Institut Deutsche Adelsforschung
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Die Mormonen in den Deutschen Ländern 1840 bis 1990

Vorstellung einer missionsgeschichtlichen Buchnovität

Im Jahre 1856 erschien in einer süddeutschen Zeitung folgende Meldung: „Sachsen. Die Mormonen sind nun auch in Dresden. Sie treten aber nicht öffentlich auf, um jede unsanfte Berührung mit der Polizei zu vermeiden; auch ist die Vielweiberei nur erst ein angenommener Lehrsatz und noch nicht in die Praxis übergegangen. Die ›Heiligen vom jüngsten Tage‹ entfalten eine ganz außerordentliche Thätigkeit, welche nun auch in Deutschland mit Erfolg gekrönt zu werden scheint. In Dänemark fanden sie einen sehr fruchtbaren Boden, von dort kamen sie nach Hamburg, wo sie eine deutsche Uebersetzung ihrer ›Bibel‹ druckten, und ihren ›Aposteln‹ stehen beträchtliche Geldmittel zu Gebote, die aus England beschafft werden; in Dresden haben sie Individuen, welche ihrer Lehre sich anschlössen, sehr freigebig mit Mitteln versehen, und einige sächsische Mormonen sind bereits über Liverpool nach Neujerusalem im großen californischen Binnenbecken abgegangen. Diese Dresdener Mormonen bilden eine Gemeinde, sie halten sich still, und Niemand kann ihnen etwas anhaben .... Aber daß sie vorhanden sind, ist Thatsache, nicht minder, daß die etwa 60 Köpfe, denn so hoch soll die Zahl der Anhänger sich belaufen, sehr verschiedenen Berufsclassen angehören und daß Manche darunter Leute von Erziehung sind, denen es an wissenschaftlichem Unterricht nicht gefehlt hat (um so bedauerlicher!). Auch einige Frauen und Mädchen gehören, wie man sagt, den wunderlichen Heiligen an. Die Meisten treffen Vorbereitungen, um sich baldmöglichst ›der Sklaverei unter den Heiden‹ zu entledigen; sie wollen auswandern und daran thun sie wohl.“ [1]

Die hier aufscheinenden Konfliktlinien zwischen der deutschen Gesellschaft (oder zumindest den sie vertretenen Journalisten und Obrigkeiten) sowie der aktiv auf der Suche nach neuen Anhängern missionierenden Glaubensgemeinschaft der Mormonen (eigentlich „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“) als einer „kleinen“ Glaubensgemeinschaft machen aufmerksam auf ein bislang vernachlässigtes Thema der deutschen Geschichtswissenschaft. 

Nur selten haben sich HistorikerInnen mit der Historie solcher Gemeinschaften befaßt. Offensichtlich standen sie eben ob ihrer geringen Masse an Mitgliedern oder ihrem geringen Einfluß in der Gesellschaft außerhalb des forschenden Fokusblicks. Doch gerade kleine Glaubensgemeinschaften, die sich per se in Opposition zu anderen Glaubensgemeinschaften befanden und befinden, können bezeichnende Schlaglichter auf die Geschichte und vor allem die Befindlichkeit „der Deutschen“ werfen. Für die Bildung einer gruppalen Identität „des Eigenen“ ist es wichtig, „das Andere“ zu kennen. 

Das heißt, daß, sozialpsychologisch besehen, gerade die Auseinandersetzung mit „dem Nichtkonformen“ erheblich zur eigenen Identität und Konformität beiträgt. [2]  Insofern können Untersuchungen über die Konflikte und Annäherungen, die Divergenzen und Konvergenzen zwischen kleineren Glaubensgemeinschaften und deutschen Obrigkeiten kirchlicher oder weltlicher Natur in den deutschen Ländern in historisch neuer Perspektive auch neue Ergebnisse liefern. Diesen Ansatz machte sich auch der Kanadier Dr. phil. Kurt Widmer (*1962) [3] zunutze und veröffentlichte 2013 seine an der Humboldt-Universität zu Berlin verfaßte Dissertation „Unter Zions Panier. Mormonism and its Interaction with Germany und ots People 1840-1990“, welches als Taschenbuch gebunden jüngst als Heft Nro. 21 der Schriftenreihe „Missionsgeschichtliches Archiv“ im Franz-Steiner-Verlag zu Stuttgart erschien. Das englischsprachige Werk umfaßt 404 Seiten und kostet 64,00 Euro. 

Seinen Gang durch die Materie gliedert Widmer in neun Kapitel. Er definiert einleitend die Begriffe „Mormonen, Mormonismis und Letztentagsheilige“, wobei ihm das Verdienst zukommt, auf die Heterogenität der verschiedenen Gruppen aufmerksam zu machen, auf die dieser Name ganz allgemein ohne großen Differenzierungswillen angewendet wurde. Namentlich in deutschen Ländern hat man hier bisher nur eine ganz unzureichende Unterscheidung der Gruppen beachtet. Das ist vor allem in der Arbeit mit den historischen Quellen ein nicht mehr auflösbares Phänomen, das damals durchgehend auftrat (Seite 15-30) und heute als Problem der Forschung offensichtlich wird. Als Definition schlägt Widmer die folgende gelungene Beschreibung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner vor: „The Latter Day Saints movement van most simply be defined as a collection og religious bodies having their origin in the American state of New York in the 1830s. These groups base their beliefs on the teachings of Joseph Smith ...“ (Seite 23-24). 

Sodann befaßt sich Widmer mit der Frage, ob die mormonische Hauptkirche die am schnellsten wachsende Kirche der Welt sei. Er kommt zu einem verneinenden Ergebnis, dabei auch historische Konvertiertenzahlen aus Deutschland nennend (Seite 34-49) - und widerlegt damit manche öffentlichen angstvollen Gerüchte. Ferner folgen bei Widmer Abschnitte über die allgemeine Kirchengeschichte (Seite 57-85) und ein Exkurs zur Bedeutung von Deutschen in kleineren amerikanischen Glaubensgemeinschaften (Widmer nennt diese „Sekten“) seit dem XVII. Jahrhundert sowie in der dann 1830 begründeten Kirche selbst (Seite 86-131). Er platziert folgend Ausführungen zur deskriptiven Ereignisgeschichte über „The first Mormons in Germany“ (Seite 132-174) und die Arten und Ziele der missionarischen Tätigkeiten (Seite 175-229). Hierbei geht Widmer dankenswerterweise auch auf die Konfliktpunkte ein, die sich in der Auseinandersetzung von deutschen Behörden, Meinungsbildnern und den Mormonen ergaben, unter denen die „Polygamie“ der hervorstechende Punkt war (Seite 268-300). Dabei ist es bemerkenswert, daß die deutschsprachigen Behörden nur in den wenigsten Fällen tatsächlich Gesetzesverstöße ermitteln konnten. 

Überhaupt wurde nur in wenigen Gesetzestexten das Proselytenmachen thematisiert, so z.B. im österreichischen Militärstrafgesetzbuch. Dort hieß es 1855 immerhin: „Von der Religions-Störung. § 401: Das Verbrechen der Religions-Störung begeht: a) wer durch Reden, Handlungen, in Druckwerken oder verbreiteten Schriften Gott lästert; b) wer eine im Staate bestehende Religions-Übung stört, oder durch entehrende Mißhandlung an den zum Gottesdienste gewidmeten Gerätschaften oder sonst durch Handlungen, Reden, in Druckwerken oder verbreiteten Schriften, öffentlich der Religion Verachtung bezeigt; c) wer einen Christen zum Abfalle vom Christentume zu verleiten, oder wer Unglauben zu verbreiten, oder, eine der christlichen Religion widerstrebende Irrlehre auszustreuen sucht.“ [4] Auch wenn die Mormonen hier nicht explizit genannt wurden, so konnten sie doch unter Umständen des letzten Absatzes halber verfolgt werden.

Anschließend bringt Widmer Bemerkungen über die sozialen Verhältnisse in Großbritannien und den deutschen Ländern (Seite 230-247) ebenso wie Angaben zu den ersten deutschen Konvertierten, deren Namen, deren Taufdaten (Seite 247-255) und zu deren Emigration nach Deseret beziehungsweise Utah (Seite 255-267).  In einem weiteren Abschnitt (Seite 301-357) kommt dann das eigentliche Kernthema zur Sprache, mit dem sich Widmers Werk laut Untertitel vor allem befaßt; mit der Interaktion zwischen verschiedenen Staatsinstitutionen und den Mormonen. Wie in der ganzen Studie, deckt Widmer hier den großen zeitlichen Rahmen von 1840 bis 1990 ab, beschreibt also mithin das Verhältnis der sich wandelnden Kirche zu mindestens einem Dutzend Staatsgebilden auf deutschem Boden (neben den vielen deutschen Kleinstaaten auch dann ab 1871 Auseinandersetzungen im Kaiserreich, ab 1918 in der Weimarer Republik, ab 1933 im Dritten Reich, ab 1948/49 in der BRD und in der DDR). Hierbei geht Widmer auch auf die staatlicherseits projizierte und wahrgenommene (d.h. angebliche) Verflechtung der Kirche mit Sozialisten, Marxisten und Sozialdemokraten ein (Seite 325-330). 

Abschließend kommt er zum dem Ergebnis, daß die Kirche der Heiligen der Letzten Tage von 1840 bis 1918 nicht weniger oder mehr verfolgt wurde als alle anderen „Sekten“ in deutschen Ländern. Die eher selten auftretenden Fälle der Inhaftierung von Emissären der Mormonen hätten ihren Grund in der Übertretung von Verboten gehabt (Seite 360). Die „Verfolgung der Mormonen durch die Regierungen“, der in der kollektiven Erinnerungskultur der heutigen „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ eine große Rolle spielt, [5] war also tatsächlich nur ein Widerstand gegen ausländische Emissäre und keine Verfolgung einer religiösen Betätigung deutscher Mormonen. Das Mißtrauen der deutschen Behörden sei, so Widmer, aber auch darin begründet gewesen, daß die Obrigkeiten die Mormonen weniger als religiöse, sondern mehr als politische Bewegung angesehen hätten (Seite 361). Befürchtungen der deutschen Presse, die Emissäre der Mormonen würden Massen von jungen Frauen aus der deutschen Bevölkerung zur Auswanderung nach Utah verführen, erwiesen sich indes laut Widmer als Phantasien sensatioanslüsterner Journalisten (Seite 364-365). Widmer referiert schließlich auch über das Verhältnis von Staat und Kirche nach dem zweiten Weltkrieg, das sich hin zum Positiven gewendet habe, sowohl in der DDR, [6] als auch in der BRD.

Inhaltlich fragwürdig ist indes die Methodik und die Quellenauswahl Widmers. Die sonst für eine Dissertation und eine wissenschaftliche Arbeit von Format (schließlich soll der Promovierende durch diese Arbeit „eine besondere wissenschaftliche Qualifikation“ [7] durch eigene Forschungsleistungen nachweisen) durchaus üblichen Bestandteile, die das eigene Vorhaben konkretisieren und fokussieren, vor allem aber auch Vor- und Nachteile der gewählten Untersuchungswege und die getroffene Auswahl an Quellen begründen und legitimisieren, fehlen bei Widmer vollständig. Es bleibt also im Dunkeln, welche Methode er wählte und warum er Aktenquellen aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz benutzte, nicht aber Akten zu den Mormonen aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart. [8] 

An seinen Ausführungen ist aber immerhin im Nachhinein erkenntlich, daß Widmer sozialgeschichtlich orientiert gearbeitet hat, dabei jedoch nicht auf transformative, performative, sozialpsychologische, koloniale, kulturvermessende, interkulturelle, globalgeschichtliche oder geschlechtsspezifische Sichtweisen eingeht (um nur eine kleine Auswahl an möglichen Methoden zu nennen). Welche  Methode Widmer benutzt hat, muß man sich als LeserIn und Leser also selbst ex negativo erschließen. Weitgehend konzeptlos steuert Widmer daher durch sein Untersuchungsgebiet, wenngleich er als Erkenntnisinteresse immerhin die Frage formuliert: „Persecution, it is often claimed, is the central reason for the lack of the Mormons´missionary success in Germany. Yes, is this really the case?“. Immerhin gilt jedoch, daß sich gegenüber den mormonischen (identitätstiftenden) und verklärenden reinen deskriptiven „Geschichtschroniken“ Widmers Studie abhebt. [9]

Im Vorwort von Ulrich van der Heyden (Mitlgied der Berliner Geselslchaft für Missionsgeshcichte) heißt es indes, es sei ein großes Verdienst der Widmerschen Studie, daß der Autor relevante Literaturquellen entdeckt, evaluiert und analysiert hätte (Seite 6). Dieses Lob kann nicht ganz geteilt werden, da Widmer zwar in der Tat, wie sein Literaturverzeichnis ausweist, sehr viele bisher nur marginal oder gar nicht wahrgenommene Aufsätze und Zeitungsartikel benützt hat, aber heute - in der zweiten Dekade des XXI. Jahrhunderts - die „Entdeckung“ derartiger Quellen durchaus nicht als „Verdienst“ gelten kann, sondern mittlerweile zur methodischen Grundausstattung jeder Historikerin und jedes Historikers in Form von gewöhnlichen digitalen Arbeitstechniken gehört. [10] 

Trotz dieser mühseligen Ermittlungsarbeit, deren Fleißanteil durchaus aber nicht in Abrede gestellt werden soll,  geht Widmer jedoch nur am Rande auf die Erzeugung eines Bildes der Mormonen durch das literarische Feld ein (Seite 364-365), welches nach Meinung des Rezensenten durchaus erheblich präformierend auf die Reaktionweisen der deutschen Bevölkerung, ihrer MeinungsbildnerInnen [11] und der Behörden einwirkte und erst die Voraussetzungen schuf für die Art der Behandlung der Mormonen durch die deutschen Obrigkeiten. Widmers Schilderung beginnt vielmehr relativ unvermittelt nach Darlegung der Kirchengeschichte in den USA mit dem Auftauchen der ersten Missionare der Mormonen in Deutschland. Widmer mißachtet damit die Bedeutung, die deutschsprachige Quellen in den ersten Jahren nach 1830 (also den Jahren, in denen es noch keine planmäßige „German Mission“ der Mormonen gab). 

Daher bleibt kritisch anzumerken, daß „die Deutschen“ nicht plötzlich mit auftauchenden Missionaren konfrontiert wurden, sondern bereits deterministisch geprägte Bilder im kollektiven Gedächtnis hatten, die sich dort, teilweise äußert widersprechend und mannigfaltig, auch von Gerüchten, Projektionen und bloßen abenteuerlichen Behauptungen gespeist, über fast zwei Jahrzehnte festsetzen konnten. Widmer erwähnt diesen Aspekt nur sehr kurz, analysiert jedoch das literarische Feld nicht. Dies zu unternehmen sollte daher Inhalt weiterer Studien sein, die dann auch interkulturelle Fragen stellen und beantworten könnten, die zudem hochaktuell wären. Denn noch immer missioniert die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ in Deutschland, wesentlich massiver als im XIX. Säkulum, im Übrigen aber mit ganz ähnlichen Begegnungssituationen zwischen „dem Eigenen“ und „dem Anderen“. Auf den Straßen deutscher Städte umherziehende Mormonenmissonare, stets im Paar auftretend, die Frauen in langen Röcken und die Männer im dunklen Anzug mit Krawatte, [12] gehören zum urbanen deutschen Weichbild der Moderne unabweislich und dauerhaft dazu.

Kommen wir damit zu weiteren kritischen Stellen der Studie. Widmer behauptet, Altona habe zur Mitte des XIX. Jahrhunderts in Dänemark gelegen (Seite 150 und 172), was jedoch irrig ist: Dänemark und Schleswig-Holstein wurden in Personalunion regiert, Holstein aber war zur fraglichen Zeit kein Teil von Dänemark, [13] sondern Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen Bundesfürst der dänische König in seiner Eigenschaft als Herzog von Holstein war. [14] Eine andere Quelle wird von Widmer bewußt verkürzt und damit eine Aussage im Kontext unterschlagen. Es handelt sich um eine Aussage von dem Mormonen Orson Pratt, die er 1856 machte und die besagte, daß die deutschen Länder in Zukunft vom Ausland her bekehrt würden und es dort mehr Anhänger geben würde als in England oder irgendeiner anderen Nation. Widmer stellt dies so dar, als sei dies eine gewöhnliche Aussage Pratts und von Joseph Smith gewesen (Seite 46). Tatsächlich war dies aber eine Prophezeiung von Jesus Christus, die Pratt für sich in Anspruch nahm. [15] Dies wird aber nicht bei Widmer bewußt, weil er den Einleitungsteil der Quelle, in dem dies steht, nicht mit in sein Zitat übernimmt. Gerade aber diese Erhöhung im Prestige der Aussage wirft ein bezeichnendes Licht auf die Unglaubwürdigkeit der Aussage Pratts als Kirchenangehöriger (die Missionserfolge in Deutschland waren quantitativ sehr marginal, wie Widmer selbst auf Seite 172 ausführt) und zeigt, daß der Topos „Jesus Chrisus“ bisweilen auch lediglich instrumentalisiert wurde, um eigene Ziele zu erreichen (wie hier vermutlich eine Steigerung der Intensität der Gruppalidentität der deutschen Mormonengemeinde in England).

Eine andere Form von Kritik ist bezüglich einiger Formalangelegenheiten anzusprechen. Für die deutschsprachigen Texte, die Widmer verwendete, sei es im Akten- und Literaturverzeichnis oder auch in Fußnoten und im Haupttext, scheint es kein Lektorat gegeben zu haben und es ist bemerklich, daß Widmer kein deutscher Muttersprachler sein kann. Hier kommen Grammatik- und Schreibfehler in Massen vor. Widmer gestaltet ganz willkürlich seine deutsche Groß- und Kleinschreibung, häufig, aber eben nicht einmal systematisch und ausschließlich, nach englischem System (Seite 183, 184, 205, 208, 209, 248, 253, 254, 263). So ist es, um nun in ein Meer von Beispielen einzutauchen, nicht erklärlich, wieso Widmer „bildungsbürgertum“, „bildung“ und „handwerker“ klein schreibt, auf derselben Seite aber „Realschule“ und „Gymnasium“ groß (Seite 253). So ergeben sich besonders abenteuerliche Transformationen, die einen ganzen Titel einer Quelle derart verändern, daß die Lesenden Mühe haben, den Titel zu identifizieren. Dies ist zum Beispiel der Fall bei „Maria Winkler, Das Bergwiesen Gemetzel: Das Mormontum sein gefährliches Wissen und wirken mit besonderen Berucksichtichkeit der Deutschen Verhältnis, Hirschfeld 1908, p.98“ (Seite 254). 

Wie dieser Titel tatsächlich lautet, muß indes ungewiß bleiben. Offensichtlich handelt es sich aber um einen Aufsatz in einem Sammelband, dessen Herausgeber „Hirschfeld“ heißen soll. Sucht man dann aber im Literaturverzeichnis nach dem Namen „Hirschfeld“, findet man diesen bei dem Buchstaben „H“ weder im Bücherverzeichnis (Seite 385) noch im Buchkapitelverzeichnis (Seite 398), auch nicht unter „W“ wie Winkler). Tatsächlich handelt es sich vielmehr um den Titel „Maria Lydia Winkler: Das Bergwiesen-Gemetzel in dem Mormonenstaat der Heiligen der letzten Tage am 11. September 1857, Berlin 1908“. Diesen Titel hätte Widmer entweder der Quelle selbst oder aber schon dem Werk von Chad J. Flake und Larry W. Draper mit dem Titel „A Mormon Bibliography, 1830-1930“ aus dem Jahre 2004 entnehmen können, in der der Titel unter dem Eintrag Nro. 9944a nachgewiesen wurde. Aber von einem wie auch immer gearteten Untertitel dieses Werkes namens „Das Mormontum sein gefährliches Wissen und wirken mit besonderen Berucksichtichkeit der Deutschen Verhältnis“ (wahrscheinlich, wenn überhaupt schon eher „Das Mormonentum, sein gefährliches Wissen und Wirken mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Verhältnisse“ oder ähnlich) ist dort nicht die Rede. 

Dann wieder sind andere von Widmer genannte Titel nicht auflösbar, auch beim besten Willen einer wohlwollenden Interpretation nicht. Was soll beispielsweise „In den Bestünden der Mormonen“ (Seite 379) heißen? Auch viele Faszikeltitel von Akten und Aktenbetreffen aus archivalischen Beständen werden von Widmer abenteuerlich umgeformt: So vermag man sich unter „Kaiserlich Deutschen Konsulat“ (Seite 372) nichts vorzustellen als  nur das, daß in diesem Aktenfaszikel offensichtlich ein Vermerk (?), eine Notiz (?), eine Korrespondenz (?) oder ähnliches (?) gemeint ist, welches das „Kaiserlich Deutsche Konsulat“ betrifft. Hinzu kommen Fehler, die die historische Realität entfremden: Es existierte in Preußen kein „Königliches Ministerium der auswärtigen Angelegenheit“ (Seite 372 in der drittletzten Zeile), vielmehr aber ein „Ministerium der auswärtige Angelegenheiten“. Der „Regierungspräsident Hanover“ (Seite 372) residierte in Hannover; eine Stadt namens „Hanover“ gab es nicht. Weiters existierte in Preußen auch kein „Ober Presidium“ (Seite 373), sondern es hätte „Oberpräsidium“ heißen müssen. Widmer meint auch, es hätte einen „Minister des Geistliches und Unterrichts Angelegenheiten“ gegeben (Seite 373), der aber wirklich „Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten“ genannt wurde. Auch verwendet Widmer gern mehrfach divergente Schreibweisen derselben Worte: Mal heißt der Berliner Generalpolizeidirektor Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey (1805-1856) tatsächlich „Hinckeldey“, drei Zeilen darüber aber „Hickeldney“ (Seite 371). Selbst us-amerikanische Mormonen-Emissäre werden nicht von willkürlichen Namensänderungen verschont: Der Salzseestadt-Sendling George C.(hristian) Riser heißt bei Widmer „Reiser“ (Seite 8 und 154-160), obwohl Riser nicht nur in eigenen Quellen, sondern auch seitens der Kirche selbst „Riser“ geschrieben wird. [16]

Stimmen kann auch nicht der von Widmer ermittelte Titel „Wo Ist das Wahre Evangelium: Ein in Gegenwart Mehrerer Personen sich Entwickelndes gesprech zwischen einen Mormonen, einen Pfarrer und einen Reisender“ (Seite 184). Derselbe Titel heißt dann nur eine Widmer´sche Seite weiter „Wo ist das Wahre Evangelium? Ein in Gegenwart mehrerer Personen sich entwickelndes Gespräch zwischen einen Mormonen, einen Pfarrer und einem Reisenden“. In der Realität heißt das Buch aber „Wo ist das wahre Evangelium? Ein in Gegenwart mehrerer Personen sich entwickelndes Gespräch zwischen einem Missionar, einem Pfarrer und einem Reisenden“ und es stammt auch nicht von „Ben E. Rich“ (Seite 184-185), sondern von „Benjamin E. Rich“. 

Auch ist natürlich Wilhelm Braeuckers akademnische Qualifikationsarbeit „Die Entstehung der Eugenik in Deutschland“ von 1917 keine „Dissertation Doktors der Philosophie“, sondern eine “Dissertation zum Doktor der Philosophie“. Mit dem aufgeführten Reigen, der sich bedauerlicherweise, was den Lesefluß zumindest der deutschsprachigen Lesenden erheblich stört, noch massenhaft ausbreiten ließe (warum heißt es auf Seite 209 einmal „Vernunftgemasse Theologie“ und in der Fußnote Nro. 118 auf derselben Seite “Vernunftgemäße Theologie“?), möge indes dieser Aspekt abgeschlossen werden. Doch kann konstatiert werden, daß es verwunderlich ist, wie man mit derartigen Schreibweisenvarianten, Titelveränderungen und Uneindeutigkeiten bei der Titelnachweisung, die ja nicht einmal singulär auftreten, eine Doktorarbeit an der Humboldt-Universität bestehen kann; und scheinbar - zu diesem Ergebnis muß man nach der intensiven Lektüre kommen - haben weder deutsche Bekannte oder KollegInnen des Autors Korrektur gelesen noch der Franz-Steiner-Verlag deutsche KorrekturleserInnen eingesetzt. 

Für eine zweite Auflage, die dem Werk aber insgesamt zu wünschen wäre, ließe sich dieser Mangel jedoch gewiß abstellen. Denn trotz aller Kritik hat Widmer ein Werk vorgelegt, daß a) manche Legenden und Mythen um die Mormonen wissenschaftlich demontiert hat und b) erstmals auch die Interaktion zwischen Behörden, Gesellschaft und Mormonen in den Blick genommen hat. Vielleicht ist es symptomatisch, daß die Studie nicht von einem Deutschen und nicht in deutscher Sprache erstellt wurde. Das zeigt, daß das Thema „Mormonen“ immer noch vorwiegend ein nordamerikanisches Thema ist, mit dem die deutsche Geschichtswissenschaft bislang nicht viel anzufangen weiß.

Diese Rezension wurde von Claus Heinrich Bill verfaßt und erschien zuerst gedruckt in der "Nobilitas - Zeitschrift für deutsche Adelsforschung".

Annotationen =

  • [1] = Bayerische Landbötin, Ausgabe Nro.189 vom 9. August 1856, Seite 2
  • [2] = Siehe dazu Oliver König / Karl Schrattenhofer: Einführung in die Gruppendynamik, Heidelberg, 2007 (2.Auflage), Seite 51
  • [3] = Er veröffentlichte vorher (2012) bereits das Werk „Mormonism and the Nature of God. A Theological Evolution 1830-1915“ in englischer Sprache.
  • [4] = Militärstrafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 15. Jänner 1855 für das Kaiserthum Österreich, Wien 1855, Seite 160-161
  • [5] = Aufschlußreich und zugleich symptomatisch für diese Haltung und Wahrnehmung ist in diesem Kontext der Aufsatz von Lisa Bolin Hawkins: Verfolgungen, in: Daniel H. Ludlow (Herausgebender): Kirchengeschichte, Salt Lake City / Bad Reichenhall 1997, Seite 516-517
  • [6] = Seltsamerweise fehlt im Literaturverzeichnis bei Widmer (Seite 385) der Verweis auf die Benützung des einschlägigen Werkes Raymond Kuehne: Mormonen und Staatsbürger. Eine dokumentierte Geschichte der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in der DDR, Leipzig 2007. Kuehne ist Widmer dennoch über einen Aufsatz bekannt, allerdings nennt Widmer ihn in seinem Literatuverzeichnis irrtümlich „Kuehn“ (Seite 398)
  • [7] = Der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin (Herausgebender): Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät I. (Amtliches Mitteilungsblatt Nro. 8), Berlin 2010, Seite 3 
  • [8] = Zum Beispiel die Akte mit der Signatur „E 151/02 Bü 856“ aus dem Bestand Innenministerium, Abteilung II: Rechtssachen, Staatsangehörigkeit, Personenstand 1802-1945, betreffend: Missionare der Mormonen mit der Laufzeit 1853 und 1892-1933. Im Hauptstaatsarchiv gibt es eine ganze Reihe weiterer Akten zu historischen Mormonenmissionaren und dem behördlichen Umgang mit ihnen. In hessischen Staatsarchiven finden sich zudem rund 20 Aktenfaszikel zur Glaubensgemeinschaft (http://www.hadis.hessen.de), in thüringischen Staatsarchiven mindestens 4 Aktenfaszikel (http://www.archive-in-thueringen.de), in saarlänidschen Staatsarchiven 14 Aktenfasizkel (http://www.bestaende-landesarchiv.saarland.de), in mecklenburg-vorpommerschen Staatsarchiven 3 Aktenfaszikel (http://ariadne.uni-greifswald.de), in sachsen-anhaltinischen Staatsarchiven 2 Aktenfaszikel (http://recherche.lha.sachsen-anhalt.de), in niedersächsischen Staatsarchiven 21 Aktenfaszikel (http://aidaonline.niedersachsen.de) und so weiter und so fort, um hier nur willkürliche Beispiele heraus zu greifen
  • [9] = Dazu zählt z.B. Albert Riedel: Die Geschichte der deutschsprachigen Missionen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Band I. („Von der Gru?ndung bis 1900“), Salt Lake City 1971. Merkwürdigerweise wird Riedel bei Widmer „Reidel“ geschrieben (Seite 165, 389).
  • [10] = Siehe dazu Martin Gasteiner / Peter Haber (Herausgeber): Digitale Arbeitstechniken für die Geistes- und Kulturwissenschaften, Wien 2010
  • [11] = Es waren jedoch überwiegend männliche Meinungsbildner, die auf das öffentliche Bild der Mormonen in den deutschen Ländern einwirkten. Eine Ausnahme war Nomen Nescio: Frauenleben unter den Mormenen. Vieljährige Erlebnisse der kürzlich aus Utah zurückgekehrten Gattin eines Aeltesten der Mormonen (verdeutscht von A. Kretzschmar), Band I., Leipzig 1856, beinhaltet 169 Seiten. Dieser Band war antimormonisch geschrieben worden.
  • [12] = Zu den Kleidervorschriften der Kirche siehe die beiden „Guidelines for sisters“ und „Guidlines for Elders“ auf der Webseite „https://www.lds.org/callings/missionary/dress-grooming“ gemäß Abruf vom 25. November 2013: „Choose skirts with patterns and colors that you can mix and match with a variety of blouses and tops. Skirts should fully cover the entire knee (front and back) when you are standing or sitting.“ (für Frauen) sowie „Wear business-style suits in conservative colors. If you wear lighter-colored suits, choose shades of grey or brown. “ (für Männer) usw.
  • [13] = Siehe dazu Robert Bohn: Dänische Geschichte, München 2001, Seite 97 
  • [14] = Wolf D. Gruner: Der Deutsche Bund 1815 bis 1866, München 2012, Seite 26
  • [15] = Eduard Schönfeld: Einweihung der ersten deutschen Gemeinde in London, in:  John L. Smith (Redakteur): Der Darsteller der Heiligen der letzten Tage (Genf), Band II., Ausgabe Nro.7 vom Dezember 1856,  Seite 108
  • [16] = Siehe beispielsweise den Eintrag zu seinem Nachlaß („Inventory of the George Christian Riser papers“) in der J. Willard Marriott Library at the University of Utah unter der Webadresse „http://content.lib.utah.edu/cdm/ref/collection/UU_EAD/id/1574“ gemäß Abruf vom 25. Oktober 2013. Die Namenumbenennung ist Widmer zwar bewußt (dies geht aus der Fußnote Nro.94 hervor), er bleibt aber ein Erklärung dafür schuldig, warum er Riser umbenannt hat und nennt insbesondere auch keine historische Quelle für seine Behauptung der Schreibweise „Reiser“.

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