Institut Deutsche Adelsforschung
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Charles-Louis de Montesquieus Reiseberichte über deutsche Länder 

Erstmals 2014 in deutscher Sprache erschienen

Im März 1914 erinnerte eine ungarische Zeitung an die Reisen des französischen Staatsrechtlers Charles-Louis de Secondat Baron de La Brède et de Montesquieu (1689-1755) durch Ungarn: "Montesquieu hatte sich im Jahre 1728 mit seinem Freunde Lord Waldgrave, dem Gesandten Georgs des Zweiten von England am Wiener Hofe Karls des Vierten nach Oesterreich begeben, um, wie es einem angehenden Diplomaten geziemt, die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Institutionen, Sitten und Gesetze einzelner Völker auf Grund persönlicher Erfahrungen zu studieren. Oesterreich war jedoch nicht das einzige Land der Habsburger, das der berühmte Historiker kennen zu lernen wünschte. Ungarn erweckte mit seinen alten, noch aus dem Mittelalter überlieferten Sitten und Gewohnheiten viel stärker sein Interesse. 

Über die Gründe, die ihn nach Ungarn führten, finden wir in seinen handschriftlichen „Pensées" folgendes: `Ich möchte Ungarn sehen, weil alle Staaten Europas einst so waren wie Ungarn in der Gegenwart ist und weil ich die Sitten unserer Väter kennen lernen möchte.´ In einem Brief an den Herzog Richelieu schreibt er: `Der Kaiser soll den 20. nach Graz und Triest reisen. Man rechnet, daß diese Reise 3½ Monate in Anspruch nehmen wird. Dies veranlaßt mich, einen Teil Ungarns zu besichtigen; werde zu Beginn nächster Woche nach Preßburg reisen, um den Reichstag zu besichtigen.´ Montesquieu besuchte auch Körmöczbánya, Selmeczbánya, Beßterczebánya und Ujbánya und dürfte sich drei bis vier Wochen in Ungarn aufgehalten haben. Leider blieb uns fast nichts von seinen in Ungarn gemachten Reiseaufzeichnungen erhalten; bloß hier und dort finden wir einiges in seinen Aufzeichnungen über Italien und Deutschland, wohin er sich nach seinen Reisen in Ungarn begeben hatte." (Pester Lloyd [Budapest], Morgenblatt-Ausgabe Nr. 74 vom 27. März 1914, Seite 8)

Diese Überlieferungslage galt lange Zeit auch für Montesquieus Reiseberichte über Deutschland, die bislang nur in französischer Sprache vorlagen. Jürgen Overhoff, ausgewiesener Montesquieuforscher, hat 2014 im Stuttgarter Cottaverlag einen Band mit eben diesen Berichten erstmals in deutscher Sprache herausgegeben, welcher den Titel „Charles-Louis de Montesquieu: Meine Reisen in Deutschland 1728-1729“ trägt. 

Entstanden ist es aus einem seiner DFG-geförderten Projekte, in denen er die Rezeption des föderalen Systems der deutschen Länder im XVIII. Jahrhundert auf die amerikanische Verfassung untersucht hatte. Das im Hardcoververfahren gebundene Büchlein mit 216 Seiten inklusive Namensregister und farbigen Umschlag, Karten und zahlreichen schwarz-weißen Abbildungen, welches für 22,00 Euro erwerbbar ist, bietet indes in mehrfacher Hinsicht eine interessante Lektüre. Erstens gilt dies für Reiseberichte schlechthin, zweitens wird ein geradezu interkultureller Blick sichtbar, weil Montesquieu als Franzose den kulturellen Codices „der Deutschen“ fremd gegenüber stand. Da diese Erinnerungen an seine Reisen zudem weitestgehend enzyklisch gestaltet wurden, also mit einem echten Interesse an der Erkundung der ihm fremden Sinnsysteme und Kohärenzgefühlbestandteile ausgestattet wurden, dürfen sie erhöhte Aufmerksamkeit beanspruchen. 

Overhoff ermöglicht damit deutschen Lesenden einen rekreativen Blick auf das, was „der Fremde“als deutsche Wesensarten zu identifizieren glaubte und konfrontiert ihn zusätzlich mit Klischees, Pauschalisierungen und Stereotypen, etwa, wenn Montesquieu unverhohlen von sogenannten „deutschen Eigenschaften“ spricht. Somit bietet Overhoff einen deutsch übersetzten ausländischen Blick auf „das Deutsche“, der in Form des Buches gleichberechtigt neben weitere leider noch viel zu selten erscheinende Werke ähnlichen Zuschnitts gestellt werden kann, von denen hier beispielhaft nur das Werk von Hartmut Lutz über „Abraham Ulrikab im Zoo. Tagebuch eines Inuk 1880/81“ (Wesel 2007) genannt sei. Auch wenn Montesquieu nur „Franzose“ war und viele europäische Befindlichkeiten mit Deutschen teilte, ist er doch „fremd“ genug, um deutsche Verhaltensweisen oder Eigenschaften, aber auch Besonderheiten zu erkennen. Diese brachte er eifrig tagebuchartig und in Briefen zu Papier. Dabei ist sein spezieller Blick bisweilen nicht ungetrübt, wendet sich aber einer Vielzahl von Beobachtungsgegenständen zu. 

Freilich beobachtet und notierte Montesqiueu selektiv. Seine Vorliebe für Technik scheint bei seinen ausführlichen Schilderungen z.B. von barocken Wasserkünsten und Zugbrückenkonstruktionen auf, wie er sie detailliert für Herrenhausen und Augsburg schildert (Seite 91-92 und 139-141). Auch sein ausgeprägtes Interesse am deutschen Staatswesen und Föderalismus kommt oft zu Wort, wenn er Erkenntnisse oder Werke notiert, die er im Gespräch mit Diplomaten und Politikern gewonnen hatte. Neben stark vertretenem Klatsch und Tratsch der Hofgesellschaften bringt er aber auch treffende Kurzcharakteristiken von diversen Persönlichkeiten, denen er auf seinen mannigfaltigen Reisen begegnet war. Das Alltagsleben anderer Volksschichten dagegen tritt bei ihm in den Hintergrund. 

Gleichwohl und trotz dieser inhaltlichen Blickbeschränkungen sind Montesquieus Schilderungen über seine Deutschlandreisen ein exzellentes Beispiel für ein frühneuzeitliches Egodokument mit interkultureller Grundeinstellung. Bei vielerlei Schilderungen böte sich auch eine weiterführende Analyse an, beispielsweise nach den sieben Kategorien der interkulturellen Kommunikation nach Hamid Reza Yousefi (Interkulturelle Kommunikation, Darmstadt 2014). 

Overhoff hat seinem Werk einige Annotationen und Erklärungen in Fußnoten mit Sternchen beigegeben, auch wenn insgesamt sein Buch mehr einer vom Verlag im kleinen Format und bibliophil liebevoll ausgestatteten Unterhaltungslektüre ist als einer wissenschaftlichen Textedition entspricht. Dennoch gilt, daß Montesquieu viele „Bilder des Deutschen“ sowohl konstruiert wie auch dekonstruiert, worauf Overhoff gelegentlich auch explizit hinweist, etwa bei den repräsentativen Fürstenbildern, die er mit konterkarierenden Unterschriften versieht (Seite 82,182 etc).

Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß der von Overhoff hier erstmals aufgeworfene französisch-subjektive Blick eines bestimmten frühneuzeitlichen Staatsphilosophen bemerkenswerte Einschätzungen aufzeigt und nicht zuletzt auch einen wichtigen Beitrag zur „imaginativen Deutschlandkunde“ liefert, die insgesamt noch als ein in der kulturwissenschaftlichen Forschung und der Subdisziplin einer „Imaginative Geography“ unterentwickeltes Bild bezeichnet werden kann.

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A. (Kiel) 


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