Institut Deutsche Adelsforschung
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Pietismus und Adel als unvereinbare Gegensätze? 

Die Hallesche Prägung und die Reichsaristokratie im Verhältnis zueinander

Es war ein kritischer Anonymus, der 1851 in der Retrospektive auf die preußische Geschichte das Verhältnis von Pietismus und Adel pejorativisierend kennzeichnete. Dazu schrieb er in einem literarischen Periodikum über die Zeit des ausgehenden XVIII. Säkulums und den Hof- und Regierungsstil des neuen Königs Friedrich Wilhelm II. von Preußen ab 1786: 

„Die eigentlichen bösen Genien für Preußen waren Bischofswerder und Wöllner. Der alte Herzberg, welcher dem Könige unaufhörlich die Politik anrieth, sich den Constitutionnellen in Frankreich zu nähern um dadurch Rußlands drohender Uebermacht zu begegnen, wurde 1791 als ein Stein des Anstoßes beseitigt. Ob es für unsere Gegenwart sehr schmeichelhaft ist, daß man statt dessen einer Politik huldigte, welche mit der heutigen gewisse Züge unverkennbarer Aehnlichkeit aufweist, einer Politik welche der vom Geiste Friedrichs des Großen noch inspirirte Herzberg verabscheute, wie sich heute alle Patrioten gegen die Maßnahmen des Jahres 1850 aufs bestimmteste erklärten. Das wollen wir nicht weiter entscheiden: kurz, man willfahrte dem wiener Hofe und blamirte sich mit dem Feldzug in die Champagne aufs glänzendste. 

Der Politik nach außen entsprach der Griff im Innern: Mysticismus. Pietismus, Unterdrückung der Lehre, der Presse, geheime Polizei, Spionerei und Beaufsichtigung ohne Ende; abermals ein Spiegelbild oder Vorbild späterer Tage! Daß in dieser Adels- und Camarillaherrschaft der Adel selbst nicht nur kräftig gedieh, sondern auch sehr vermehrt wurde, ist leicht zu schließen. Das Jahr des Regierungsantritts Friedrich Wilhelms II., 1786, war das große preußische Adelsgnadenjahr. Der Journée von 1786 promovirte ein Schock Namen, darunter waren allein 23 neue Grafen; die Grafen Arnim-Boitzenburg, Dyhrn, Egloffstein, Goltz, Haugwitz [...], Herzberg, Hoym, Kalckreuth, Krokow, Schlabrendorf, Schulenburg-Kehnert, Trenck, Waldersee sind von diesem neuen Datum.“ [1]

So negativ hier auch alle möglichen anscheinenden Symptome des Verfalls des preußischen Adels und der Herrschaft des neuen Königs gezeichnet werden, so muß dem Verfasser damals immerhin zugute gehalten werden, dass er Adel und Pietismus durchaus nicht als unvereinbar auffaßte. Unter deutlich positiveren Vorzeichen sehen andere Zeiten – wie das XXI. Centenarium – diese Verbindung zwischen gesteigerter Glaubensauffassung und -praxis einerseits und der zeitgenössischen Nobilität andererseits an. 

So neu, wie die Verfassenden eines neuen Sammelbandes – `Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert´, herausgegeben von Andreas Pe?ar, Holger Zaunstöck und Thomas Müller-Bahlke im Mitteldeutschen Verlag 2016 – meinen, ist die Verbindung beider Entitäten daher nicht. 

Auch bereits die marxistisch-leninistische DDR-Historiographie ging mit Horst Bartel (1981) teils auf Distanz zum Pietismus, der sich als dezidiert bürgerliche Bewegung nicht entschieden genug gegen den Feudalismus gestemmt habe und der daher auch viele Adelige zuungunsten der `werktätigen Bevölkerung´ angezogen habe. [2] Erscheint der Pietismus hier noch als Teilkraft `monopolkapitalistischer Klassenfeinde´, so ist er bei Karl-Heinz Hillmann (2007) im XXI. Jahrhundert gerade das Lösemittel vom Feudalismus und der Beförderer einer neuen Ökonomie. [3] 

Diese ebenso kontingenz- wie komplexitätsreduzierten und daher eindeutigen Urteile versperren freilich den eher mannigfaltigen Blick auf das Phänomen. Denn es muß bedacht werden, dass entsprechende Studien, die sich diesem Verhältnis im Detail und nicht nur summarisch und oberflächlich bzw. instrumentalisierend widmen, rar gesät sind. Hier will der neue Band, der aus einer Tagung aus dem Jahre 2014 in Halle an der Saale hervorgegangen ist, mit acht Aufsätzen (und einem Archivüberblick zum Thema) abhelfen. Der Band kommt denn auch zu dem Ergebnis, dass es sehr vielfältige Verbindungen gab, daß die halleschen Akteure um den Prediger Hermann August Francke den Adel ebenso brauchten wie der Adel aus den pietistischen Protagonisten Nutzen zog; dieser lag nicht nur in einer intensivierten Frömmigkeitspraxis, sondern auch in der Untertanen-Disziplinierung, wie einführend in einem Beitrag (Seite 11) von Holger Zaunstöck aus Halle ausgeführt wird. 

Untersucht werden darüber hinaus in dem Band vor allem die Pietistisierung des Adels einerseits und Kennzeichen und Formen einer möglichen pietistischen landesherrlichen Politik andererseits. Dabei werden überregionale Verbindungen deutlich, nach Waldeck, zu den Reichsgrafen in der Wetterau, in die kleinen reußischen Territorien, nach Ungarn, zu hochrangigen politischen mecklenburgischen Exilanten in Danzig, die mit Franckes Hilfe Macht zurück erlangen wollten. 

Die Schlaglichter, die in den konzisen Beiträgen dargelegt werden, können indes nur erste Ansätze bieten. Vorteilhaft für weitere Studien ist indes ein Katalog von Merkmalen, wie sich pietistische Politik erfassen läßt (Seite 27-28). Der 170 Seiten starke und gebundene Band, der auch Ausführungen über die Grundlagen pietistischer Architektur macht (!), ist mit etlichen schwarz-weißen Abbildungen und ersten Erkenntnissen zur Thematik sowie mit Personen- und Ortsregistern versehen, kostet 25 Euro – und ist über den Buchhandel zu beziehen.

Als Auftakt zu einer wissenschaftlichen Perspektiven-Erweiterung ist dieser Band 10 der `Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts´ als Werk gelungen und darf weiteste Verbreitung beanspruchen, nicht zuletzt als schriftliche Inititalzündung für neue akademische Qualifizierungsarbeiten. Die Ergebnisse zeigen: Adelige und pietistische Akteure mußten sich nicht ausschließen, standen vielfach vielmehr in interaktionistischem Verhältnis zueinander, vor allem mindermächtige Adelige, die mithilfe des Pietismus – und Franckes ausgedehnten personellen Netzwerken – neue Macht(t)räume erschließen wollten. Damit wird der Anonymus von 1851 aus dem Eingangszitat mit dem Sammelband bestätigt, freilich entschlackt von der starken negative Wertung.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen: 

  • [1] = Nomen Nescio: Zur Geschichte Preußens, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 120 vom 27. September 1851, Seite 906.
  • [2] = Nomen Nescio: Pietismus, in: Horst Bartel / Dieter Fricke (Hg.): Wörterbuch der Geschichte, Band II., (Ost-) Berlin 1983, Seite 811.
  • [3] = Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 5. Auflage 2007, Seite 679.

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