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Die deutschen Kriegsmarinen im XIX. Centenarium

Betrachtungen im Kontext von Fakten, Daten und Zusammenhängen

Der Jurist Peter Max Gutzwiller hat sich intensiv mit einer Biographie des Vizeadmirals Paul Gottfried Hoffmann (1846-1917) befaßt, die in Kürze (wohl 2014 noch) erscheinen wird. Um sich selbst aber über die Hintergründe des Wirkens des von ihm Biographierten zu informieren, bedurfte es eines umfangreichen Hintergrundwissens, das Gutzwiller in der Literatur vermißte. So entstand aus der Biographie als ursprünglichem Anliegen ein deskriptiv und dokumentarisch orientierter anderer Band, ein nun gedruckt vorliegendes Werk von 446 Seiten im farbigen Umschlag, paperbackgebunden, mit dem Titel „Die deutschen Kriegsmarinen im 19. Jahrhundert“. Erst im Juli 2013 in der Schweiz abgeschlossen, erschien es 2014 im Berliner Wissenschaftsverlag Duncker & Humblot und kostet 68,90 Euro. 

Es gibt in gedrängter Form die Frühgeschichte von sechs deutschen Marine(n) wieder, speziell der Königlich Preußischen Marine (1815-1848), der Marine des Deutschen Bundes (1848-1853), der schleswig-holsteinischen Flotille (1848-1851), der Königlich Preußischen Marine (1853-1867), der Marine des Norddeutschen Bundes (1867-1871) und schließlich der Kaiserlich Deutschen Marine (1871-1900). Nun existierte die letztgenannte Marine zwar bis 1918, Gutzwiller aber nimmt es, obgleich er im Vorwort (Seite 20) auf die Problematik der Jahrhunderteinteilung verweist, mit seiner Untersuchungszeit recht genau und endet daher mit seinen Betrachtungen am Stichtag des 31. Dezember 1900. Er folgt damit nicht dem Begriff einer marinehistorischen „longue durée“ in Anlehnung an das „lange“ XIX. Centenarium, setzt seinen thematischen Schlußpunkt aber auf das nivellierte Flottengesetz von 1900 als Zäsurpunkt. Diese Vorgehensweise in dem überaus quellengesättigten Werk - 918 Fußnoten in 150 Seiten Haupttext - mag insofern gerechtfertigt sein, als die Geschichte der Marine im ersten Weltkrieg schon hinreichend und ausführlich in der Historiographie gewürdigt wurde und Gutzwiller sich ganz in seiner Darstellung auf die Frühgeschichte konzentrieren konnte. 

Aus zwei Gründen ist sein hier zu besprechendes Werk von besonderem Interesse: Erstens erörtert es das Verhältnis zwischen Marine und 48er Revolution (Seite 50-55), zweitens verfügt es über einen äußerst umfangreichen Anhangsteil mit 18 einzelnen Aufstellungen, die, von dokumentarischer Seite aus, von großem Interesse sind (Seite 151-398). Hier kann man auf kleinstem Raum eine Fülle von zusammengestellten Fakten und Daten finden, die überblicksartig zeitliche, personelle oder schiffsbeziehentliche Einordnungen und Feststellungen ermöglichen, sei es zu Marinegedenkstätten, den Dienstdaten aller deutschen Admiräle zwischen 1815 und 1900, dem sonstigen Führungspersonal, Laufbahnkosten, Rangfristen, Daten zu allen Kriegschiffen und Kriegsschiffverbänden dieser Zeit, zur Schiffsartillerie und Auslandseinsätzen, Kolonialbeteiligungen et cetera.

Herausgegriffen seien nur zwei dieser Anhangsexkurse. So berichtet Gutzwiller in einem eigenen Anhang (Nr.6) vom Verhältnis von „Adel und Marine“ (Seite 221-225). Zwar bevorzugte demnach Kaiser Wilhelm I. 1879 unbedingt ein adeliges Seeoffizierkorps, faktisch aber war die Marine bürgerlich dominiert, nach Gutzwiller, weil sie neben den üblichen Offizierstugenden auch ein gerüttelt Maß an nautisch-technischem Verständnis nötig machte, über das adelige Seeoffiziere der Frühzeit wenig verfügten (hier galt noch Stand vor Können). Diese bürgerliche Hegemonie im Seeoffizierkorps blieb bis 1900 und auch darüber hinaus bestehen; selbst im Jahre 1910 waren 70 % der Seeoffiziere nichtadeliger Herkunft (Seite 222). Gutzwiller beschäftigt sich schließlich auch mit einer Statistik und den Gründen der Nobilitierung von Seeoffizieren.

Ein anderer Exkurs befaßt sich mit der Marinebeteiligung in deutschen Kolonialfragen (Seite 339-348). Gutzwiller hatte dazu bereits 1982 beim Auswärtigen Amt in Bonn angefragt, ob man ihm die Hundertjahrfeierpublikationen (der Erklärung Kameruns zur deutschen Kolonie im Jahr 1884), die seiner Meinung nach unzweifelhaft erscheinen müßten, übersenden könnte. Da es aber keine regierungsseitige Feier gab, wurde Gutzwiller enttäuscht. Dieses Fehlen einer Feier hält er für einen „leidenden Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte“, für die es keinen Anlaß geben würde. Denn der Kolonial(land)erwerb, so Gutzwiller, sei keine typisch deutsche Eigenheit gewesen, sondern lediglich Ausdruck eines damals üblichen Zeitgeistes (Seite 338). Gutzwiller versucht damit über die Strategie der Allgemeinverbreitetheit von Ideen die europäische Expansion moralisch zu rechtfertigen. 

Mit diesem Standpunkt soll übergeleitet werden auf die allgemeine Sichtweise Gutzwillers, die sich durch das ganze Buch zieht. Bereits seinem Vorwort ist das einigermaßen verwunderliche Statement zu entnehmen, er wolle vor allem zeitgenössische und von Marineoffizieren für die Jugend geschriebenen Werken Raum geben, da die marinefremde Geschichtsschreibung im XIX. Centenarium nicht den nötigen Geist erfassen könne, den die Seeoffiziere selbst noch spürten. Gutzwiller prolongiert damit Rankes Sicht, Geschichte so darstellen zu wollen, wie sie gewesen sei, dabei vergessend, daß sie nicht gewesen ist, sondern als Erinnerungstopos immer erst von nachfolgenden Generationen gemacht wird. Somit betätigt sich Gutzwiller hier, ausgerechnet im hundertsten Wiederkehrungsjahr des ersten Weltkrieges, als intellektuelle Verlängerung der imperial-kolonialistischen Sichtweise deutscher Seeoffiziere des XIX. Centenariums, wie man denn seinen Zeilen auch die persönliche Bewunderung für die Marine anmerkt. So war die Marine ein Mittel dafür, daß Deutschland nach Kolonien habe „ausgreifen“ können.

Gutzwiller geht bemerkenswerterweise auf diese Kritik bereits im Vorfeld ein, da ein Probeleser vor der Veröffentlichung bereits den Eindruck gewonnen hatte, die Sicht des Verfassenden, eines promovierten Juristen mit Geschichtsfachnebenstudium, sei gelegentlich von Ehrfurcht gegenüber den „dramatis personae“ geprägt gewesen. Gutzwiller sucht den Vorwurf zu entkräften, indem er in die Offensive geht und schreibt, er habe nicht gelegentlich Ehrfurcht, sondern richtigerweise grundsätzlich Respekt vor seinem Untersuchungsgegenstand. Allerdings findet er, daß die Leistungen, die die Seeoffiziere in der deutschen Marinefrühzeit vollbrachten, bewunderungswürdig seien. Er blendet damit also die Folgen der Tätigkeiten der Seeoffiziere als Kriegsdienstler aus, lehnt eine holistische Sichtweise ab. Ibidem meint er fernerhin, daß vielleicht gerade ein Nichtdeutscher unverkrampfter auf die deutsche Marinegeschichte sehen könne (Seite 20), während die Sichtweise von deutschen Historiker*Innen „nicht selten der Objektivität ermangelt“ (Seite 20).
Wenn man bedenkt, daß Gutzwiller Jahrgang 1941 ist und also noch vermutlich in seinem Studium, das wahrscheinlich in den 1960er Jahren stattfand, erfahren hat, es gäbe eine geschichtswissenschaftliche Objektivität, die es ermögliche, in der angerissenen Rankeschen Manier Geschichte zu schreiben (dabei aber die schon bei Kant bekannte erkenntnistheoretische Idee, daß sie Sicht die Dinge und nicht die Dinge die Sicht formen, ausblendet), dann ist freilich aus der wissenschaftsheoretischen Sozialisation des Verfasser heraus dieser Ansatz verständlich, abgesehen davon, daß er außerdem Oberst außer Diensten der schweizerischen Armee ist und daher von gewisser militärischer Affinität geprägt sein dürfte. Es bleibt trotzdem die Frage, ob denn solche propagandistischen und apologetischen Werke zur Marineverherrlichung (wie Reinhold v.Werners Buch: „Deutschlands Ehr im Weltenmeer, Leipzig 1908“) dazu geeignet sind, Objektivität herzustellen, zumal, wenn man sie, wie Gutzwiller, als historische Quelle zur Feststellung von Realitäten benützt und nicht etwa als Zeugnisse ihrer Zeit sieht, die eine bestimmte Sichtweise verkörpern. Gutzwiller nimmt hier die historischen Quellen eher als Forschungsergebnisse wahr. Dieser Umstand wird auch in seinem Verzeichnis der Publikationen deutlich, in dem er nicht zwischen „Quellen“ und „Sekundärliteratur“ trennt, sondern alle von ihm herangezogenen Werke (aus geschichtswissenschaftlicher Sicht: ungewöhnlicherweise), gleich aus welcher Perspektive, nach Sachgebieten trennt (Seite 399-411). 

So erklärlich daher die Grundhaltung Gutzwillers als Kind seiner Zeit ist, so bemerkenswert erscheint doch seine Rechtfertigung für diese konservative Darstellungsweise. So verteidigt er die Gewinnung deutscher Kolonien mit der damals im XIX. Centenarium völkerrechtlich legitimierten Landnahme in Außereuropa. Das ist zwar vollkommen richtig, doch nimmt Gutzwiller damit einen explizit eurozentrischen Standpunkt ein, da das Völkerrecht seinerzeit ein rein europäisches Unterfangen war und es recht natürlich erscheint, daß auch das  frühe Völkerrecht als ein Instrument zur Durchsetzung und Legitimation des europäischen Superioritätsgefühls gegenüber dem vermeintlich rückständigen Außereuropa genützt worden ist. Dennoch kann man Gutzwiller nicht pauschal für diese Veröffentlichung strikte Rückwärtsgewandtheit unterstellen. Er rezipiert genauso gut Autoren und Forschende der Bielefelder Schule und ihrer Geistesnachfolger (Seite 90, 338), wenn er sie sich auch nicht zu eigen macht.

Indes gilt, daß Gutzwillers Werk für Daten und Fakten der deutschen Marinefrühgeschichte einen zuverlässigen Eindruck als Nachschlagewerk macht. Auch wer eher nostalgisch auf die deutsche Marinegeschichte schauen mag, ist mit dem Buch gut bedient. Letztlich werden aber auch Historiker*Innen mit dem Werk entsprechend quellenkritisch umzugehen wissen. Somit kann das Werk durchaus empfohlen werden, vielleicht nur nicht für unvorbereitete Leser*Innen, die die Gutzwillersche Lesart als einzig objektive Wahrheit zur Kenntnis nehmen und dadurch in die Welt tragen. Sicherlich ist sie - die Gutzwillersche Lesart - eine Sichtweise unter vielen anderen, nicht besser oder schlechter, nur eben anders. Wer sich mit diesem Gutzwillerschem Impetus der „Objektivität“ zeitgenössischer Zeugen arrangieren kann, dem wird das Werk gute Dienste leisten: Der Deutsche Marinebund und Marineoffiziere außer Diensten werden begeistert sein und alle anderen Interessent*Innen können das Werk vor allem dokumentarisch nutzbar machen. Unter der ISBN-Nummer 978-3-428-14228-6 ist es ab sofort überall im Buchhandel zu bestellen.

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill (2014)
 


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