Institut Deutsche Adelsforschung
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Performanzforschung als historische Methodik

Ein Untersuchungsmodell für die Geisteswissenschaften

An neuen Methoden der Geschichtsforschung, die bisweilen von konservativen Betrachtern heftig kritisiert werden, [1] weil sie interdisziplinär denken und den historischen Stoff nach einer bestimmten Fragestellung behandeln, gehört auch die Performanzforschung. Sie kam seit den 1990er Jahren auf und entstammt der Theaterwissenschaft, sind aber mittlerweile in etliche Geisteswissenschaften eingeführt und übertragen worden. Für die Geschichtswissenschaft, die Kulturwissenschaft, die Politologie, die Soziologie und die Sozialpsychologie stellt die Performanzforschung ein neues Aspektsystem dar, mit dem sich bestimmte Sachverhalte besser zunächst anders, aber, nach Meinung des Rezensenten, auch besser verstehen lassen. In der bisherigen Forschung hat sich das Performative vor allem auf vier - sehr unterschiedliche - Dimensionen bezogen und spezialisiert: a) Höfisches Zeremoniell, barocke Festkultur, Geschlechterrollen, Hinrichtungen, [2] b) Formen der Körperlichkeit des Performativen, besonders anhand des Untersuchungsgegenstandes über höfische Zwerge und Narren sowie die Transformation des natürlichen Körpers in einen Buchstabenkörper mit Erfindung des Buchdrucks und der Verbreitung von Schriftakten, c) Fiktionalität in Kunst und Literatur als Problem einer doppelten Projektion (z.B. bestimmte Binnenerzählungen) sowie d) Inszenierungen des Wissens in Form von Kuriositätenkabinetten, von Kartographie oder von frühneuzeitlichen Enzyklopädien. [3]

Allen diesen eher unzusammenhängenden  Bereichen ist gemein, daß sie „performative Akte“ genannt werden können. Performanz bedeutet dabei schlicht „Aufführung“, wie Erika Fischer-Lichte, von Haus aus Theaterwissenschaftlerin, in ihrem neuen Werk „Performativität“, erschienen broschiert im September 2012 im Bielefelder Transscriptverlag mit 240 Seiten und für 19,80 Euro erwerbbar, erläutert. Dabei ist es erstaunlich, daß ein derartiges Grundlagenwerk zur Theorieklärung der Performanzforschung erst so spät erscheint, aber auch hier gilt: Besser spät als nie. Fischer-Lichtes Werk wird daher dazu beitragen, der Performanzforschung in den Geisteswissenschaften einen eigenen Platz einzuräumen, obgleich es bereits ähnliche Vorgänger- und Parallelansätze in der Literatur gibt. Doch der Blick auf die Literatur und die Forschung zeigt auch, daß die Performanzforschung erst in ihren Anfängen steckt. [4] 

In ihrem Buch „Performativität“ geht Fischer-Lichte nun vor allem im dritten Kapitel mit dem Titel „Aspekte der Aufführung“ auf den Begriff der Performanz ein und definiert ihn als ein Phänomen mit neun Parametern: Beteiligt seien personell besehen jeweils die beiden Gruppen a) der Akteure und der Reakteure, die wechselseitig diese Rollen übernehmen könnten und sich zudem b) in leiblicher Ko-Präsenz am Ort der Performanz befänden. Die Performanz sei zudem grundsätzlich c) unplanbar und unvorhersehbar, auch wenn viele Bestandteile inszeniert wären, jedoch die absolute Kontrolle keinem der beteiligten Gruppen oder Individuen zukommen würde. Performanz sei außerdem an eine bestimmte d) Räumlichkeit gebunden, in denen sich die Beteiligten mit ihrer e) Körperlichkeit bewegen und mit ihrer Stimme als Medium f) Lautlichkeit erzeugen würden. [5] Die Abfolge einer Performanz geschähe dabei stets in einer g) Rhythmushaftigkeit und würde von den Beteiligtengruppen jeweils h) aktiv  wahrgenommen. Performanzen seien außerdem grundsätzlich flüchtig und daher nicht als Produkte oder Werke, sondern als i) Ereignisse zu werten (Seite 53-68).

Anhand dieser Novemade lassen sich Aufführungen recht gut charakterisieren und in ihre Bestandteile zerlegen. Dadurch werden sie vergleichbar und bilden einen guten Beitrag zur Konstruktivität des Performativen. Denn die Betonung der Performanz einer Aufführung im weitesten Sinne lenkt den Blick auf seinen sehr speziellen Aspekt eines Ereignisses, der vielleicht nicht bis ins Letzte so von den Initiatoren einer Performanz betrachtet worden ist. Ein Ereignis nach den Parametern der Performanzforschung zu betrachten, ist daher eine interpretative und konstruktivistische Tätigkeit, die bestimmte Fragen beantwortet und andere ausläßt. Dennoch scheint mit der Performanzforschung ein Gewinn insofern verbunden, als sie die Bandbreite, mit der sich soziale Phänomene untersuchen lassen, enorm bereichert und vervielfältigt. Sie zeigt: Auch so oder so kann ein Ereignis gesehen werden. Somit eröffnet die Performanzforschung neue Blickwinkel auf bisher schon endgültig untersucht geglaubte Gegenstände, ja, mit ihr eröffnen sich also grundlegend neue Aspekte vor allem auch historischer Forschungsgegenstände. Kategorisch wird man daher die Performanzforschung als Methode mit ähnlichen Blickwinkelerweiterungen und -fokussierungen aus der Ritualforschung nach van Gennep, [6] der Umweltforschung nach Schütz, [7] der Sozialkapitalforschung nach Bourdieu [8] oder der Prestigeforschung nach Veblen [9] vergleichen und einordnen können.

Kommen wir damit zur Kritik am Fischer-Lichteschen Konzept. Sie behauptet in ihrer Definition des Begriffes „Performanz“, daß Aufführungen erstens grundsätzlich flüchtig seien (Seite 58), daß sie zweitens bestimme Atmosphären erschaffen würden (Seite 59), daß sie drittens eine dichotomistische Leiblichkeit, eingeteilt in einen „phänomenalen Körper“ und einen „semantischen Körper“ hätten (Seite 61) und daß sie viertens stets vom Erklingen von Stimmen geprägt wäre (Seite 63). Der Rezensent ist nicht zwangsläufig dieser Meinung. 
Erstens blieben Performanzen nicht zwangsläufig flüchtig, sondern sie lassen sich auch modifiziert und transformiert in Produkt- oder Werkform gießen, beispielsweise bei Darstellungen von Performanzen in Bild- oder Schriftform, als Film-, Video-, Audioaufnahme, als Kupferstich bei Krönungen, Hoffesten oder Trauerfeierlichkeiten. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung der Krönung von Friedrich V. von der Pfalz zum böhmischen König im Jahre 1619, [10] die sich zudem durch eine doppelte Performanz auszeichnet. 

Der Stich ist insofern eine Performanz an sich, weil er nicht naturgetreu bestimmte Aspekte des tatsächlich flüchtigen Ereignisses festhielt, sondern selbst nach eigener Vorstellung eine Erinnerungskopie der Performanz auf anderer Ebene, auf der Bühne des Schriftkörperlichen (das heißt auf Papier) schuf. Trotzdem erscheint der Stich auch als Sicherung der Flüchtigkeit der Performanz und hat insofern doch eine dauernde Qualität erlangt, die über die Temporärhaftigkeit des Ereignisses an sich hinausreicht. Noch vielmehr als bei Stichen, die erst nachträglich (also chronologisch mediat) angefertigt wurden,  gilt diese teilweise Aufhebung der Flüchtigkeit durch die Inszenierung in zeitgleich das performative Geschehen erfassenden Medien wie Audio und Videoaufnahmen (also chronologisch immediat). Trotzdem sollten nun Audio- und Videoaufnahmen von Performanzen nicht als wirklichkeitsnäher begriffen werden denn Stiche. Beide stellen bestimmte Perspektiven her und müssen sich aufgrund ihres festgelegten Standpunktes als nicht umfassend bezeichnen lassen: Aufnahmen oder Bilder stellen daher immer nur eine Ausschnitt aus einer Performanz dar und niemals die Performanz selbst in ihrer ganzen Fülle von Perspektiven. 

Allerdings gilt insbesondere für den Film, daß Kameras verschiedene Perspektiven einnehmen können, die durch den Schnitt des Films - also einen technischen Trick - eine Multiperspektivität verleiht, die selbst nicht einmal der Teilnehmer ans einer Performanz besitzt. Denn selbst die Akteure und Reakteur sind an ihren leiblichen Körper gebunden und an bestimmte Standpunkte und Verortungen in der Performanz. Um beim Krönungsbeispiel zu bleiben. Die Perspektive des zu Krönenden war eine andere als die der übrigen Beteiligten und jeder sah nur einen bestimmten Aspekt der Performanz, auch wenn immer wieder gern seitens der Chronisten performativer Akte in Pictura und Scriptura versucht wird, eine Multiperspektivität herzustellen. Dies ist auch der Fall bei dem hier gebrachten Stich, der verschiedene Standorte einnimmt und verschiedenen Zeiten auf einem Blatte darstellt. Damit wird eine Performanz in der Performanz erschaffen, eine Art Binnenperformanz analog dem literaturwissenschaftlichen Modell der Binnenerzählung und der Nullfokalisierung: Der Kupferstichhersteller weiß mehr als die im Stich vorkommenden Figuren und handelt daher als auktorialer Bilddarsteller. [11] 

Es läßt sich daher abschließend zu diesem Punkt feststellen: Selbst in der Performanz kann keine nullfokalisierte Stellung eingenommen werden, da jeder Beteiligte nur seinen Standpunkt besitzt, der eine körperliche und daher auch perspektivische Omnipräsenz verhindert. Zar können sich Beteiligte Akteure und Reakteure innerhalb der Performanz bewegen und ihren Körper an einen anderen Standpunkt bringen (was auch zumeist geschieht), doch prinzipiell bedeutet diese grundsätzlich und unaufhebbare Körpergebundenheit, daß auch alle Beteiligten nur Ausschnitte aus der Performanz erleben können, an der sie teilnehmen. Gerade das Photo und der Film mögen hier ihre Faszination gewinnen, weil sie eine neue Perspektive auf eine Performanz ermöglichen und die Körperlichkeit für einen Moment aufheben können. Photo und Film fungieren als Ersatzaugen, die scheinbar mühelos den Standort wechseln können und daher über ganz spezielle Poetologien des Schauens eine neue „phantastische“ Realität schaffen. Es läßt sich zu diesem Punkt also festhalten, daß Flüchtigkeit in einer Performanz nur relativ zu bewerten ist und durch mediale Verarbeitung sehr wohl als Werk oder Produkt „festgehalten“ werden kann.

Wenn Fischer-Lichte dann behauptet, daß Performanzen bestimme Atmosphären erschaffen würden, mag sie damit Recht haben, vergißt aber zu erwähnen, daß diese Atmosphären nicht einheitlich gestaltet erscheinen, sondern immer nur individuell wahrgenommen werden können. Eine performative gruppale Atmosphäre besteht daher im Grunde stets aus mehreren individuellen Atmosphären, die sich bestenfalls zu einem übergeordneten gemeinsamen Empfinden, gesteuert durch sozialen Einfluß von Mehrheiten oder Massen in einer gewissen einheitlichen Richtung ausdrücken können. Letztlich bleibt aber auch die Herstellung von Atmosphäre, wie wohl sie durch Inszenierungsstrategien beabsichtigt ist, ein sehr fragiles Moment in der Performanz. Atmosphären können zudem eine ganz eigene Dynamik entwickeln, die aus der momentanen und spontanen Stimmung und Entwicklung der Gruppendynamik [12] zuzuordnen ist, was sehr deutlich wird bei freien Gottheitsdiensten evangelikaler Religionsgemeinschaften, in denen es zu somatischen Zuständen kommt, die in Atemnot, Wimmern, Weinen, Tanzen, Schreien und Lachen enden können.

Neben diesem dritten Kernkapitel, mit dem sich Performanzen definitorisch bestimmen lassen, enthält das Buch neben einer hinführenden Einleitung  mit Bemerkungen zum Verhältnis von Theatralität und Performativität sowie ihrer Stellung in den heutigen Kulturwissenschaften im ersten Kapitel in einem narrativen Stil gehaltene Annotationen zur Geschichte der Theorien des Performativen und der Aufführung, bevor sich der zweite Teil mit speziellen Eigenheiten des Performativen beschäftigt. Hierzu gehören dichotomistische Charakteristika wie Planbarkeit und Unvorhersehbarkeit ebenso wie weitere Ambivalenzen des Performativen. Auch über die Wahrnehmung von performativen Prozessen und Wahrnehmung als performativer Prozess wird referiert. Der abschließende dritte Teil des Buches widmet sich speziellen performativen Studien und  stellt Überlegungen an zu „Literatur als Akt - Lesen als Akt“ und berührt auch die visuelle Ebene mit einigen bedenkenswerten Ausführungen zum Thema „Bildakte - Blickakte: Zur Performativität von Bildern“, indem die Charakteristika des Performativen anhand von Kunstwerken und Schandbildern erörtert wird. [13] Dabei wird immer wieder deutlich, daß es der Kontext ist, in dem ein Bild gezeigt wird, welches ein bloße Abbildung zu einer Performanz ist (also Räumlichkeit,  Lautlichkeit, Unvorhersehbarkeit et cetera).  Ein Literatur-, Sach- und Personenverzeichnis ergänzen den essayistischen Band wirkungsvoll. [14]

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill und erschien zuerst in der Zeitschift Nobilitas für deutsche Adelsforschung, Jahrgang XV. (2012).

Annotationen:

  • [1] = Derartige Methoden stand beispielsweise der Pädagogische Direktor Dr. Klaus Neitmann, der im Jahre 2012 als Direktor des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam fungierte, fern, da er Historiker tadelte, „die ihr Ziel darin sehen, historische Vorgänge auf den Begriff zu bringen oder in eine Theorie zu gießen“. In seiner Argumentation wider die Einführung neuer Theorien, die über den scheinbar für ihn ehernen Rankeschen Grundsatz „Zeigen wie es gewesen ist“ hinausgehen bedient er sich also des Repräsentativitäts-Effektes (sozialpsychologisch bekannte Hervorhebung einzelner Aspekte vor anderen und dadurch einseitige Überbetonung) Diese Historiker würden „zuweilen nicht der Versuchung“ widerstehen können, „das theoretische Modell für die vergangene Wirklichkeit zu halten oder die historische Wirklichkeit nach ihr modellieren zu wollen. Und die Schnellebigkeit, mit der solche Theorien und Methoden aufkommen und mit der sie wieder vergehen, spricht nicht gerade für ihre Erklärungskraft und intellektuelle Güte.“ Neitmann lobt vielmehr Historiker, „die den Kern der geschichtswissenschaftlichen Aufgabe darin sehen, durch die unausgesetzte und unverdrossene Arbeit an den Quellen, durch die kritische Verarbeitung ihrer Inhalte zum Verständnis zurückliegender Jahrhunderte zu gelangen.“ Solcherlei Arbeiten würden dann auch „wegen ihres unverzichtbaren Informationsreichtums und ihrer vorsichtigen und gut begründeten Urteilsbildung die Zeiten besser überdauern ... als mancher theorielastiger Modernismus der letzten Jahrzehnte.“ Die Zitate stammen aus dem Aufsatz von Klaus Neitmann: Zum Geleit, in: Rolf Straubel: Er möchte nur wißen, daß die Armée mir gehöret. Friedrich II. und seine Offiziere. Ausgewählte Aspekte der königlichen Personalpolitik, Berlin 2012, Seite XV-XVI
  • [2] = Dazu siehe Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafurteile in der frühen Neuzeit, München 4.Auflage 1995
  • [3] = Kai Bremer & Uwe Wirth: Performanz, in: Friedrich Jaeger im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (Herausgebender): Enzyklopädie der Neuzeit, Band IX., Stuttgart & Weimar 2009, Spalte 956-957
  • [4] = Beispielsweise den Sammelband von Erika Fischer-Lichte (Herausgebende): Die Aufführung. Diskurs, Macht, Analyse, München 2012 - Josef Bairlein: Netzkulturen. Kollektiv, kreativ, performativ, München 2011 - Therese Fuhrer: Performanz von Wissen : Strategien der Wissensvermittlung in der Vormoderne , Heidelberg 2012 - Peter Hanenberg: Aufbrüche. Kulturwissenschaftliche Studien zu Performanz und Performativität, Würzburg 2012 - Felicitas Thun-Hohenstein: Performanz und ihre räumlichen Bedingungen. Perspektiven einer Kunstgeschichte, Wien 2012 - Ivo Ritzer: Global Bodies. Mediale Repräsentationen des Körpers, Berlin 2012 - Uwe Wirth: Performanz : zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2011 - Christa Heilmann: Performativ-kommunikative Körperräume, in: Anke Abraham (Herausgebende): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld 2010, Seiten 269-278 - Erika Fischer-Lichte: Attraktion des Augenblicks. Aufführung. Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe, in: Erika Fischer-Lichte & Jens Roselt (Herausgebende): Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Band X., Berlin 2011, Seiten 237-253
  • [5] = Hier könnte man näher noch eine passive Lautlichkeit von einer aktiven Lautlichkeit unterscheiden, um auch alle Performanzen zu erfassen. Passive Lautlichkeit ist Stille, aktive Lautlichkeit ist das Ertönen einer oder mehrerer Stimmen oder von Geräuschen oder Musik. Notwendig ist diese Unterscheidung, da es performative Akte gibt, die hauptsächlich durch die Abwesenheit von Lautlichkeit geprägt werden. Aber auch hier zeigt sich, daß bei performativen Akten, die vordergründig ohne Lautlichkeit oder mit einer nur sehr geringen Lautlichkeit auskommen, gilt das Prinzip der Performanz und die Dimension der Lautlichkeit ebenso. Zu denken wäre beispielsweise an eine Retreatperformanz (Rückzug), in der hauptsächlich geschwiegen wird, also eine Abwesenheit von Lautlichkeit das prägende Moment darstellt. Doch ist das Schweigen von Akteuren und Reakteuren im spirituellen Retreat lediglich als passive Lautlichkeit zu werten, die eingerahmt wird durch aktive Lautlichkeit von Ein- und Ausführung. Retreats gab es im europäischen Raum bereits seit Etwa Mitte des XIX. Jahrhunderts in der anglikanischen Kirche, neuerdings sind sie aber in westlichen Staaten und Kulturen eine Massenerscheinung des Kommunikationszeitalters geworden und kommen vor allem in der Esoterik vor. Über die Retreatarbeit der anglikanischen Kirche siehe Silke Harms: Glauben üben. Grundlinien einer evangelischen Theologie der geistlichen Übung und ihre praktische Entfaltung am Beispiel der Exerzitien im Alltag, Göttingen 2011, Seite 67-70. Die Dimension passiver Lautlichkeit läßt sich zudem auch verorten bei den Tempeldiensten des „Lectorianum Rosencrucianum - Internationale Schule des Goldenen Rosenkreuzes“ im XXI. Jahrhundert und zwar sowohl im Vorhof (hier läßt sich zusätzlich als Besonderheit konstatieren, daß die Stille bereits vor dem eigentlichen Gottheitsdienst am „Geistfunkenatom“ beginnt, was eine Ausnahme im Vergleich zu üblichen Gottheitsdiensten von anderen Religionsgemeinschaften sein dürfte) als auch im Tempeldienst selbst, in dem Stille sowohl durch eine reduzierte Bewegung in der Leiblichkeit als auch in der Stimme gepflegt wird. Siehe dazu Deutsche Zentralstelle der Rosenkreuzer-Gemeinschaft (Herausgeberin): Tempeldienst und Heilungsdienst der Rosenkreuzer-Gemeinschaft, Darmstadt 1988. In beiden Fällen von performativen Akten können wir also von passiver Lautlichkeit, im letzten Falle auch noch von passiver Körperlichkeit sprechen.
  • [6] = Arnold van Gennep: Übergangsriten, in: Dorothee Kimmich & Schamma Schahadat & Thomas Hauschild (Herausgebende): Kulturtheorie, Bielefeld 2010
  • [7] = Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Frankfurt am Main 1981
  • [8] = Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt Main 2010
  • [9] = Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute, Köln 1958
  • [10] = Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, Inventarnummer IH 526 
  • [11] = Dazu siehe Matias Martinez & Michael Scheffel : Einführung in die Erzähltheorie, München 52003, Seite 64
  • [12] = Dazu Eberhard Stahl: Dynamik in Gruppen, Weinheim & Basel & Berlin 2002
  • [13] = Bei dieser Praxis wurde das Bild oder der Namensschriftzug eines Delinquenten, der gegen geltende Gesetze verstoßen hatte, öffentlich ausgestellt. Dies war beispielsweise der Fall bei preußischen Kriegsdienstverweigeren (Deserteuren). Hier wurde allerdings regelhaft eine soziale Abstufung vorgenommen. Gemäß eines Ediktes von König Friedrich II. von Preußen von 1764 wurde im Königreich Preußen bei einem erkannten fahnenflüchtigen Offizier dessen Bildnis (auf dessen eigene Kosten, die aus dem Vermögensnachlaß des Betreffenden genommen wurden) auf einem Blech an den Galgen geschlagen, bei einem Unteroffizier oder gemeinen Soldaten aber nur dessen Namensschriftzug. Die Verwendung des Bildnisses kann hier als Strafverschärfung angesprochen werden, denn selbst,  wer nicht lesen konnte, war somit in der Lage, den Delinquenten allein am Gewicht  zu erkennen. Allerdings war diese Schandbildpraxis nur doppelt symbolisch zu verstehen, da die Bildanschlagung nicht an jedem Galgen des Königreichs erfolgte, sondern nur vor Ort in der Garnison des Delinquenten. Siehe dazu das erwähnte Edict Nro.81 wegen der Citation der Deserteurs vom 17. November 1764 Samuel v.Coccejus (Herausgebender): Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum oder neue Sammlung Königlich Preußischer und Churfürstlich Brandenburgischer sonderlich in der Chur- und Marck-Brandenburg, wie auch andern Provintzien publicirten und ergangenen Ordnungen, Edicten, Mandaten, Rescripten, Band III., Berlin 1766, Spalte 523. Man bestrafte die Desertion eines Offiziers auf diese entehrende Weise, weil man damit eine internale Attribuierung vornahm: Man war seitens der Obrigkeit der Auffassung, daß die Tat der Desertion eine Tat war, die aus einem Charakterfehler des Offiziers hervorging. Zu diesem Standpunkt siehe das Kapitel „Von der Infamie“ bei Josef v.Zintl: Theoretisch-praktische Anmerkungen über die in dem H. R. Reiche geltende vorzüglichste Kriegsgesätze verfaßt nach der des Heiligen Römischen Reiches peinlichen Halsgerichtsordnung, denen Kriegsartikeln, Kriegsgewohnheiten, und andern bey kriegsführenden Mächten hergebrachten Kriegsreglements, und Kriegsrechten nebst einer kurzen, doch gründlichen Einleitung zum Criminal-Kriegsprozeß, und einer beygefügt ausführlichen Abhandlung vom Standrecht, Frankfurt am Main 1786, Seite 147-151. Zu den Attribuierungen siehe Elliot Aronson & Timothy Wilson & Robin Akert: Sozialpsychologie, München 6.Auflage 2008, Seite 104-107
  • [14] = Über die äußere Beschaffenheit des Bandes kann leider keine Auskunft gegeben werden, da dem Rezensenten das Buch vom Verlag als PDF-Dokument zur Verfügung gestellt wurde. Der Band soll jedenfalls kartoniert sein. Er kostet 19,80 Euro und ist unter der ISBN 978-3-8376-1178-6 im Buchhandel bestellbar.

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