Institut Deutsche Adelsforschung
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Das ambivalente Gesicht des `langen´ XIX. Jahrhunderts

Annotationen zur Hellfeldschen Epochen-Biographie

Es war ein vermutlich ergreifendes Erlebnis, das der spätere bayerische König Maximilian II. (1811-1864) als Knabe im Jahre 1819 in München miterleben durfte. Zusammen mit seiner Mutter, der damaligen Kronprinzessin Therese (1792-1854), besuchte er den Bergrat Joseph v.Baader (1763-1835), einen Ingenieur, Reisenden und Pionier des bayerischen Eisenbahnwesens. 

Baader hatte in England ausführlich die dortigen neuen Erfindungen der sogenannten Eisenbahnen studiert und wollte diese Innovation mittels eines Kultur- und Techniktransfers auch in Bayern heimisch machen. Über den Besuch der Kronprinzessin und ihres Sohnes bei Baader schrieb indes eine zeitgenössische Zeitung folgende Zeilen nieder: 

„Am 21.  April Vormittags besuchten Ihre königl. Hoh. unsere durchlauchtigste Frau Kronprinzessinn [sic!], in Begleitung Ihres hoffnungsvollen erstgebornen Prinzen Max, die königl. Maschinen-Werkstätte der St. Annavorstadt, wo Höchstsie vorzüglich das vom Hrn. Oberstbergrath, Joseph v. Baader, vorgerichtete große Modell seiner neu erfundenen Eisenbahn besahen, und sich alle Details und Vortheile dieser Erfindung erklären ließen. Auf einer genau wagerechten Strecke dieser Eisenbahn zogen Ihre Kön. Hoheit ganz allein mit der linken Hand einen mit 16 Centnern beladenen Wagen mit Leichtigkeit fort, und eben dasselbe that auch der siebenjährige Prinz. Drey aneinander gehängte Wagen, mit einer Ladung von 40 Centnern, wurden in Ihrer Gegenwart von einem sechzigjährigen Manne gezogen. Auf einer andern Strecke dieser Eisenbahn, welcher man einen beynahe unmerklichen Abhang oder Gefälle von 6 1/4 Zoll auf 100 Schuh Länge gegeben hat, liefen die beladenen Wagen ohne alle äußere Kraft von selbst. Ihre königl. Hoheit geruhten mit der Ihnen eigenen Huld dem Hrn. v. Baader Ihre höchste Zufriedenheit über diese wichtige Erfindung in den schmeichelhaftesten Ausdrücken zu bezeigen, und zugleich den Wunsch zu äußern, daß dieselbe in unserm Vaterlande bald im Großen ausgeführt werden möchte. Durch die neuesten, mit diesem Apparate angestellten Versuche, und eine daraus gegründete Berechnung [...], ist nunmehr erwiesen, [...], daß Ein Pferd auf einer solchen Bahn mehr leisten kann, als 22 Pferde von derselben Stärke auf der besten Chaussee.“ [1]

Was in diesem zeitgenössischen Text zu Beginn des `langen´ 19. Jahrhunderts anklingt, ist die Begegnung zwischen moderner Technik und Rationalisierung der Arbeitswelt einerseits und der sozialen Welt der eindeutigen Hierarchien einer europäischen Gesellschaftsform andererseits, die sich zwischen Tradition und Fortschritt befand, zwischen Emanzipation und Herkommen. Noch waren die Monarchien selbstverständlicher Bestandteil des staatlichen Lebens, aber unaufhaltsam kündigten sich schon neue Souveräne und neue Schichten von Trägern politischer Verantwortung an. 

Das aufstrebende Bürgertum, langsam entstanden aus städtischen Patriziern, Kleinbürgern und Beamten, schickte sich an, Macht und Deutungshoheiten zu beanspruchen. Diese Ansprüche drückten sich im Zuge der Aufklärung unter anderem in Erfindungen aus und in der `Indüstire´-Bewegung, in Geschäftsideen und Gewinnstreben, Leistungsdenken und ökonomischem Machtzuwachs. Und der angesprochene Baader war ein personales Hybridprodukt aus beiden Welten. Er war nichtadeliger Herkunft, hatte anders als der Adel keine Rechtswissenschaften studiert, sondern war praktisch orientiert, wurde aber 1813 durch Nobilitierung in den Adel integriert. An ihm zeigt sich der Versuch der adeligen Welt, neue Eliten zu vereinnahmen, teilhaben zu lassen an der Monarchie und der Welt der Ständegesellschaft, die sich in den kommenden Jahrzehnten erheblich wandelte und zunehmend dem Primat der Ökonomisierung, der Industrialisierung, der Vermassung, der Politisierung und Liberalisierung unterlag. 

So geht das Konzept des `langen´ XIX. Jahrhunderts davon aus, daß der Zeitraum zwischen der französischen Revolution von 1789 und der deutsch-österreichischen Revolution von 1918 eine Zeit ungeheuren Umbruchs war, in dem sich die Arbeits- und Lebensverhältnisse großer Menschenmassen grundlegend wandelten, eingeklammert zwischen der Welt des Feudalismus und dem der Konsumgesellschaft, eingeklammert aber auch zwischen Despotie und Neoabsolutismus einerseits und Partizipation und Parlamentarismus andererseits, ausgedrückt u.a. in der Staatsform der konstitutionellen Monarchie.  Den genannten vielfältigen und vor allem in einer `Lonuge durée´ oft nur schleichend ablaufenden Prozessen widmet sich nun in kaleidoskopartiger Gesamtschau der Historiker und Deutschlandfunkmoderator Matthias von Hellfeld. Er zeichnet jene genannten Entwicklungen in seinem neuen Buch „Das lange 19. Jahrhundert. Zwischen Revolution und Krieg 1776 bis 1914“ [2] in einem Prozeß des Wandels nach und nimmt sich die Zeit von der amerikanischen Verfassung bis zum Beginn des ersten Weltkriegs vor. Dies macht insofern in einer Erweiterung der Zeit von 1789 bis 1914 Sinn, als von der nordamerikanischen Verfassung Impulse auch wieder auf die alte Welt ausgingen, ein außereuropäisches `Probehandeln´ darstellen, das in anderen Darstellungen zum Zeitraum bisher eher marginal behandelt wurde. 

Wie immer kommt es auf die Perspektive an, die man bei derlei Epochenfestlegungen setzten möchte; klar ist jedoch, daß allein eine chronologische Orientierung am kalendarischen XIX. Jahrhundert (1800-1899) wohl wenig Sinn macht, lassen sich Begriffe wie Ancien Régime, Vormärz, Gründerzeit und Belle Epoque doch besser als Beschreibung von Lebensgefühlepochen außerhalb dieser kalendarischen Daten verorten. 

Hellfeld spürt diesen Entwicklungen in 10 Kapiteln nach, kontextualisiert an historisch konkreten Beispielen, ergänzt durch Bebilderungen, eigene Grafiken (z.B. zu Verfassungskonstruktionen) und ebenso kurze wie aussagekräftige Quellentexte mit Zitaten in farblich abgesetzten Kästchen. Er richtet sich damit nicht an Fachwissenschaftler, sondern in populärem Erzählstil an Laien, die sich nach einer kurzen und zuverlässigen Einführung ins Thema sehnen. Neben einer sinnvollen Zeittafel am Ende des Buches erklärt Hellfeld dazu denn auch sämtliche wichtigen Begriffe, sei es Kulturkampf, die groß- und kleindeutsche Lösung, Auswanderung oder Restauration.

Daß der Verlag indes auf dem Rücktitel behauptet, Hellfelds Werk sei „die erste überblicksartige Gesamtdarstellung“, entspricht nicht den Tatsachen. Bauer, Faber, Treitschke, Grabner-Haider, Kocka und Osterhammel haben bereits vor Hellfeld ebensolche Werke vorgelegt. [3] Auf einige wenige Vergleiche sei hier kurz eingegangen. Bauers Werk ist wesentlich umfangärmer, dafür aber richtet es sich eher an Wissenschaftler, während Osterhammel ein Mammutwerk vorgelegt hat, dessen zu lesende Bewältigung Wochen in Anspruch nehmen dürfte, dafür aber bedeutend vor allem die europäische und außereuropäische Perspektive auf den gewählten Zeitraum inkludiert hat. Welches Werk man hier wählt, bleibt den Lesenden freilich selbst ja nach ihren Ansprüchen und Neigungen überlassen. Wer ausführlicher als Bauer informiert werden möchte, ist mit Hellfelds Werk gut beraten, wer noch tiefer ins Thema einsteigen will, fährt mit dem Osterhammel besser, der zudem viele Einzelstudien zum `langen´ XIX. Jahrhundert zusammengefaßt und ausgewertet hat. 

Hellfelds Buch nimmt daher eine Mittelstellung ein. Es ist flüssig geschrieben, bisweilen unterhaltsam und bietet einen ersten guten Einstieg für diejenigen, die sich grundlegend über die Fundamente informieren möchten, die im beschriebenen Jahrhundert der großen Veränderungen und Transformationen in nahezu allen Lebensbereichen für die Formierung der europäischen Moderne angelegt wurden. Ein kombiniertes Personen- und Sachregister mit Farbkarten der deutschen Kleinstaaterei und Einigungsbestrebungen des Deutschen und Norddeutschen Bundes et cetera unterstützen dieses Anliegen plastisch, illustrativ und wirkungsvoll. So ergibt sich letztlich ein sich sukzessiv entwickelndes Bild der Fortschritte, aber auch der Zerwürfnisse und Kritiken an der Moderne, auf die Hellfeld angemessen eingeht (z.B. die Reformbewegungen um die Freikörperkultur, um Jugend- und Frauenbewegung et cetera). 

Die Ambivalenzen, die mit dieser Grundierungsepoche der Moderne verbunden waren, sieht Hellfeld aber durchaus auch als eigenständige Zeit; sie kommen nicht zuletzt auch in dem eingangs hier erwähnten Text der Verbindung von feudaler und technischer Welt zum Ausdruck. Das `lange´ XIX. Jahrhundert warf eben bereits im Fokus der kleinen Episode des Prinzen Max, der mit Leichtigkeit einige Waggons in der königlich bayerischen Maschinen-Werkstätte der St. Annavorstadt zog, seine Schatten voraus. Die darin zum Ausdruck kommende Faszination seiner Mutter, die sich bei Baader voller Erstaunen und höchster Huld bedankte, war noch nicht gepaart mit den Empfindungen der negativen Wirkungen der sich in dem Experiment ankündigenden Industrialisierung und ihrer sozialen Verwerfungen wie dem Arbeiterelend in den städtisch-engen Massenquartieren bei schlechten hygienischen wie ökonomischen Bedingungen. 

Die noch neu aufleuchtende Begeisterung für die Rationalisierung des Transports, der sich 1815 u.a. in München ankündigte, war noch ungetrübt, die `Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen´ dämmerte erst noch herauf, war aber unverkennbar schon ins Leben getreten. Wer wissen möchte, wie sich dieser Fortschrittsglaube in der Praxis umsetzte und was mit ihm verbunden war, darf gern Hellfelds Werk zur Hand nehmen, es wird ihm hinreichenden Aufschluß unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsliteratur geben und ihn mit auf eine Reise durch eine Welt der Gegensätze nehmen, deren Ausläufer nicht zuletzt auch das XX. und XXI. Jahrhundert mit präformiert haben.

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. (2015)

Annotationen: 

  • [1] = Oestereichisch-Kaiserliche privilegirte [sic!] Wiener Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 98 vom 30. Aprill [sic!] 1819, Seite 390
  • [2] = Verlag J. H. W. Dietz, Bonn 2015, 288 Seiten, Gebunden, Preis: 22 Euro
  • [3] = Dazu zählt Franz J. Bauer: Langes 19. Jahrhundert, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften, Band I., Stuttgart 2005, Seite 311-405. Selbstständig erschienen als  Franz J. Bauer: Das `lange´ 19. Jahrhundert (1789-1917), Stuttgart 3.Auflage 2010. Ferner Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Als Ideengeschichte angelegt ist dagegen Anton Grabner-Haider / Klaus S. Davidowicz / Karl Prenner: Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2015. Weiters sei verwiesen auf Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Band XIII. der Reihe `Handbuch der deutschen Geschichte´), Stuttgart 2001. Zuletzt auch Karl-Georg Faber: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Restauration und Revolution von 1815 bis 1851, Wiesbaden 1979. Noch früher sei verweisen auf das in einem nationalkonservativen Ton gehaltene Werk des Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 5 Bände, Leipzig 1879–1894. Im weitesten Sinne kann man zu diesem Darstellungstyp auch noch zählen das Buch von Friedrich-Wilhelm Henning: Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. Jahrhundert, Paderborn / München / Wien / Zürich 1996. Ebenso empfehlenswert – wenn auch als Sammelband und nicht als `Meisternarrativ´ – ist  Christof Dejung / Martin Lengwiler (Hg.): Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte (1800–1930), Köln / Wien / Weimar 2016 (Band I. der Reihe `Peripherien. Neue Beiträge zur europäischen Geschichte). 

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