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Mitteldeutscher Niederadel im achtzehnten JahrhundertBildung, Militärdienst, Grundbesitz und NobilitierungenDie noch in der Vormoderne oft selbstverständlich und aus ererbter Gewohnheit für „den Adel“ reservierte und garantierte Stelleninhaberschaft an Fürstenhöfen und in den obrigkeitlichen Verwaltungen bröckelte, unter anderem im 18. Jahrhundert, immer mehr, kann doch das 18. Jahrhundert als eine besondere Umbruchszeit gelten, als Inkubationszeit einer großen Veränderung „der Gentilhommerie“, die als „Great Transformation“ im 19. und 20. Jahrhundert zu noch größeren Umwälzungen rechtlicher und politischer Art führen sollte. [1] So mußte sich „der Adel“ zunehmend „bürgerlicher“ (nichtadeliger oder auch unadeliger) Konkurrenz stellen, professionalisierter und gelehrter Konkurrenz, die in die Verwaltungsstellen strömte, teils auch nobilitiert wurde und dem Altadel oder Erbadel die Ressource der Ämter- und Pfründevergabe streitig machte. [2] Dies rief „den Adel“ auf den Plan, er suchte neue Strategien, sei es einerseits der Versuch sozialer Schließung [3] zur Abwehr der Ressourcenteilung (z.B. Ahnenproben bei Stiftstellen und Domkapiteln), [4] sei es andererseits die eigene Professionalisierung, beispielsweise in speziellen Adelsschulen. Zurückzuführen war dies auf die Innovationsfähigkeit der Gruppenbildung „Adel“, die in der Adelsforschung seit den 1990er Jahren auch als weit verbreitetes Diktum des „Obenbleibens“ virulent ist. [5] Als Zeichen dieser Innovationsfreudigkeit können mithin auch die Adelsschulen betrachtet werden; hierzu notierte ein Anonymus beispielhaft: „Die Ritter Akademie zu Brandenburg. Sie wurde im Jahre 1704 von König Friedrich I. gegründet. Friedrich Wilhelm I. vermehrte ihren Stiftungsfonds mit 14,000 Rthl. und das hohe Domkapitel fügte noch 7500 Rthl. hinzu. Die Zahl der Zöglinge bestand in den letzten Jahren in der zur neuen Blüthe gelangten Anstalt zwischen fünfzig und sechszig [...] In einigen Beziehungen gehören in die Kategorie der Erziehungs-Anstalten für den Adel auch das Pädagogium zu Halle, ein integri[e]render Theil der Frankeschen Anstalten, ein Erziehungs-Institut, welches namentlich in den letzten Jahrzehnten des vorigen und in den ersten des jetzigen Jahrhunderts unter dem verewigten Niemeyer blühte und in manchen Jahren über 100 Söhne aus dem preußischen Adel aufnahm und das erst in neuerer Zeit ins Leben getretene Pädagogium in Putbus auf der Insel Rügen.“ [6] Unter anderem das Pädagogium Halle und die Ritterakademie in Brandenburg an der Havel sind bezüglich ihrer Adelserziehung nun auch Gegenstand eines neuen komparativen Aufsatzes geworden, der in einem Sammelband erschienen ist, welcher sich mit dem mitteldeutschen Adel in jener Umbruchsphase des 18. Jahrhunderts befaßt; [7] Mitteldeutschland wird dabei verstanden als Thüringen, Anhalt, Sachsen und Brandenburg (Seite 19). Der Verfasser des Aufsatzes kann nun zeigen, daß die Ritterakademie gegenüber dem Pädagogium abfiel, was die Ausstattung der Finanzierung und der Leistung anlangte. Beide Anstalten aber nahmen sowohl adelige wie auch nichtadelige (indes lediglich männliche) Schüler auf, so daß hier sowohl von interständischer Konkurrenz als auch Hybridisierung gesprochen werden kann (Seite 23-46). Dieses sich durch die Praxis ergebende Nebeneinander kann als geschicktes adeliges Handeln angesichts neuer Herausforderungen gelten; in dieser Beziehung zumindest war nicht Abschließung, sondern eine gelinde Öffnung adelserhaltend. Insgesamt gefragt wurde in dem Sammelband nach diesen und weiteren Selbstbehauptungsstrategien „des Adels“, nach Karriereplanungen, nach dem Verhältnis zwischen Alt- und Bullenadel, aber auch nach der Abgrenzung gegen andere soziale Entitäten (Seite 10). So stehen in dem Band denn auch Fragen nach der Doppelstrategie nobilitärer Existenzsicherung durch Landbesitz und Militärdienst im Fokus. Ferner werden ibidem weibliche Ermöglichungsräume von Adeligkeit und die berufliche Betätigung von Frauen an Fürstenhöfen ebenso wie Ehescheidungen [8] und Fürstendienstoptionen erörtert. Es gibt weiters Beiträge zur Domstiftsgeschichte oder zur Nobilitierung von Gelehrten an Universitäten und zu deren teils erfolgreichen Versuchen, Rittergüter anzukaufen. In einem Vorwort und Einleitungstext erkundet einer der Herausgebenden des Bandes zudem den Begriff „Niederadel“ und den der „nobiles minores“, der sich als Fremdzuschreibung sozialer Umgebungen erwies, da sich der Begriffsbestandteil „Nieder-“ mit der Herrschaftsattitüde und dem Machtanspruch vormoderner Adeliger nicht vertrug, als ehrmindernde Bezeichnung und Kategorisierung (gegenüber der stratifikatorisch „höher“ stehenden und ehrenvolleren Bezeichnung „Hochadel“, den „nobiles majores“) galt (Seite 11). Der Band bietet insgesamt einen lohnenden Einblick in die noch vielfach unerforschte Geschichte des mitteldeutschen Adels, vergleicht aber auch den sächsischen Adel mit dem in Hessen oder angrenzenden Gebieten. Dies erschient deswegen sinnvoll, weil das Adelsphänomen ein überregionales soziales Phänomen war, die Analyse allein eines in bestimmten Territorien beheimateten Adels also nicht unbedingt bei allen Fragestellungen sinnvoll war, vielmehr durch die räumliche Ausweitung auffallende Ähnlichkeiten herausgearbeitet werden konnten (so im Falle der Erörterungen zu den Bildungsanstalten, Seite 23-46). Fernerhin widmet sich der Band in Teilen außerdem neueren Richtungen der deutschsprachigen Adelsforschung, die sich auf deviante Verhaltensweisen im Adel spezialisiert haben (Seite 163-177). Dieses lobenswerte Unterfangen und die weitere Bereicherung mit Erkenntnissen ist an dem vorzustellenden Band anerkennenswert. Zugleich aber verbleibt der Sammelband in wiederum anderen Teilen leider in einer doch eher herkömmlichen und traditionellen Forschungsrichtung, die man als Durkheimschule der Institutionen und „sozialen Tatbestände“ beschreiben könnte. Zwar gibt es Beiträge, die sich deutlich einem methodologischen Relationalismus im Sinne von Simmel zuordnen lassen, beispielsweise wenn ein Autor die pietistischen Netzwerke eines hessischen adeligen Verwaltungsbeamten (Seite 209-224) erörtert, dem Verfasser des Vorworts aber gelang es bedauerlicherweise nicht, von der Selbstsicht „des Adels“ loszukommen und einen forschenden Metastandpunkt einzunehmen. Dabei ist besonders auffallend, daß er Selbststilisierungen „des Adels“ erliegt. Er konstatiert zwar, daß die Frage, ob in dem einen oder anderen Fall bei einer Person oder Familie denn „Adel“ vorläge, nicht nur eine Frage nach rechtlichen Indikatoren der Adeligkeit sei (z.B. Steuerfreiheit und Lehnsinhaberschaft auf Seite 11), sondern daß Adeligkeit „während der gesamten Frühen Neuzeit eine Frage der sozialen Praxis“ gewesen sei (Seite 16) und die Zugehörigkeit zum Adel stets neu verhandelt werden mußte. Enttäuschend ist dann allerdings, daß er darunter lediglich die Frage der Anerkennung „lokaler Adelsgesellschaften“ versteht (Seite 11), also wieder nur eine Betrachtung des „inner circle“ vornimmt, anstatt sich konsequent einer an Simmel angelehnten Definition der Wechselwirkungen sozialer Akteur*innen bei der alltäglichen Re/Produktion von „Adel“ anzuschließen. Dadurch ignoriert er leider die Beteiligung nichtadeliger Kreise an der Adelsproduktion. [9] Unglücklicherweise spricht der Herausgeber auch stets von „Gruppe“, wenn er von „dem Adel“ spricht, was in Zeiten Latours eher verwunderlich erscheint. [10] Es zeigt sich aber hier wieder einmal, daß allgemein die Tradition „eingelebter Gewohnheiten“ [11] eine große Wirkung besitzt. Sie bestehen als eine Art von Institutionen mit Eigenleben und Zwangscharakter, die zwar immer wieder von Forschenden performativ (als illokutionäre Schrift- und Sprechakte im Austinschen Sinne) aktualisiert werden, [12] einen inhaltlichen argumentativen Rechtfertigungsgrund aber nicht mehr besitzen. Diese „réalité sui generis“, um mit Durkheim zu sprechen, [13] wird nur noch, obschon veraltet, deswegen gepflegt, weil sie „alt“ ist, ohne innere Vorzüge mehr zu haben. Ihr Alter, so meinen manche Forschende, sei schon Grund genug für ihre gute Qualität. Insofern ist es überraschend, daß der Verfasser des Vorworts zwar konstruktivistisch argumentiert, dann aber die Bedeutung des Nichtadels bei der permanenten Adelsproduktion vollkommen ausblendet; ihr ist dann auch in dem Sammelband leider kein Beitrag gewidmet. Und dies ist, gerade in Bezug auf einen Sammelband zum Niederadel, der dem Nichtadel durch vielfache Überschneidungen, Hybridisierungen und mehrwertige Zeichenprozesse [14] nahe stand, wie sie auch am Beispiel der „Nobilitierungsfiktionen“ von Gelehrten angerissen worden sind (Seite 47-70), besonders bedauerlich. Somit wird „der Adel“ hier, trotz erkennbaren Ansätzen zu einem besseren Verständnis verflossener Wirklichkeiten, immer noch „wie eine Insel in der Welt“ behandelt. [15] Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A. und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung im Jahrgang 2020. Annotationen:
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