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Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels 2011Umfrageergebnisse und Interviews mit Angehörigen dieser SozialgruppeAls im Winter 1947 der Finanz- und Budgetausschuß des österreichischen Nationalrats in Wien tagte, stand eine Spezialdebatte über die Neueinrichtung des diplomatischen Dienstes der Republik Österreich auf der Tagesordnung. Dazu notierte eine Wiener Zeitung: „Als erster Debattenredner behauptete der Sprecher der kommunistischen Fraktion, Abg. Fischer, daß der österreichische diplomatische Dienst den schwierigen Anforderungen der gegenwärtigen Zeit nicht entspricht. Wenn man die Zusammensetzung unseres Außendienstes betrachtet, dann weht einem wirklich der Hauch aus der Kapuzinergruft entgegen. Ein großer Teil der alten Garde der Ballhausdiplomatie steht allen republikanischen und allen demokratischen Einrichtungen mit einer gewissen Reserve und Ironie gegenüber Wenn sich auch in der österreichischen Aristokratie bestimmt sehr fähige Menschen befinden, so muß es nicht unbedingt ein Fürst, Graf oder Baron sein, um den Anforderungen der modernen Zeit im Außendienst zu entsprechen. Auch bei den Neuaufnahmen wird ein hoher Prozentsatz den Aristokraten vorbehalten, obwohl es auch andere Menschen als österreichische Aristokraten gibt, die Englisch und Französisch können.“ [1] Die hier kritisierte jahrhundertelange Tradition des Außendienstes, den erlernten Habitus und die erforderlichen Manieren aber wurden von Fischer ignoriert, die für gewöhnlich ebenfalls zu einer Tauglichkeit des ehemaligen Adels bei andern Diskutant*innen ins Feld geführt wurden. Tatsächlich zählte der diplomatische Dienste in der Folgezeit, sowohl in Österreich als auch in Deutschland, zu den begehrten und beliebten Berufsbereichen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen Adels. [2] Eine gewisse Beliebtheit für den diplomatischen Dienst stellt auch eine neue Studie heraus, sie stammt von Barbara Mansfield und wurde 2019 im (für Adelsforschungen bislang unüblichen) „Simonverlag für Bibliothekswissen“ publiziert (Seite 226, enthaltend das Ergebnis einer Anfrage an das Auswärtige Amt). Die sozialwissenschaftlich orientierte Studie [3] bietet aber darüber hinaus vielfältige andere Ansatzpunkte zu einer Analyse der Gesellschaftsgruppe des ehemaligen deutschen Adels, die den Stand von 2011 widerspiegelt. Die Autorin der Studie ist eine Journalistin, die von ihrem Studium her als Politologin und Geographin sozialisiert wurde (Seite 502). Man merkt der Studie diese Ausrichtung an, da sie sich an die ethnologische Forschung anlehnt, reflektiert mit einer Mischung von qualitativen und quantitativen Forschungsdesigns (Seite 35-51); so benützt sie beispielsweise Experteninterviews (Angehörige der Erinnerungsgemeinschaft gelten als Experten ihrer eigenen Lebenswelt). Diese Sicht „von außen“, das heißt, von einem Standpunkt von außerhalb der Historiographie stehend, hat indes Vor- und Nachteile. Der Vorteil liegt in dem erfrischend unkonventionellen und sehr arbeitsaufwändigen Zugang, der an Bourdieus und Girtlers Feldforschungen erinnert und sozialwissenschaftliche Methodenbausteine verwendet. [4] Kern ihrer Untersuchung ist erstens eine ausführliche Befragung von 165 Angehörigen des ehemaligen Adels (die Mansfield gleichwohl immer noch „Adelige“ nennt), zu deren Selbstbild und Selbstverständnis, zweitens eine Multiple-Choice-Befragung mittels eines Fragebogens. Hier wurden dann Fragen nach Schulbildung, Ausbildungsgängen, der Bedeutung des Konnubiums oder nach den religiösen Präferenzen gestellt. Beide Fragenkataloge, sowohl für die schriftliche als auch die mündlichen Befragungen, werden im Buch abgedruckt (Seite 407-442). Dabei kamen auch originelle Fragen zum Einsatz, beispielsweise die Frage, inwieweit die Befragten Kenntnis von der wissenschaftlichen Adelsliteratur nehmen würden (Seite 208-215; Ergebnis sei, daß dies kaum geschehe), aber auch die Frage, welche Zukunft „der Adel“ habe (Seite 235-236). Diese Kombination ermöglichte es der Verfasserin des Buches, sowohl freie Assoziationen der Befragten zuzulassen als auch immer wieder und regelgeleitet Items zu ganz bestimmten Punkten zu setzen. Dadurch gelingt es der Verfasserin, sehr lebendige Bilder hervorzurufen und Binnenperspektiven der Erinnerungsgemeinschaft zu ermitteln, die sonst mit dem Tod der Expert*innen verloren gegangen wären; schließlich handelt es sich dabei um vergängliche Quellen, die nun über den Abdruck der Aussagen im Buch gesichert worden sind. Dies ist die große Stärke des Buches. Der Nachteil ist, daß die Einarbeitung in den historiographischen Forschungsstand mangelhaft ist. Mansfield nimmt zwar auch Forschungsbefunde zur Kenntnis, dies geschieht jedoch nur mit einigen Literaturpositionen der Höhenkammliteratur, also wesentlich nur von Conze, Aretin, Carsten, Reif, Wehler, Malinowski, Wienfort, Winter und Hoyningen-Huene (Seite 12-23 und 443-447, dort auch alle Titel dieser Verfassenden bibliographisch im Detail nachgewiesen). In welchem Maße weitere Forschungen herangezogen worden sind, muß weitgehend unklar bleiben, denn es existiert in Mansfields Werk bedauerlicherweise kein Literaturverzeichnis. Von einer Kenntnisnahme des übrigen Forschungstandes, der sich, vor allem im 21. Jahrhundert, sehr ausdifferenzierte, kann daher keine Rede sein. [5] Insbesondere wurden auch und besonders einschlägige Literaturen nicht von ihr benutzt. [6] Dennoch kann der Studie – trotz dieser mangelnden Verortung in der Forschung – ein gewisser Eigenwert nicht abgesprochen werden. So beschäftigt sich die Verfasserin intensiv mit der Kopfzahl lebender Angehöriger der Erinnerungsgemeinschaft und zieht dazu auch unveröffentlichte Daten des „Kopfzahlregisters“ des verstorbenen Johannes Baron von Mirbach aus Hamburg heran, der das Genealogische Handbuch des Adels ausgezählt hatte (Seite 30-31), mit Stand von 1999 waren demnach im Handbuch 80.962 lebende Personen aufgeführt (Seite 30). Allerdings, so könnte man kritisch einwenden, stellte dies auch bereits vor zwanzig Jahren nicht die Gesamtzahl lebender Angehöriger der Erinnerungsgemeinschaft dar, weil das Handbuch nicht alle blühenden Familien der Erinnerungsgemeinschaft aufgenommen hat. So kamen danach mit jeder neuen Veröffentlichung eines Bandes auch „neue“ Familien hinzu, die bisher nicht im Handbuch abgedruckt worden waren, so beispielsweise 2008 die Familien v.Hosp, v.Roell, v.Werhya Wysoczanski, [7] 2009 die Familien Klemperer v.Klemenau, v.Koeding, Mießl v.Zeileißen, v.Stiernhielm, [8] 2014 die Familie v.Hesberg. Dennoch hat man nun mindestens für 1999 einen durch Mansfield bestätigten näherungsweisen Wert, der bisher publiziert nur als Schätzwert, wenn auch von berufener Seite, existierte. [9] Bedauerlich freilich ist, daß nach Mirbachs Tod [10] eine Fortsetzung des Kopfzahlregisters nicht durchgeführt worden ist, so daß eine Kopfzahlaktualisierung derzeit leider nicht zur Verfügung steht. Man wird also mit den entsprechenden Zahlen auch heute noch, nach zwei Jahrzehnten, arbeiten müssen. Ferner jedoch befragte Mansfield ihre Protagonist*innen im ganzen Kaleidoskop ehedem adeliger Lebensbereiche. Dazu zählen Aussagen über die Berufswahl, über Religion und Werte, Namensrecht und Adelsvorbilder und vieles mehr. Allerdings wird in Mansfiels Buch immer noch ein klassischer Ansatz der Adelsforschung verfolgt, der davon ausgeht, daß die Selbstsicht des Adels die Identität der Erinnerungsgemeinschaft bestimmen würde. Zwar hat Mansfield auch wahrgenommen, daß es eine Art „Außensicht“ gäbe (Seite 396), also Vorstellungen von nicht der Erinnerungsgemeinschaft Angehörenden über die der Erinnerungsgemeinschaft Angehörenden, allerdings schreibt sie ihr nicht mehr als nur eine außenstehende Perspektive ohne Rückwirkung auf „den Adel“ zu. Ein praxeologischer Zugang ist ihr fremd und insofern spielt diese Außensicht bei der Konstruktion von Adelsimages und auch dem Adel selbst keine Rolle. Es mag dies insofern verzeihlich sein, als das Forschungsprojekt sonst sehr ausgeufert wäre. Dennoch könnte für künftige Forschungen bedacht werden, daß es nicht nur zwei verschiedene Sichten auf „den Adel“ gibt, sondern daß beide Sichten auch für das „Un/doing Nobility“ in einer Art Allelopoiese verantwortlich waren. [11] Die allzu nur auf die Erinnerungsgemeinschaft fokussierte Perspektive läßt diesen Aspekt der gemeinschaftlichen Poiese leider nicht erkennen. Gleichwohl kann man Mansfields Werk als wertvoll für die Adelsforschung bezeichnen, hat sie doch einen immensen Aufwand bei ihren Befragungen von lebenden Vertreter*innen der Sozioalgruppe des vormaligen Adels betrieben. Die in ihrem Buch festgehaltenen Ergebnisse ermöglichen nicht nur die Verifizierung bisheriger Positionen zum Selbstverständnis der auch heute noch in gewissen Teilen stark kohäsiven sozialen Gemeinschaft, sondern ergänzen auch die bisherigen Studien, namentlich die von Seelig und Plato, vortrefflich. Diese Rezension stammt von Dr. Claus Heinrich Bill, M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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