Zur Funktion von Grenzfiguren in der Geschichte
Bemerkungen zur Bedeutung von Alterität in der deutschen Historie
(Rezension)
Eine der Hauptthemen der Soziologie waren immer schon die Alteri
[1] und gemäß der Kantschen Erkenntnis, daß die Erkenntnis
die Dinge mache und nicht die Dinge die Erkenntnis, ein Erprobungsfeld
von Identität. „Dinge“ werden im Kantschen Sinne also erkenntnistheoretisch
konstruiert, wobei durchaus nicht immer nur eine reine Abbildung des Gesehenen
oder Gegebenen stattfindet, sondern auch Projektionen produziert werden,
die mit den Alteri nichts oder nur wenig zu tun haben.
Ein Beispiel dafür ist die Kriminalisierung von Sinti und Roma
im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, die sich auch über
die Neuzeit und die Moderne - zu denken wäre hier insbesondere an
den Höhepunkt der Kriminalisierung im Nationalsozialismus - hinzog.
So heißt es bei dem Schriftsteller Grellmann bereits im Jahre 1787:
-
„Das Volk, dessen Zustand und Herkunft ich in dieser Schrift abzuhandeln
gedenke, die Zigeuner, sind eine überaus sonderbare Erscheinung in
Europa. Wir mögen uns in ihren Wohnungen umsehen oder bey ihren Mahlzeiten
als Zuschauer setzen, oder endlich auch nur einen Blick auf ihre Gesichter
werfen; immer finden wir sie eigen, und werden bey jedem Schritte von einer
neuen und ungewohnten Scene überrascht. Das Sonderbarste aber bey
diesen irrenden Fremdlingen ist, daß weder Zeit noch Clima, noch
Beyspiele bisher auf sie, überhaupt genommen, merklichen Einfluß
gehabt haben. Seit vierthalb hundert Jahren wandeln sie auf ausländischem
Boden umher, sind zu finden im Süden und Norden, im Morgen- und Abendlande,
unter rohen und gebildeten, faulen und fleißigen Menschen; und bleiben
noch immer und überall, was ihre Väter waren - Zigeuner. Afrika
macht sie nicht schwärzer, Europa nicht weißer; in Spanien lernen
sie nicht faul, in Teutschland nicht fleißig seyn; unter Türken
nicht Mohammed, unter Christen nicht Christum verehren. Um und neben sich
sehen sie stäte Wohnungen ansäßiger Menschen; folgen aber
nichts weniger ihrer Weise: sind noch immer unstät und ziehende Räuber.“
[2]
Grellmanns Einordnung „der Zigeuner“ in seiner Abhandlung, die kurz
vor der französischen Revolution erschien, war die Verortung einer
Menschengruppe durch ein Mitglied des sozial noch wenig mobil orientierten
Ancien Regime. [3] Er beschreibt damit eine von ihm gebildete und in der
intellektuellen wie öffentlichen Wahrnehmung (zumindest der, die sich
im literarischen Feld als Verortungsraum vergangener öffentlicher
Meinung erhalten hat) [4] virulente Menschengruppenbezeichnung, bleibt
aber bei dieser Beschreibung nicht stehen, sondern belegt sie zugleich
mit moralischen Kriterien, die strikt dichotomistisch und stereotyp konstrutiert
wurde: Seine eigene Gruppe, die Referenzgruppe, vor dessen Folie
„die Zigeuner“ betrachtet werden, erscheint dabei als Norm des scheinbar
natürlich Gegebenen (wohl eher: kulturell Determinierten), erscheint
als „stät“ und heimatverbunden, aufrichtig und ehrlich. Die Alteri
dagegen werden als „unstät“ bezeichnet, als unassimilierbar, integrationsunwillig
- und sogar kriminell („Räuber“) verstanden.
Daß indes Grellmann nicht nur von „Zigeunern“ sprach, sondern
auch von eigenen Vorurteilen, die auf diese Gruppe als Ethnizität
[5] projiziert wurden, sind indes keine wesentlich neuen Erkenntnisse.
Sie werden sowohl sozialpsychologisch durch gruppendynamische Prozesse
(Zigeuner“ als Omega-Position der eigenen Gesellschaft nach Schindler)
erklärt [6] als auch durch die Identitäts- und Alteritätsforschung.
[7] Zu dem gleichen Ergebnis kommt denn auch, was wenig verwunderlich ist,
die Germanistin Dr. phil. Iulia [sic!] Karin Patrut von der Universität
Trier, die dortigerseits am DFG-finanzierten Sonderforschungsbereich Nr.600
zum Thema „Fremdheit und Armut“ beschäftigt ist, in ihrem Aufsatz
„`Zigeuner´ als Grenzfigur deutscher Selbstentwürfe“ in Heft
Nr.3/2013 (Juli bis September) des hier zu besprechenden Periodikums „Geschichte
und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft:
Der historische Diskurs decke, so Patrut, „die Selbstreferentialität,
den blinden Fleck dieser Grenzfigur, auf und zeigt, dass [sic!] das zu
Unterscheidende auf die Unterscheidenden zurückverweist“ (ibidem,
Seite 304). Leider nicht beachtet wird von ihr jedoch, daß die ethnizisierende
Exotisierung der besprochenen Gruppierung in Teilen - und zwar nach den
eigenen Gründungserzählungen [8] - auch selbstbestimmt und durchaus
nicht immer durch deutsche Meinungsbildner fremdbestimmt war. [9]
Trotzdem ist der Patrutsche Aufsatz lesenswert, ebenso wie ein anderer
über weitere „Grenzfiguren“. Darin befaßt sich die Historikerin
Dr. phil. Beate Althammer von der Universität Trier mit der Pathologisierung
von Vagabunden im deutschen Kaiserreich kurz nach der Jahrhundertwende,
als verschiedene Psychiater eine Verbindung zwischen Vagabondage und Krankheit
festzustellen meinten (ibidem, Seite 306-337). Die Verfasserin zeigt dabei
auf, wie diese Bereiche im Diskurs historisch vorbereitet, in der Moderne
miteinander in Verbindung gebracht wurden und schließlich mit naturwissenschaftlichen
Methoden befestigt wurden.
Weniger um „Grenzfiguren“ (die als Randseiter oder Marginalisierte
allgemein ein oft noch vernachlässigtes interessantes historisches
Forschungsfeld darstellen, [10] weil sie stets als Devianzform „das Eigene“
reflektieren) als mehr um Netzwerke geht es dann in einer Vorstellung von
zweiten Zwischenergebnissen der Verwendung der Netzwerkanalyse in den Geschichtswissenschaften
oder der sogenannten HNF (Historischen Netzwerkforschung). [11]
Hierzu äußern sich im besprochenen Heft der Luxemburger
Dr. phil. Marten Düring und der Kölner Dr. phil. Ulrich Eumann
(Seite 369-390). Sie bringen dabei einige interessante weitere Anwendungsfelder
aus der Widerstandsforschung der nationalsozialistischen Zeit, bei der
u.a. erst durch die Anwendung der HNF soziale Netzwerke eruiert werden
konnten, die bei einer nicht HNF-gestützten Auswertung verborgen geblieben
wären. Eine andere bemerkesnwerte Anwendung fand sich früher
indes bereits in Form der Einschätzungshilfe der Wahrscheinlichkeit
von Verschwörungstheorien. [12]
Zur Verwendung der Netzwerkforschung liegen zwar bereits schon etliche
Fallstudien vor, jedoch bisher kaum eine Reflexion, die die HNF als neue
historische Hilfswissenschaft neben Onomastik, Heraldik, Shpragistik, Numismatik
oder Genealogie stellt. Ob die Bezeichnung „neue historische Hilfswissenschaft“
angebracht erscheint, ist indes fraglich. Denn die HNF klassifiziert sich
doch durch ihre Herangehensweise und ihren Charakter mehr als Methode denn
als eigene Hilfswissenschaft. Deren Charakteristikum ist es vielmehr, daß
sie sich mit thematisch fest umgrenzten und daher intradimensionalen Themen
befaßt. Die HNF aber ist interdimensional orientiert und läßt
sich vielfältig anwenden, also beispielsweise - anders als die Numismatik
und Heraldik, sowohl auf die Verbreitung von Münzaktueren als auch
die von Wappenträgern.
In ihrem Aufsatz fordern die beiden Verfasser zudem dazu auf, das
Feld, das bisher hier und dort mit verschiedensten Begrifflichkeiten der
Netzwerkanalyse beackert wird, zu konkretisieren, Termini zu schärfen
und die HNF in den Rang einer historischen Hilfswissenschaft zu erheben.
In diesem Zuge wäre es auch nachdenkenswert, ob man nicht, wie bisher
allgemein üblich, nicht nur auf personale Akteursgruppen abheben sollte.
Kann nicht vielleicht auch die HNF bei nichtpersonalen Netzwerkanalysen
zu Rate gezogen werden, beispielsweise bei der Genealogie von Termini in
der europäischen Begriffsgeschichte oder der Ausbreitung von Stereotypen
und Vorurteilen im literarischen und archivalischen Feld als dem maßgeblich
rekonstruierbaren historischen Verhandlungsraum? [13]
Mit zwei weiteren Beiträgen - zur Konkurrenz von Straße
und Schiene als Problem des Social Engineering (soziale Manipulation) und
zum erst kürzlich fertig publizierten Werkabschluss von Jürgen
Habermas - bietet das besprochene Heft ein breites Kaleidoskop aktuell
durch bewußte Agenda-Setting-Strategien bestellte geschichtswissenschaftliche
Anwendungsfelder. Es kostet 21,45 Euro (ein Jahresabonnement kostet bei
vier Heften mit einem Umfang von insgesamt jährlich rund 500 Seiten
79 Euro) und kann im Buchhandel bezogen werden. [14] Als Forum und Diskursfeld
mit hohem Aktualitätsbezug ist die Zeitschrift insgesamt ein gut fundiertes
Feld zur immer wieder spannenden und inhaltsreichen Verknüpfung soziologischer
und historischer Interdisziplinarität; dies beweist nicht zuletzt
auch das vorliegende Heft erneut. [15]
Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill wurde Mitte Januar
2014 erstellt und erscheint nicht hier nur online, sondern auch zugleich
in der institutseigenen Print-Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung.
Annotationen:
-
[1] = Siehe dazu das Lemma „Fremdheit“ bei Petra Kolmer / Armin G.
Wildfeuer (Herausgebende): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe,
Band I., Freiburg / München 2011, Seite 818-832 sowie (in Bezug auf
Antike, Mittelalter und Neuzeit) bei Peter Dinzelbacher (Herausgebender):
Europäische Mentalitätsgeschichte, Stuttgart 2.Auflage 2008,
Seite 459-518
-
[2] = Heinrich Moriz Gottlieb Grellmann: Historischer Versuch über
die Zigeuner, betreffend die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale
dieses Volkes seit seiner Erscheinung in Europa und dessen Ursprung, Göttingen
2.Auflage 1787, Seite 1-2
-
[3] = Siehe dazu das Lemma „Stand und Ständewesen“ (Feudalismus)
bei Wilhelm Bernsdorf (Herausgebender): Wörterbuch der Soziologie,
Band III., Stuttgart 21977, Seite 827-828 sowie bei Otto Brunner
/ Werner Conze / Reinhart Koselleck (Herausgebende): Geschichtliche Grundbegriffe
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band
VI, Stuttgart 1990, Seite 155-284
-
[4] = Zur Klärung des Begriffs „Öffentliche Meinung“ siehe
Dieter Nohlen (Herausgebender): Kleines Lexikon der Politik, München
3.Auflage 2003, Seite 338-339 sowie Axel Görlitz (Herausgebender):
Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1970, Seite 268-275
-
[5] = Siehe zu dieser Kategorie Ansgar Nünning (Hg.): Grundbegriffe
der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, Seite 38-39
sowie bei Thomas Schweizer / Margarete Schweizer / Waltraud Kokot (Hg.):
Handbuch der Ethnologie, Berlin 1993, Seite 593-609 (jeweils das Lemma
„Ethnizität“)
-
[6] = Siehe dazu Oliver König / Karl Schattenhofer: Einführung
in die Gruppendynamik, Heidelberg 2.Auflage 2007, Seite 51
-
[7] = Siehe dazu den Artikel über „Alterität“ bei Klaus Weimar
(Herausgebender): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Band
I., Berlin 1997, Seite 58-59 sowie bei Ansgar Nünning (Herausgebender):
Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005,
Seite 1-2. Zu „Identität“ siehe Hermann Korte / Bernhard Schäfers
(Herausgebende): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Wiesbaden
2010, Seite 69-86
-
[8] = Siehe dazu das Lemma „Gründungserzählungen“ bei Harun
Meye / Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft,
München 2011, Seite 23-48
-
[9] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Die Herzöge und Grafen von
Klein-Ägypten. Anmerkungen zu einer adelsrechtlich problematischen
Kategorie 1418 bis 1552, in: Nobilitas. Zeitschrift für deutsche Adelsforschung,
Folge Nr.35, Jahrgang VIII., Sønderborg på øen Als
2005, Seite 3-25
-
[10] = Siehe dazu Wilhelm Bernsdorf (Herausgebender): Wörterbuch
der Soziologie, Band III., Stuttgart 21977, Seite 653-655 sowie das Lemma
„Minderheiten / Randgruppen“ bei Sina Farzin / Stefan Jordan (Herausgebende):
Lexikon Soziologie und Sozialtheorie, Stuttgart 2008, Seite 192-194
-
[11] = Erste Ergebnisse erschienen bereits mindestens bei Morten Reitmayer
/ Christin Marx: Netzwerkansätze in der Geschichtswissenschaft, in:
Christian Stegbauer / Roger Häußling (Herausgebende): Handbuch
Netzwerkforschung, Wiesbaden 2010, Seite 869-880. Diese beiden Autoren
belegen derzeit vier Forschungs- und damit Anwendungsfelder der HNF: a)
Fernhandel vom Spätmittelalter bis zum XX. Centenarium, b) ökonomische
Personal- und Kapitalverflechtungen, c) Veränderung von Unternehmensstrukturen
und d) komparative Vorteile politischer Institutionen.
-
[12] = Siehe dazu die im Weltnetz abrufbare (und ursprünglich
2010 gehaltene) Präsentation des Privatdozenten Dr. phil. Johannas
Dillinger von der Universität Mainz mit dem Titel „Historische Terrorismusforschung
und geheime Netzwerke“ unter der Adresse „http://www.podcampus. de/nodes/3781“
gemäß Abruf vom 10. Januar 2014
-
[13] = Beispielsweise zu den ersten nordamerikanischen Mormonen-Emissären
in Deutschland ab 1850, die bei ihrem ersten Auftreten bereits auf ein
seit 1830 bestelltes literarisches Feld trafen. Siehe zu diesem Themenkomplex
weiterführend die englischsprachige Studie von Kurt Widmer: Unter
Zions Panier. Mormonism and its Interaction with Germany und ots People
1840-1990, Stuttgart 2013
-
[14] = Christoph Conrad / Ute Frevert / Paul Nolte (Herausgebende):
Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft,
Jahrgang IXL., Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen, Heft
? 3, Ausgabe von Juli bis September 2013, Seite 283-408
-
[15] = Weder Herausgebende noch Verlag haben indes eine Bibliographie
der erschienenen Artikel veröffentlicht und noch nicht einmal Inhaltsverzeichnisse
oder Register sind dazu auf der Verlagswebseite im Internet (siehe dazu
die Webseite „http://www.v-r.de/de/magazine-0-0/geschichte_und_gesellschaft-500007/
“ nach dem Abruf vom 10. Januar 2014) abrufbar. Das ist umso bedauerlicher,
als man dadurch auf andere bibliographische Hilfsmittel ausweichen muß.
Dies ist eine unnötige und wenig benützerfreundliche Politik,
die Nobilitas als vergleichbare historische Printzeitschrift schon von
Beginn des Erscheinens an abgelehnt hat. Hier wäre es zu wünschen,
künftig mehr Transparenz zu ermöglichen. Es dürfte auch
kein großes Problem sein, eine Bibliographie der nur 39 Jahrgänge
anfertigen zu lassen. Damit würde die Attraktivität der Zeitschrift
ohne jeden Nachteil gesteigert werden.
|