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Männlichkeitsentwürfe in der historischen ForschungNeues Handbuch im Metzlerverlag erschienenEin Beitrag mit dem Titel „Zur Warnung für Mütter“ erschien 1871 in einer politischen Frauenzeitung. Er befaßte sich mit den Einflußmöglichkeiten der Hausfrauen auf die Erziehung von Knaben, auf die Sozialisation dessen, was als Männlichkeit bezeichnet werden kann. Der Beitrag geht davon aus, daß Männlichkeit und ihre zugehörigen Attribute oder Äußerungshandlungen keine naturgegebene Selbstverständnlichkeit seien, sondern kulturbedingt konstruiert werden und daher auch beeinflußt werden können. In Fragen historischer Genderismen war diese Haltung höchst (post-)modern und hat vieles vom Dekonstruktivismus der Geschlechterrollen des späten XX. und beginnenden XXI. Jahrhundert vorweggenommen, freilich mehr auf praktischer denn auf theoretischer Ebene. Dennoch war es bemerkenswert, daß der Beitrag bereits auf diese `Gemachtheit´ von Männlichkeits-Leitbildern einging und sie – ganz pragmatisch – zu beeinflussen suchte. Hierzu konnten die Leser*Innen der Zeitung folgendes vernehmen: „Leider gibt es viele Eltern, welche es lächelnd dulden, wenn ihre Knaben Cigarren rauchen und ein unschuldiges Vergnügen darin erblicken. Für sie theilen wir mit, daß kürzlich ein Arzt in Neu-England die Wirkungen des Rauchens an achtunddreißig Knaben, sämmtlich in dem Alter von 9 bis 15 Jahren, beobachtet und constatirt hat. An siebenundzwanzig entdeckte er bestimmte Symptome von einer Vergiftung durch Nicotin. In zweiundzwanzig Fällen war der Blutumlauf und die Verdauung gestört, zugleich hatte die Geistesthätigkeit in Etwas gelitten und sich eine merkwürdige Neigung für starke Getränke eingestellt. Bei dreien der jungen Leute war das Herz afficirt; bei achten war eine Verschlechterung des Blutes wahrzunehmen; zehn litten an Schlaflosigkeit und vier waren mit Gaumen-Geschwulst geplagt. Welche Vorwürfe macht sich nicht jede gewissenhafte Mutter, wenn sie ihre Kinder nicht genügend vor schädlichen Nahrungs- und Witterungseinflüssen bewahrt hat, und wie ist es zu begreifen, daß sie den Knaben, wenn auch nur `zum Spaß´, ein Reizmittel gestattet, das, wie durch andere Beobachtungen erwiesen, selbst kräftigen Männern oft genug nachtheilig ist, unreife Organismen aber auf Lebenszeit ruinirt? Natürlich werden die Knaben nur durch das Beispiel der Männer, zumeist ihrer Väter und älterer Freunde, zum Rauchen veranlaßt, das ihnen anfänglich stets schlecht bekommt, das sie aber für ein Attribut der Männlichkeit halten, und nur darum üben, nicht etwa weil es ihnen ein wirklicher Genuß wäre – aber wenn die Frauen wissen, daß es vergeblich ist, gegen das Rauchen der Männer überhaupt, das ihnen so viel Unannehmlichkeiten und Qualen verursacht, zu sprechen und es darum schweigend dulden, wie ein nothwendiges Uebel, so sollten sie doch wenigstens versuchen, die Knaben vor diesem Gift zu bewahren und wenigstens dazu durch vernünftige Vorstellungen den Beistand der Männer zu erlangen suchen!“ [1] Dieser historische Beitrag zeigt, wie sehr Gendervorstellungen von dem, was für einen Mann – in diesem Fall heranwachsende Männer – schicklich sei und was nicht, das alltägliche Leben präformierten, gar zu einer Absage an eine salutogenetische Lebensweise führten. Er drückt auch unterschwellig die starke Wirkung der sozialen Mitwelt aus, auf deren Anerkennung `man(n)´ angewiesen war, wollte man in deren Welt als `Mann´ reüssieren, zu Wohlstand kommen, oder, um es mit dem Psychologen Moreno zu sagen, sein soziales Atom erheblich zu erweitern. Etwas zu sein bedurfte der Anpassung und das Zugehörigfühlen war für den Menschen als grundsätzlichem `homo societatis´ in diesem historischen Fall offenbar wertvoller als alle `vernünftigen´ Rücksichten auf die Gesundheit, zumal der Vernunft immer schon der Mantel der Langeweile, Belanglosigkeit, Sensationsarmut und Unaufgeregtheit anhaftete. Er zeigt die Kraft der Genderrollen, speziell der Männlichkeit. Daß dieser maskuline Genderismus als Mischung aus natürlichen Voraussetzungen des Körpers, gesellschaftlichen Vorstellungen der Rollen und eigener sexueller Orientierung schon bald und vor allem seit dem XIX. Jahrhundert Gegenstand `kritischer´ Männerforschung wurde, ist verständlich. Die Forschung hat besonders seit Ende des XX. Jahrhunderts sowohl auf qualitativer als auch auf quantitativer Ebene zugenommen, ist schier unübersichtlich geworden. Abhilfe zum Überblick schafft hier ein Kompendium, in dem nach dem neuesten Forschungstand die Ergebnisse internationaler Männlichkeitsforschung zusammengefaßt werden. Dazu haben die Herausgeber Stefan Horlacher, Bettina Jansen, Wieland Schwanebeck 2016 im Metzlerverlag zu Stuttgart das gebundenen Werk „Männlichkeit – Ein interdisziplinäres Handbuch“ vorgelegt, welches, mit 382 Seiten ausgestattet, nun neu im Buchhandel für 69,95 Euro erwerbar ist. Seine Stärke ist die Förderung der Interdisziplinarität der in der deutschsprachigen Forschung bisher nur unzureichenden Männlichkeitenforschung, die nicht nur die Ergebnisse aus internationalen Forschungslandschaften (USA, Spanien, Italien, Frankreich et cetera) aufarbeitet, sondern eben auch die Fortschritte und Positionen der Männlichkeitsforschungen aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen – hier speziell Archäologie, Biomedizin, Ethnologie, Historiographie, Linguistik, Pädagogik, Philosophie, Psychoanalyse, Psychologie, Jura, Theologie, Religionswissenschaft und Soziologie – referiert. Eingegangen wird schließlich auch auf die Forschungen der medialen Repräsentationen von Maskulinitäten und deren Konstrukten im Wandel der Zeiten in den Künsten, das heißt vor allem in Film, Tanz, Musik, Literatur und Fotografie. Diese Grundlegungen, Anregungen und konzise Forschungsüberblicken liegen nun in bewährt hoher Metzler-Qualität vor. Es handelt sich dabei um ein Handbuch über einen boomenden Forschungsbereich, das der mittlerweile florierenden nationalen wie internationalen geisteswissenschaftlichen Subdisziplin ein myrioramatisches Gesicht verleiht. Die darin enthaltenen dezidierten Ausführungen von Fachwissenschaftler*Innen unterschiedlichster Herkunft, Disziplin und Wissenssozialisation helfen nicht zuletzt zu verstehen, weshalb die Jungen aus dem Eingangsbeispiel des Jahres 1871 Zigarren rauchten; dies dürfte nicht nur als „unschuldiges Vergnügen“ angesehen worden sein, sondern kann auch als Initiationsritus der damaligen Männlichkeitswerdung der deutschen Gründerzeit gesehen werden. Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill M.A. B.A. und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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