergestellt bei Lemmata, die auf den ersten Blick nicht raumbezüglich erscheinen mögen (z.B. „Liebe“, „Simulation“, „Fest“, „Armut“). 

Jedoch kommt es dem hervorragenden Lexikon in erster Linie nicht darauf an, künstlich jeden nur irgend denkbaren Raumbezug nachzuweisen oder zu konstruieren, sondern vielmehr auf Raumbezüge aufmerksam zumachen, die aus dem bisherigen Blickwinkeln eher vernachlässigt worden sind. So verhält es sich mit dem „spatial turn“ wie mit jedem anderen „turn“ auch; er kann eine wertvolle Ergänzung der konventionellen Blickwinkel sein, ohne vorschreiben zu wollen, nun alles nur noch in Raumbezügen zu denken oder zu analysieren. 

Insofern sind Raumbezüge auch immer alternierend den eigenen Forschungen dienlich zu machen und punktuell einführbar. Diese Punktualität in unwahrscheinlich vielen raumbezüglichen Lemmata erst einmal bekannt zu machen, ist das große Verdienst des Lexikons, daß sich indes nicht nur zum Nachschlagen, sondern auch zum Stöbern eignet, stößt man hier doch vielfach auf neue Ansätze der Betrachtung, die — nicht nur — noch ungeschriebenen akademischen Qualifikationsarbeiten genügend Stoff für Forschungsdesigns böten. Auch in der alltäglichen historiographischen und besonders kulturwissenschaftlichen Arbeit sollte das Lexikon ein unverzichtbarer Ratgeber sein, um Dimensionen von Begriffen ausfindig zu machen und deren Pluralität gerade im Raumbezug offenkundig werden zu lassen. 

Wie das erwähnte Beispiel des „Cyberspace“ deutlich macht, sind aber nicht nur historische, sondern auch höchst aktuelle Begriffe und Entitäten der postmodernen Gesellschaft oder des Zeitalters der „digitalen Revolution“ enthalten. Das gilt auch für viele weitere aktuelle Konzepte wie z.B. die „Entschleunigung“, die mit dem Gedanken einer bewußt gewählten Distanzvergrößerung zwischen Orten und Räumen spielt und diese ebenso bewußt einsetzt; so kann exemplarisch der Ansatz des ökologischen Landbaus zur möglichst nur regionalen Vermarktung durchaus als Strategie der „Entschleunigung“ betrachtet werden, weil Distanzen respektiert werden und nicht um jeden Preis zu überwinden sind. In Zeiten, in denen man binnen weniger Stunden praktisch an jeden Ort der Welt gelangen kann, birgt so — im Zeitalter der scheinbar zeitlosen Ortsverfügbarkeit — gerade die Entdeckung und die Zelebrierung von Entschleunigung auch in Ortsbezügen eine neue Erlebens- und Erfahrungsqualität des sogenannten „westlichen Menschen“. Und was „Erfahrung“ mit Räumen zu tun hat, liest man am besten im Lemma „Erfahrung“ im Lexikon nach. 

Was dem Herausgeber Günzel hier ebenso wie dem Verlag mit der gediegenen gebundenen Ausstattung des Bandes gelungen ist, ist daher ein überaus empfehlenswerter Perspektivenerweiterer, der in der interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Forschungsarbeit ebenso unerläßlich erscheint wie für Studierende zur ersten Orientierung. 

Selbstverständlich bieten alle Lemmata weiterführende Literaturhinweise und sind von Fachleuten verfaßt worden, so daß eine zitierfähige und konzise Einführung in die jeweiligen Begriffe, versehen mit entsprechenden wissenschaftlichen Definitionssätzen, abrufbar sind. Wenn auch so nicht im Titel enthalten, so bietet das „Lexikon der Raumphilosophie“ doch einen ganz wichtigen Beitrag zur Erkenntnis, wie der „spatial turn“ zu einer enormen Bereicherung der geisteswissenschaftlichen Forschung beizutragen vermag. Das Werk, erhältlich für 79,90 Euro (fadengeheftet mit 471 Seiten im Format 19 x 27 cm, gebunden mit Schutzumschlag und veröffentlicht mit Unterstützung des Wilhelm-Weischedel-Fonds der WBG Darmstadt) ist  somit eine Fundgrube von Ansätzen, die vielerlei Fachdisziplinen in hohem Maße bereichern werden. 

Auch die Bemerkungen Ritter v.Epps vom Beginn der Rezension lassen sich damit eingehend analysieren — nicht zuletzt auch dank des vorliegenden Lexikons in neuem Licht (wenngleich Lemmata wie „Kolonie“ oder „koloniale Dependance“ dort leider fehlen). 

Diese Rezension, verfaßt von Claus Heinrich Bill (B.A.), erscheint zugleich in unserer instutseigenen Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen:

  • [1] = Nomen Nescio: Kundgebung für den Kolonialgedanken, in: Deutsches Nachrichtenbüro (Berlin), Jahrgang IV., Vormittagsausgabe Nr.629 vom 15. Mai 1937, Seite 1
  • [2] = Andrea Komlosy: Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien / Köln / Weimar 2011, Seite 249

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