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Nobilität und interdisziplinäre ModerneforschungAnsätze für neuere Sichtweisen auf die AdelsgeschichteZum Themenbereich „Adel und Moderne“ sind nicht nur in der Postmoderne etliche Arbeiten erschienen, [1] auch historisch hat sich der Adel mit „Modernitäten“ auseinandergesetzt, teils innovativ mit Re-Inventionstechniken, die alte Traditionen modifiziert haben und dem Adel dadurch in den deutschsprachigen Ländern ein „Obenbleiben“ oder „Überleben“ gesichert haben, [2] teils aber auch abwehrend, so, wenn „Modernität“ mit Adelsfeindlichkeit gleichgesetzt worden ist. So dürfte einerseits das Angebot des biedermeierlichen Regenschirmmachers Aloys Hochenegg aus dem steiermärkischen Graz 1822 beim Adel auf positive Resonanz gestoßen sein, weil dieser mit der Bezugsmöglichkeit kostspieliger, seltener und daher moderner Distinktionsgegenstände warb; denn es hieß in einer Grazer Zeitung „Gehorsamste Anzeige. Unterzeichneter gibt sich die Ehre einem hohen Adel und verehrungswürdigen Publikum ergebenst mitzutheilen. daß bei ihm alle Gattungen Parapluies von echt feinfärbigen italienischen Glanz-Taffeten und mit modernsten Borduren nach dem neuesten Geschmacke verfertiget, und versilberten Spitzen versehen, zu den billigsten Preisen zu haben sind.“ [3] Hier war das „Modernsein“ für den Adel gleichbedeutend mit der Aufrechterhaltung der Sichtbarkeit von Adel durch Konsumgegenstände, die nicht jeder besitzen konnte und die erst nach und nach durch Massenrezeption ihren ursprünglichen Seltenheitswert einbüßten. Der Adel war daher „modern“ in dem Sinne, als er die erfolgreiche Suche nach Distinktionsartefakten als Re-Inventionstechnik anwandte. [4] Sie bestand darin, sich immer wieder neue Produkte der Adelsvisibilisierung zu suchen. Man denke nur an die Gegenstände der Wunderkammern, an kostbare Kleidungsstücke, an die Portechaise in der Frühen Neuzeit, an das Auto um die Jahrhundertwende 1900, später an die Kriegsfliegerei im ersten Weltkrieg als Ersatz für die absterbende Kavallerie. Alles dies waren Bereiche, die sich der Adel rasch aneignete, hier handelte er flexibel und „modern“. Andererseits gab es aber auch – abgesehen von dezidiert liberalen Adeligen der preußischen und bayerischen Reformzeit wie Stein, Hardenberg, Feuerbach, Montgelas – adelige Vorbehalte gegen „moderne“ Bestrebungen in größeren Bereichen, vor allem wenn die Moderne nicht durch den Adel beherrscht werden konnte, sondern sich andere Kräfte des „Modernediskurses“ bedienten, um den Adel zu kritisieren oder ihn sogar als Stand aus dem staatlichen Leben zu eliminieren. Die als unbeherrschbar wahrgenommene „Moderne“ wurde so auch zum Feindbild des Adels. So bemerkte ein Anonymus 1845 in einer sächsischen Rezension zu einem Reisebericht des innovationsfreudigen und später in die USA emigrierten polnischen Grafen Adam Gurowski (1805-1866) [5] im Jahre 1844: „Er bezeichnet das Mittelalter mit seinem Ritterthum, mit seiner blühenden Kraft als die kräftige Zeit selbständiger Individualität. Jetzt leben wir in der Zeit des kleinlichen schleichenden, egoistischen Individualismus. [6] Überall wird gesagt, man sei jetzt positiv und ohne Illusionen; freilich, sagt Gurowski, sei dem so, denn Illusion ist der Glaube an das Schöne, Erhabene, Edle außer uns und Andern. Die alten Ritter verbanden sich zu Orden, damit Einer dem Andern beistehe in Tod und Leben, die Städter verbanden sich zu Brüderschaften und Zünften, das Anagramm der jetzigen Associationen ist [es jedoch, die] eigene Schwachheit hinter der Zahl Anderer zu verstecken, sich derselben zum Steigbügel zu bedienen, endlich sich gegenseitig zu überlisten […] In ähnlicher kräftiger energischer-freimüthiger Sprache redet der Verf.[asser] über den europäischen Adel. Der Adel hat seinen Vorrang verloren und nicht durch steeple-chase, nicht durch Löwenthum wird er ihn wiedergewinnen, obwo[h]l der größte Theil des europäischen Adels seine Superioritat nur in solchen Niedrigkeiten zeigt. Vielmehr wäre es an der Zeit, sich ausgezeichnete Bildung zu erwerben und durch große Ideen und schaffende Thätigkeit sich auszuzeichnen, um der Tradition des Vorrangs treu zu bleiben; auf solche Weise könnte der Adel einer kalten Maschinen- und Phrasenwelt einige Wärme einhauchen, [7] auf Thaten sollte er sich stützen zum Wohl der Menschheit, wie die wahre Ritterehre es gebot. Statt dessen hat der Adel das Zerstörungswerk der Zeit befördert, indem er in der sumpfigen Flut des Materialismus Kraft und Ehre verschwendet. Der Adel sollte dem jetzt herrschenden Verstande des Eigennutzes, der nicht aus dem Adel hervorging und dessen Kind der Pauperismus ist, mit hoher Bildung entgegentreten und denselben durch Aufopferung für das Wohl des Volkes verdrängen. Kann der Adel diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, so ist er moralisch entkräftet und dem Untergange geweiht […] Gurowski meint, das Königthum habe den Adel untergraben dadurch, daß es den neuen Adel schuf; der neugeschaffene Adel, sagt er, verhält sich zu dem alten wie die alten zu den neuen Wappenschilden; die alten waren mit Blut und Waffen gezeichnet, die neuen werden mit dem Ölpinsel an den Kutschenschlag gemalt. Der größte Druck für ein Land ist nicht der reiche Adel, der Adel hat nie mehr als fünf Procent aus seinem Eigenthum gezogen, jetzt oft kaum drei; die reichen Fabrikherren gewinnen mit ihrem Capital 15-20 Procent, und wenn der Fabrikant nicht mehr arbeiten läßt, sind alle Arbeiter Bettler, der Landeigenthümer aber muß seinen Boden immer bebauen lassen. Die Fabrikindustrie ruini[e]rt das Volk, der größte Theil der Erfindungen und Entdeckungen dient doch nicht der Menschheit, sondern nur dem Handels-, Speculations- und Schachergeiste.“ [8] Was Gurowski hier malt, ist das Bild eines gespaltenen Verhältnisses zwischen Adel und Modernismus. Und er griff darin verschiedene Topoi des herrschenden Adelsdiskurses auf. Der doppelte Bildungsappell an den Adel verrät, wie sehr Gurowski von einem intellektuellen Elitenumbau träumte. Doch vermischten sich bei ihm Stadt-, Kapitalismus- und Industrialismuskritik mit Königskritik und ebenso findet sich hier, wie in anderen biedermeierlichen Reformideen zum Adel, auch die Kritik an der zu zahlreichen Schaffung des Bullenadels als Rekrutierungspool eines potentiell landfremden und verarmten Adels, da eine Adelsreform ein deutliches Vorrecht des landgebundenen Erbadels bewirken solle. [9] Allein diese Position zeigt die myrioramatischen Verknüpfungen zwischen Adel und Moderne an, die sich indes nicht allein auf die Adelsforschung und im weiteren Sinne auch die Geschichtswissenschaft beschränken. Denn die Akteur*innen der Postmoderne setzen sich gern reflektierend mit ihren eigenen Wurzeln auseinander. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß allgemein in den Wissenschaften die Moderneforschung en vogue ist. Der Forschungsstand ist sogar als so gut zu bezeichnen, daß der Überblick droht verloren zu gehen. Dem wirkt nun aber das „Handbuch Moderneforschung“ aus dem Suttgarter Metzlerverlag entgegen. [10] Es informiert nicht nur über den neuesten Forschungsstand, bietet damit wertvolle Anschlüsse an derzeitige Diskurse, sondern bildet auch Entwicklungen ab, die sowohl disziplinär als auch interdisziplinär von Bedeutung sind – beispielsweise das durch internationale Vergleiche entstandene Konzept der „multiplen Modernen“. Die adelsbeziehentlichen Andeutungen, die oben im Forschungsbereich der spezialisierten „Social Area Studies“ erfolgten, werden jedoch im Handbuch bedeutend ausgeweitet. Von den zusammen 28 Aufsätzen und Bereichsberichten betreffen sieben Aufsätze Area Studies, d.h. den Stand der Moderneforschung z.B. in Rußland, in China oder Afrika. Als Science Studies dagegen sind die Abschnitte über Ansätze zur Forschung der Moderne in einzelnen Fachdisziplinen zu sehen, z.B. in der Soziologie, der Urbanistik, der Kunst- oder der Rechtswissenschaft. Die Ausrichtung ist interdisziplinär angelegt, und zeigt die vielfältige kulturwissenschaftlich orientierte Verflechtung der Forschungsbereiche an, die gerade in Zeiten der Globalisierung (auch der Wissenschaftsbereiche) an Bedeutung zugenommen hat. Sie nimmt nicht zuletzt auch Bezug auf die häufigen Debatten um die zumeist als bipolar konstruierten und wahrgenommenen Unterschiede zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei müssen – das zeigen sowohl die hier eingangs präsentierten Schirm- und Adelsreformkontexte als auch das Handbuch in seinen Beiträgen eindrücklich – Diskurse um die Moderne nicht immer positiv orientiert sein. Das Aus- und Anrufen der Moderne, die jeweilige Eigenbezeichnung historischer Akteur*innen, wahlweise als modern oder als antimodern, werden dabei ebenso gespiegelt wie die Forschungen über Konzepte über Ablehnung und Angst gegenüber „modernen“ Zeiten; dies schließt auch Erläuterungen zu literaturwissenschaftlichen Arbeiten über die sogenannte „ästhetische Moderne“ oder zum Begriff der „Sattelzeit“ et cetera ein. Eine kulturwissenschaftlich orientierte Adelsforschung wird entsprechend großen Gewinn aus den einzelnen Aufsätzen und den darin präsentierten Forschungsergebnissen und -kontroversen ziehen können. Denn diese können helfen, die Äußerungen der von Gurowski einst behaupteten temperaturbezüglichen Notwendigkeit eines nicht von Rationalität geprägten Adels als Gegenpol zu „einer kalten Maschinen- und Phrasenwelt“, die die Moderne repräsentieren würde, auch in größere Rahmen einzuordnen. So ließe sich z.B. der Begriff der Moderne bei konfessionell gebundenen Adeligen vor 1919 untersuchen, ihre Verortung im protestantischen oder katholischen Spektrum analysieren und einordnen. Auch zahlreiche Anregungen für eigene Forschungsfragen gehen aus dem Handbuch hervor, läßt sich doch vieles auch auf die deutsche Adelsgeschichte und -forschung anwenden bzw. importieren. Außerdem finden sich in vielen Aufsätzen des Handbuchs geeignete Anknüpfungspunkte, so exemplarisch im Aufsatz über Technikgeschichte auch Erörterungen zum elitären Statuskonsum in der Frühen Neuzeit. Denn gerade auch die beabsichtigte historische Ausrichtung in jedem Artikel ermöglicht Anschlüsse an die Geschichte des Adels, der als vormodernes Phänomen rechtlich (d.h. als Stand) nur bis 1919 existierte. Man wird also ohnehin bei jeder Rezeption auf die historische Verwertbarkeit sehen müssen; im erwähnten Handbuch ist sie gegeben, so daß dieses Hilfsmittel bei der Präsentation und Erörterung von Forschungsständen des Modernediskurses ein unentbehrlicher Erfahrungssschatz ausgewählter Fachwissenschaftler*innen ist, von dem nun auch Forschende aus anderen Disziplinen nur profitieren können. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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