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Herausbildung von Niederadel und Ministerialität in WestfalenEin vielgestaltiges Forschungsbild präsentiert sich in einem neuem SammelbandIm Winter 1942/43 erschien in einer westfälischen Zeitung ein Bericht über eine kleine Familiengeschichte des westfälischen Adels; sie begann mit der Vermutung: „Wahrscheinlich sind sie ausgestorben, die Cloedts zu Narteln, Hinnen, Heydemühlen, Remblinghausen, Hanxleden usw. und wie all die Güter in der Grafschaft Mark und dem Herzogtum Westfalen heißen, die die Cloedts mal besessen haben. Jedenfalls haben sie jetzt keins mehr davon. Im Mittelalter spielen sie aber eine große Rolle als Erbkastellane und Erbburggrafen der Grafen von der Mark, und im Ausgang des Mittelalters sind sie besonders groß auf militärischem Gebiet, denn sie werden in einigen Zweigen protestantisch und fechten in französischen Hugenottenkriegen, und im 16. Jahrhundert gibt es einen Cloedt, der für Heinrich IV. von Frankreich kämpft und zehn Söhne im Kriegsdienst verliert, zwei Generale, drei Obersten, zwei Oberstleutnants und drei Rittmeister. Die Mutter ist Margarethe von Westphalen. Neben den Westerholts und vielen andern sind die Cloedts so der beste Beweis, wie kriegerisch der westfälische Adel im 16. Jahrhundert ist. Die Cloedts haben die alte Familientradition, daß sie von dem römischen Hauptmann Clodius stammen, der die bei der Kreuzigung Christi diensttuende, aus Westfalen rekrutierte Truppe kommandiert habe. Das ist natürlich ein Stammbaummärchen, wie man solche besonders im 17. Jahrhundert erfand, wo man sich so vielfach auf alte Römer zurückleitete. [1] Der merkwürdigste von den zehn Söhnen, die der Mann der Margarethe von Westphalen im Kriegsdienst verlor, der älteste, Hermann Friedrich, steht natürlich nicht in den Fahneschen Stammbäumen westfälischer Adelsgeschlechter, [2] obwohl der Rittmeister Hermann Friedrich von Cloedt der älteste Sohn seines Vaters ist. Er starb durch Erdrosselung, und auf solche Weise umgekommene Familienmitglieder wurden anscheinend in den zur Veröffentlichung bestimmten Stammbäumen nicht mitgeteilt. [3] Aber für unsere Heimat ist er der wichtigste, denn er ist ein berühmter Parteigänger des Erzbischofs Gebhard von Truchseß und spielt eine große Rolle in den Wirren, die nach ihm den Namen haben in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. [4] Mit 500 Reitern und 500 Fußgängern steht Hermann Friedrich von Cloedt in Rheinland und Westfalen für Gebhard von Truchseß und die neue Lehre; er hat seinen lutherischen Feldprediger bei sich. Cloedt macht mit seinen Leuten einen Ueberfall auf Zülpich, dann auf das Sauerland, er plündert Werl und wendet sich dann mit seiner Beute zum Rheinland, brennt 50 Ortschaften um Köln ab, erhebt Zölle auf dem Rhein und verbreitet solchen Schrecken, daß der neue bayrische Kurfürst von Köln und Erzbischof Ernst den Herzog von Cleve und den spanischen Statthalter in den Niederlanden, Alexander Farnese, Herzog von Parma, um Hilfe bittet. Cloedt wirft sich in das feste Neuß, und der Herzog von Parma belagert es mit mehreren tausend Spaniern und Italienern. Cloedt verteidigt sich tapfer. Farnese will die Uebergabe durchsetzen, veranlaßt Verhandlungen, und bei den Übergabeverhandlungen wird auf ihn geschossen. Das verzeiht der Herzog von Parma nicht. Seine Spanier stürmen und nehmen den schwer verwundeten Cloedt als Gefangenen gleich unter die Garotte, das Halseisen, mittels dessen in Spanien die Todesstrafe vollstreckt wird. Man hängte ihn dann auf, daneben seinen Feldkaplan. Erfreulicher ist zweihundert Jahre später die Geschichte eines andern Mitgliedes der Familie. Im heiteren Rokoko lebt die Stiftsdame Anna Lucia von Cloedt zu Remblinghausen, jüngste und hübscheste der Insassen des hochadligen freiweltlichen Damenstifts zu Borghorst im Kreise Steinfurt. [5] Diese Damen durften heiraten, legten kein Gelübde ab, und die Teilnahme an Festen war ihnen nicht verboten, nur hatte die Aebtissin, in diesem Falle eine Droste-Vischering, über ihre Aufführung zu wachen. Borghorst liegt dicht bei Burgsteinfurt, und in diesem Ort, geschützt durch den Reichsgrafen, trieb der königlich preußische Leutnant von Oliva sein Wesen oder, wie die Münsterländer, die ihn fürchteten, behaupteten, sein Unwesen als Werbeoffizier, indem er münsterländische Ackerknechte fing für das Bielefelder Regiment von Petersdorf. [6] Der Leutnant von Oliva scheint aber auch sympathische Züge gehabt zu haben, er liebte das schöne Fräulein von Cloedt und veranstaltete in Burgsteinfurt einen Ball, zu dem er auch die Stiftsdamen einlud. Ungern gab die strenge Aebtissin die Erlaubnis für ihre jüngeren Damen und nur unter der Bedingung, daß sie von der Stiftskutsche abgeholt und mit ihr zurückkehren müßten. Als aber die Stiftskutsche vorfuhr, hatte das schöne Fräulein von Cloedt noch absolut keine Lust, nach Hause zu fahren, und ihr Verehrer, der Leutnant von Oliva, bestärkte sie in ihrer Abneigung und versprach ihr, sie in ihrem Ballkleid den ganzen langen Weg zwischen Burgsteinfurt und Borghorst durch den Bagno zu tragen. Dies tat er denn auch: und angesichts des Borghorster Abteigebäudes verabschiedeten sich beide mit einem Kuß voneinander. Die Aebtissin von Droste-Vischering schäumte vor Zorn und berief sofort einen Konvent der 14 hochadeligen Stiftsdamen. In diesem Konvent brandmarkte die Aebtissin das Unpassende des Benehmens ihres jüngsten Mitglieds. Aber wenn man damals auch im heiteren Rokoko lebte, so stand doch die Französische Revolution vor der Tür. Auch die Stiftsdamen in Borghorst ließen sich von ihrer Vorgesetzten nichts sagen. Anna Lucia von Cloedt nahm einen Anwalt in Münster an und verklagte dort beim fürstlichen Hofgericht die Aebtissin von Droste-Vischering mit der„actio iniuriarium“. So etwas war im Münsterland noch nie vorgekommen, und überall lachte man über diesen Beleidigungsprozeß, den das münsterische Hofgericht a limina abwies. Der in Dortmund vor einigen Jahren verstorbene Dichter Uhlmann-Bixterheide, dessen Urgroßvater eine der letzten Cloedts zu Remblinghausen geheiratet hatte, entnahm dieser Geschichte den Stoff zu einer seiner schönsten Balladen.“ [7] Diese kurzen Streiflichter zu den Cloedts, narrativ geschickt mit mehreren Spannungsbögen durch zwei Anekdotenerzählungen gestaltet, in denen Gewalt und Liebe gleichermaßen verarbeitet wurden, dazu noch sich rankend um ein scheinbar erloschenes westfälisches Adelsgeschlecht, war nur einer der vielen „Aufführungen“ des westfälischen Adels in der Massenpresse. [8] Obschon also im Strom der Nachrichten untergehend, dabei immer wieder die Relevanz des Adels hervorhebend, spricht der kleine Aufsatz doch einige wesentliche Lebensbereiche und Kulturpraktiken des westfälischen Adels an, so die Absicherung unverheirateter Adelstöchter in Stiften, aber auch die kriegerisch-militärische Betätigung, die Fehden, die Memoria und Entinnerung, das Selbstverständnis und die Tradierung von Familiengeschichten, dabei hier besonders Rücksicht nehmend auf adelige Devianz, auch hinsichtlich der Frage der Konfession. Jene Aspekte, aber gleichwohl zusätzlich auch noch manche andere Perspektive, vermittelt nun auch wieder ein neuer Sammelband mit elf Aufsätzen namens „Die Kleinen unter den Großen. Ministerialität und Niederadel in spätem Mittelalter und früher Neuzeit“. [9] Dem reichhaltigen Forschungsstand – dokumentiert recht gut in den Fußnoten der Einleitung (Seite 9-28), aber natürlich auch im „Regesta imperii Opac“ mit derzeit 634 (freilich europaweit gestreuten) Titelnachweisen, werden also neue Facetten hinzugesellt, unter anderem zu Herrensitzen des Adels in Westfalen und im nördlichen Rheinland, zu kölnischen Ministerialen als Herrschaftstragenden zwischen Regionaleliten und Erzstift, aber auch eine vorgeblich statistische Auswertung sozialen Aufstiegs am Beispiel der Herren v.Hörde, die sich bei näherer Betrachtung dann aber doch nur als schlichte Auszählung herausstellt, da statistische Methoden nicht angewendet werden. Abgesehen von dieser Fehlbenennung ergibt der lesenswerte Aufsatz (Seite 159-238) aber ein paradigmatisches Beispiel einer „dichten Beschreibung“ einer Adelsfamilie in einer quellenarmen Zeit (1198-1256) ab. Dafür hat die Verfasserin drei Datenbanken angelegt, in der sie systematisch alle auffindbaren Urkunden mit den Hörde-Nennungen aufgenommen hat, um sie in Siegel, Orte und Urkunden einzusortieren. Sodann hat sie daraus Abstammungsverhältnisse, Siegelbilder, ferner verwandtschaftliche, konnubiale, ministeriale, lehnsherrliche, ritterschaftliche, geistige und weitere Beziehungen rekonstruiert, die den Weg der Familie von der Unfreiheit in die Freiheit dokumentiert und minutiös nachzeichnet. Zu Recht wird man mit gleicher Methodik gute Vergleiche ziehen können, wenn auf diese Weise auch andere Familien untersucht würden (Seite 199). Ein weiterer Beitrag nimmt sich zudem der im Text von 1943 bereits erwähnten Fehdethematik an, hier am Beispiel des Diemelraums und darin dem Streben von unfreien Dienstmannen nach sozialem Aufstieg (Seite 265-290). Darin spielen auch löblicherweise Dinge eine größere Rolle, so daß die Agency-Potentialität der Adelserzeugung nicht allein auf menschliche Handlungen verengt wird. Speziell die (wohl doch nur angedrohte) Oeynhausensche Fehde von 1491 wider die Stadt Bielefeld erfährt sodann in einem weiteren Aufsatz eine die Forschung der sogenannten „Ritterfehden“ spezifizierende Würdigung (Seite 291-314), dabei auch Anleihen nehmend bei Bourdieus Kapitalarten (Seite 312). [10] Ein Aufsatz widmet sich ferner, wenn auch nur am Rande dem adeligen Privileg der Taubenzucht (Seite 315-357), hauptsächlich aber der Frage adeliger Gerichtsrechte, in dem jedoch auch wieder Dinge und Gebäude eine besondere Rolle spielen, da in Taubentürmen oft als deviant etikettierte Untertanen inhaftiert wurden (Seite 316). Lesende werden in dem langen archivalienbasierten Aufsatz über das Gut Stockhausen Zeugen eines kleinteilig rekonstruierten Kriminal- und Todesfalls einer Untertanin im Taubenturm. Strafrechte des Adels existierten aus Gewohnheitsrecht, gleichwohl nicht immer anerkannt, wie der Aufsatz breit darlegt (Seite 355-357). Einer der weiteren Aufsätze betrachtet detailliert die Markierungsgrenzen von „Etablierten“ gegenüber „Außenseitern“ bei der Frage der Ahnenprobenregelung für den Zugang zum Hochstift Paderborn (Seite 359-458), was, wie der Verfasser zeigt, im Wegfall der Ahnenprobe, nicht nur Privielgien abbaute, sondern auch Chancen für eine Erneuerung bot. Hier galt nicht zuletzt: Was bleiben wollte, mußte sich verändern. Ein letzter Beitrag im Bande schließlich, hervorgegangen aus einer Münsteranischen Masterarbeit, widmet sich niederadeliger Witwenschaft (Seite 523-571); anscheinend handelt es sich dabei um die vollständige Qualifikationsschrift, könnte man vom Umfang her mutmaßen. Dort kann überzeugend gezeigt werden, wie sehr die Aushandlungen zu rechtlichen Zweifelsformulierungen zu einer besseren Stellung von Witwen und ihren Töchtern führen konnten; Witwen waren zudem nicht einfach nur verbliebene Rudimente nach dem Tode ihres Ehemannes, sondern teils starke Akteurinnen im Niederadel. Am Aufsatz ist jedoch auch auffällig, daß die historiographische Rechtfertigungs-Rhetorik im Abschnitt zum Forschungsstand leider den üblichen Gewohnheiten folgt: Es wird behautet, es gäbe ein Desiderat und dies sei der Grund für die eigene Arbeit. Genannt werden sodann lediglich zwei (sic!) Aufsätze, die als einschlägig benannt werden, um damit den vorgeblich nur singulären und mangelhaften Forschungsstand zu kennzeichnen (Seite 524). [11] Dabei hätten einige einfache Blicke in die „Neue Adels-Bibliographie“ [12] genügt, um festzustellen, daß der Forschungsstand keinesfalls nur aus diesen zwei Publikationen besteht. [13] Ein anderer Mangel des Sammelbandes offenbart sich in der Einleitung. Dort werden goldene Sätze der Erkenntnis formuliert; es sind dies Sätze, die man der Historiographie ins Stammbuch schreiben möchte, „denn Historikerinnen und Historiker sind sich heute weitgehend einig [darüber], dass [sic!] sich Wahrnehmungen, Deutungen und Zuschreibungen von Adligkeit im Laufe der Zeit immer wieder wandelten – und auch während eines konkreten Zeitraums selten einheitlich und eindeutig waren […] Ein Ziel der Geschichtswissenschaft muss [sic!] es daher sein, genauer zu ergründen, wie, von welchen Akteuren [sic!] [14] und mit welchen Interessen in vergangenen Zeiten der Adel definiert, beschrieben, gedeutet und abgegrenzt wurde.“ [15] Diese Skizzierung der Forschungslage und der potentiellen Forschungsaufgaben geht zwar schon in die richtige Richtung, allein ebbt sie dort, wo sie wesentlich werden könnte, abrupt und ohne Not ab, fällt wieder in (freilich bequeme) alte Muster und ausgetretene Pfade zurück. Denn es wird keine übergreifende Theorie entwickelt, was umso seltsamer erscheint, als man gerade die Verschiedenheit von Adelsgruppenbildungen hätte produktiv nutzen können. [17] Dieser Umstand schmälert etwas den Wert der vielen ausführlichen Einzelartikel des Bandes, die doch genau aushandeln, was Adel denn zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen und unter situativem Zutun der verschiedensten Aktanten und ihrer unterschiedlichen Agency gewesen ist. Tröstlich ist da jedoch die hohe Qualität der Artikel, ihre Ausführlichkeit, Detailtreue, aber auch das Namensregister am Ende des Bandes (Seite 573-600), welches auch und vor allem für genealogisch Forschende von Interesse sein dürfte. Diese Rezension stammt von Dr. Dr. Claus Heinrich Bill M.A., M.A., M.A., B.A., B.A. und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
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