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Metzler Lexikon literarischer Symbole

Buchbesprechung des 2008 in Stuttgart erschienenen interdisziplinären Werkes

Seit dem „cultural turn“ in den Kulturwissenschaften, die auch eine ganze Reihe anderer Fachdisziplinen der Geisteswissenschaften erfaßt hat, ist die Frage der Semiotik neu gestellt worden. Gegenstände des alltäglichen menschlichen Gebrauchs sind eben nicht nur als Gegenstände mit bestimmter pragmatischer Funktion bekannt, sondern spätestens seit Charles Sanders Peirce auch Zeichenträger. Sie stehen damit als Symbol für etwas anderes, eine höhere Idee. Insofern stellen Sie auch ein symbolischen Stellvertreter dar, der dadurch entsteht, daß Menschen Gegenstände nicht nur als solche profan wahrnehmen, sondern zugleich immer auch attribuieren. Diese Attributionen und Zuschreibungen finden sich indes nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Kunst und in der Literatur.

Die Belletristik arbeitet häufig und intensiv mit derartigen Zeichenbildern, ist sie doch darauf angewiesen, daß sich eine Geschichte im Kopf der Lesenden entwickelt, die über die reine Materialität der Dinge, die ohnehin in der Fiktion nicht wirklich materialisiert werden kann, als inneres Gemälde entsteht. Nun mag zwar jeder Schriftsteller seine eigene Interpretation eines Symbols besitzen, gleichwohl aber gibt es gewisse Grundtendenzen, Gegenstände mit bestimmten und zwar gleichlautenden Symbolen zu bezeichnen. Dies rührt daher, daß bestimmte Materialisationen interessanterweise über Zeit- und Ländergrenzen hinweg oftmals dieselben oder doch zumindest sehr ähnliche Bedeutungen aufweisen und Zuschreibungen erhalten haben. Die Frage nach diesen Übereinstimmungen oder auch Differenzen - denn es können ja durchaus auch mehrere Bedeutungen für einen Gegenstand erscheinen - ist indes nicht ganz leicht zu beantworten, aber von grundsätzlichem Interesse.

Erfahren könnte man über dies Symbolsystem einer sprachlichen Referenz auf ein konkretes Ding mehr über die Verfaßtheit des Menschen an sich, seine Träume und Vorstellungen. Allerdings wäre die Ermittlung von derlei Grundmustern und -bildern in der Literatur recht aufwendig, müßte man doch neben den Klassikern auch die modernen Schriftsteller im überwiegenden Teile gelesen haben, was allein mengenbeziehentlich und auch zeitlich unmöglich wäre.

Abhilfe schafft hier aber nun das von den Germanisten Günter Butzer und Joachim Jacob verfaßte „Metzler Lexikon literarischer Symbole“, welches im Metzlerverlag zu Stutgart im Jahre 2008 erschienen ist. Das gebundene Werk umfaßt 443 Seiten und enthält in besprochener Manier die Interpretationen und Attribuierungen für insgesamt 412 einzelne Lemmata, die zumeist in der deutschsprachigen Literatur vorwiegend des XVIII. bis XX. Jahrhunderts enthalten waren - „zumeist“ und „vorwiegend“,weil auch ausländische und antike Literatur ausgewertet wurde.

Geboten wird damit ein Überblick über einzelne Gegenstände, die in hervorragendem Maße und immer wieder in der Belletristik auftauchen. Ihr massenhaftes Vorkommen und ihre immer wieder gleichen Zuschreibungen waren dabei Voraussetzung für eine Aufnahme in das Lexikon. Mit seiner Hilfe ist es nun endlich möglich geworden, diesen Symbolcharakter des Materiellen einfacher und ohne großartige Lektüre des Originals zu verfolgen.

Dabei bietet das Werk für jedes Lemma sowohl einen thematisch wie zeitlich weit abgeschrittenen Bereich an. Nehmen wir als Beispiel nur das Lemma „Höhle/Grotte“ (Seite 161-162). Hier werden, wie bei jedem anderen Lemma des Lexikons auch, zunächst die in der Literatur vorkommenden Bedeutungen aufgezählt und dann einzeln und ausführlich erläutert: „Symbol des Geheimnisvollen, der Bedrohung und Erkenntnisferne, aber auch des Schutzes, der geistigen Entrückung und der (weiblichen) Sexualität.“ Wir werden auf diese Zuschreibungen später noch zurückkommen.

Doch jede dieser Zuschreibungen wird zunächst mit Beispielen aus der Literatur in Form von Zitaten und bibliographischen Nachweisen garniert, was ein Nachlesen im Kontext erleichtert. Die „dunkle Höhle“ stand beispielsweise eben für das nicht erhellbare Mysteriöse bereits in der Odyssee oder in der Kyffhäusersage, bei Platon und Jean Paul. Im Tristanstoff ist sie Liebessymbol einer platonischen Minne, bei Freud erscheint sie als aufnehmendes Wesen, bei Friedrich von Schiller als Symbol der Heimat. Je nach Kontext und Eigenstandpunkt lassen sich also unterschiedlichste Zuschreibungen für ein Lemma feststellen.

Dennoch verfallen die beiden ausgewiesenen Autoren nicht auf beliebige Aneinanderreihungen zufälliger Interpretationen, sondern versuchen die Kerngedanken der bedeutendsten und einflußreichsten Schriftsteller zu jedem Lemma festzustellen und auf kurze Weise zusammenzufassen. Diese Zusammenfassungen sind indes nicht nur für die Literaturwissenschaft interessant, sondern auch für alle geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Darauf ließ bereits die Einbeziehung freudscher Symbolzuweisungen schließen: Auch Psychologie, Geschichte, Religionswissenschaft, Theologie, Soziologie, Volkskunde, Politik und namentlich die Kulturwissenschaften profitieren in erheblichem Maße von dem Lexikon und dem profunden Wissen der beiden Verfasser, die derzeit als germanistische Dozenten an den Universitäten Augsburg und Gießen tätig sind.

Als Beispiel für die Mannigfaltigkeit der symbolischen Bedeutungen soll hier das Höhlenkloster vorgestellt werden, eine Kombination aus den Lemmata „Höhle/Grotte“ und „Berg“. Das Höhlenkloster stellt eine spezielle, vor allem im osteuropäischen Raum, im Balkan und in Rußland verbreitete religiöse Architektur dar, die in ihrer Rückkoppelung an die orthodoxen Kirchen symbolisch und philopsychologisch an das Glaubens- und Weltbild des Rechtgläubigen anknüpft. Das Höhlenkloster ist dabei zugleich deduktiv und induktiv veranlagt. Deduktiv ist es, weil es das theoretisch-theologische Modell der Orthodoxie in den speziellen felsigen Bauraum vor Ort individuell einpaßt und gestaltet, induktiv aber, weil jedes Höhlenkloster in sich genommen ein Bestandteil der orthodoxen Weltauffassung ist und diese baugestalterisch ausdrückt.

Die Orthodoxie gehört zu den alten Ostkirchen, deren Ursprung im Byzantinischen (oströmischen) Reich liegt, kennzeichnet sich vor allem durch ein besonderes theologisches Verständnis der Mensch-Gottheitsnähe, welches über die Ritualistik und einer reichen Bildersprache mittels der christizistischen Ikonographie ausgelebt wird. Ihr Selbstverständnis bezieht sie aus der Gemeinsamkeit der Anerkennung der altchristizistischen Konzile von Nizäa (325 nach Christus), Ephesus (431 nach Christus) und Chalkedon (451 nach Christus). Sie stammten aus dem Urchristentum her, welches bis zum Absterben der Jünger der 12 Apostel um das Jahr 150 nach Christus endete. Diese »Rechtgläubigkeit« leitet sich dabei in erster Linie vom Alter der Orthodoxie ab und ihrem zeitlichen Rückgriff auf die angeblich seitdem »unverändert beibehaltene Tradition«. [1]

Damit gehört die Orthodoxie zu den ältesten christizistischen Organisationsformen der Welt. Sie selbst besitzt indes in Folge von Abspaltungen und zahlreichen Modifikationen sowohl territorial als auch inhaltlich unterschiedlich ausgerichtete Selbstverständnisse. So entstanden beispielsweise die Nestorianer mit dem chaldäischen Ritus in syrischer Sprache, die Kopten mit dem alexandrinischen Ritus in koptischer Sprache oder die Gregorianer mit gregorianischem Ritus in armenischer Sprache oder die Orthodoxie des Westens nach gallikanischem Ritus in deutscher Sprache.

Die Ritualistik der Orthodoxie, die vor allem in Rußland, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Finnland, Serbien, Georgien, Polen et cetera beheimatet ist, ist vielgestaltig, festgelegt und stark zeremoniell eingebunden, da Raum für die spontane Gottesfeiergestaltung kaum gegeben ist. Die Partizipation der Gemeinde beschränkt sich auf das meditative Singen und visuelle Verfolgen der Priesterschaften während der Gottesfeier, aber auch auf das Ansprechen anderer Sinne wie den Geruchssinn bei den obligatorischen Räucherungen mit Weihrauch.

Aus diesem religiösen Selbstverständnis heraus sind auch die Höhlenklöster zu verstehen. Sie sind einerseits baulich reduzierte und andererseits gemäß dem üppigen Bildverständnis reich ausgeschmückte Transzendenzbauten, nehmen aber auch die besondere Lebensform der Mönche auf. Diese zeichnet sich seit jeher durch eine Abkehr von der gewöhnlichen Alltagswelt ab. Diese mönchische Haltung drückt sich auch im Höhlenkloster raumgestisch aus.

Es wird in den Fels eines Gebirges gehauen und stellt gegenüber dem Bau auf freiem Feld eine gewisse Herausforderung dar, ist daher mit einem großen Aufwand und einem großen statischen Wissen verbunden: Die nötige Verschwendung von Wissen und Ressourcen schafft dabei Prestige. Dies gilt auch für die ikonographische Ausgestaltung der Höhlenklöster, die aber zugleich auch baulich die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch betonen: Im Höhlenkloster leben an den Berg geschmiegt und in seinen Marginalzonen lebend die Mönche, deren Mittel zur Erlangung von Gottesnähe der intrapersonale Rückzug ist. Mit dem Höhlenkloster nimmt sich der Konvent der Mönche weltlich und baulich zurück, weltlich durch die räumliche Einfügung des Klosters in einen Berg, spirituell durch die zusätzliche Beschränkung auf eine reizarme natürlich Umgebung, die um so mehr der Vertiefung der Mensch-Gottheitsbeziehung dienlich ist, als sie möglichst vielfältige ökonomische Einflüsse auszuschließen sucht. »Der Berg« fungiert dabei als unauflösliches Heimatrefugium des Höhlenklosrs und symbolisiert in der Literatur [2] nicht umsonst »Spiritualität«, »Unerschütterlichkeit«, »Verlassenheit«, »Weltfremdheit«. [3]

Intensiviert wird diese Bergwirkung noch durch die Höhle als Symbol des »Geheimnisvollen«, »Numinösen«, von »Schutz« und als Kennzeichen »geistlicher Entrückung«, da schon in der antike Höhlen und Grotten als Wohnsitz von Göttern eingeführt worden waren. [4]

Das Metzler Lexikon der literarischen Symbole weist also, wie an diesem Beipsiel gezeigt werden konnte, auch weit über das einzelne Lemma hinaus und berührt Nachbardisziplinen der Geisteswissenschaft, die sich auf diese Weise fruchtbringend miteinander verbinden lassen; für diesen großen interdisziplinären Nutzen sind auch die 39,95 Euro eine lohnende Ausgabe.

Die vorliegende Rezension stammt von Claus Heinrich Bill und wurde zuerst abgedruckt in der Nobilitas Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen:

  • [1] = Gerhard Bellinger: Knaurs Großer Religionsführer, München 1986, Seite 105-108
  • [2] = Günter Butzer & Joachim Jacob (Herausgebende): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2008, Seite 38-39
  • [3] = Hierzu auch Jacek Wo?niakowski: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987

  • [4] = Günter Butzer & Joachim Jacob (Herausgebende): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart 2008,  Seite 161

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