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Vormaliger Adel in Brandenburg nach 1990Kommunikation zwischen ehemaligen Adeligen und DorfbewohnendenStarke gesellschaftliche und vor allem politische Veränderungen bedurften bestimmter Narrative zur Legitimation und zur Erlangung von Zustimmung oder zumindest einer schweigenden Mehrheit. Insofern versuchten Machthabende stets ein Framing, um eine ihnen gemäße Sichtweise und Legitimität ihrer Handlungen in breiten Schichten der Bevölkerungen zu erreichen. So geschah es auch im September 1945, als die Bodenreform in Sachsen, seinerzeit noch Besatzungszone, durchgeführt wurde. Hier galt es, Geflüchteten und Kleinbauern Land zu verschaffen und dabei wurden erhebliche Umstrukturierungen in den Besitzverhältnissen vorgenommen. Dabei eigneten sich auch geschichtliche Rückblicke zur Rechtfertigung bestimmter Maßnahmen, u.a. von Enteignungen, besonders, da man durch die Fokussierung auf spezifische historische Ereignisse (und die gleichzeitige Ausblendung anderer Ereignisse) eine historische Kontinuität im eigenen Sinne eines „un/doing history“ und einer „invention of tradition“ installieren konnte. [1] So hieß es in einer berlinischen Zeitung: „Am 3. September [1945] wurde in Halle die Verordnung über die Bodenreform der Provinz Sachsen unterzeichnet. Damit wurde der erste Schritt zur Verwirklichung dessen getan, was lange notwendig war und lange gefordert wurde. Welche unmittelbar lebenswichtige Bedeutung die Bodenreform für das deutsche Volk hat, ist in den letzten Tagen deutlich genug hervorgehoben worden: sie dient der Sicherung des Friedens, der Sicherung unserer Ernährung, sie gibt den ruinierten Bauern, den verelendeten Landarbeitern, den heimatlosen Flüchtlingen eine menschenwürdige Existenz. Die ganze Größe des Ereignisses werden wir aber nur dann verstehen, wenn wir es auf dem Hintergrunde der Geschichte unseres Volkes ins Auge fassen. Die Bodenreform räumt auf mit einem Stück Mittelalter,
das wir bis in unsere Zeit mitgeschleppt haben, das unseren sozialen und
politischen Fortschritt hemmte und unser Dasein bis zur Lebensgefahr vergiftete.
Die Französische Revolution, die in Frankreich mit der Feudalwirtschaft aufräumte, griff durch die Fernzüge Napoleons auf Deutschland über und trieb hier die Entwicklung vorwärts. In Preußen, wo die Unterdrückung der Bauern am härtesten war, versuchte der Freiherr vom Stein die Bauernbefreiung durchzuführen. Aber selbst die halbe Maßnahme einer persönlichen Befreiung bei Zahlung einer hohen Ablösung fand wütenden Widerstand der Junker [...] Die Tatsache, daß ein Stück Mittelalter in die deutsche Gegenwart mitgeschleppt wurde, hat nicht nur für die Bauern, sondern für unser ganzes deutsches Volk furchtbare Auswirkungen gehabt. Es ist einleuchtend, daß eine Herrenschicht, wie die der Großgrundbesitzer, die ihre historische Daseinsberechtigung längst verloren hat, sich jedem Fortschritt entgegenstemmen und immer die schwärzeste Reaktion verkörpern wird. So haben seit 1525 Fürsten und Junker immer wieder verhindert, daß das deutsche Volk sein Geschick in die eigene Hand nimmt und sich einen demokratischen Staat schafft. Alle demokratischen Bewegungen haben sie niedergeschlagen: 1525, in den Jahren nach 1815, 1848-49, 1918-23. Selbst nachdem 1918 wenigstens formal eine Demokratie hergestellt war, herrschten die Junker im Heer, in der Diplomatie und der höheren Verwaltung vor. Sie verhinderten seit 400 Jahren die Herausbildung einer demokratischen Tradition und machten damit Deutschland reif, Opfer eines Hitlers zu werden, in dem alle volksfeindlichen antidemokratischen Kräfte ins Maßlose sich übersteigerten. Der Boden aber, auf dem diese gefährlichste Giftpflanze der Reaktion gedieh, ist der Großgrundbesitz, eben dieses Stück übriggebliebenes Mittelalter. Nun ist endlich der erste Schritt getan zu seiner vollständigen Aufhebung. Jetzt geschieht, was schon vierhundert Jahre auf der Tagesordnung steht, es geschieht das Entscheidende für eine endgültige Ueberwindung des Mittelalters: der reaktionären Kaste wird die wirtschaftliche Grundlage ihrer Macht genommen. Der Aufbau eines demokratischen Deutschlands, der Weg in eine bessere Zukunft wird uns dadurch erleichtert werden. Das ist die historische Bedeutung des 3. September 1945, der immer als ein Markstein in der deutschen Geschichte selten wird.“ [2] Ganz anders dagegen war die Sichtweise der ehemaligen Adeligen, die von ihren Gütern vertrieben worden waren und im Westen lebten, dort einen Neuanfang wagen mußten. Sie litten unter den Folgen von Flucht, Gewalt, Verfolgung, Ausweisung und Entheimatung, bauten sich teils kollektiv, oft genug neben einer neuen Berufsgrundlage – und um die aus dem ehemaligen Adel kommenden Widerstandskämpfenden des 20. Juli 1944 – ein eigenes Narrativ auf. [3] In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, noch weit bis in die 1980er Jahre hinein, wurde daher ein bewußtes Narrativ gepflegt, welches eher ein Erleiden als ein Gestalten von Geschichte betonte. [4] Erst nach und nach kehrte der Selbstwirksamkeitsglauben zurück, erwies sich der ehemalige Adel als resiliente Erinnerungsgemeinschaft, [5] der es indes nur partiell gelang, wieder in Führungspositionen zu gelangen, so besonders in Militär und Diplomatie. [6] Dennoch wurde es im westlichen Nachkriegsdeutschland fast durchgängig in der Gruppenbildung der Angehörigen des historischen Adels üblich, ein Studium zu absolvieren, um sich zu Führungspositionen zu qualifizieren, während noch im 18. und 19. Jahrhundert die Neigung zum professionellen Studium (mit Abschluß) als ein eher „bürgerliches“ und leistungsorientiertes Bestrebnis galt. Festzuhalten bleibt indes hier, daß aus dieser Ambivalenz des Erinnerungsaufbaus und seiner Überführung vom kommunikativen Gedächtnis (der Zeitzeug*innen) ins kulturelle Gedächtnis (der Nachkommen, die selbst nicht mehr Flucht und Vertreibung erlebt haben) ein soziales und memoriales Spannungsfeld erwuchs. Die Adelsforschung hat seit nunmehr einigen Jahren begonnen, sich intensiver mit dem zeitgeschichtlichen Thema der Beziehungen zwischen der DDR und ihren Bewohnenden einerseits und der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels andererseits zu befassen. [7] Es handelt sich dabei um ein grundsätzlich ambivalentes Verhältnis, das eben aus diesem Grunde auch ein ergiebiges Forschungsfeld darstellt. Die Historikerin Ines Langelüddecke hat nun einen weiteren Baustein für diese Beziehung geliefert. Ihre 2018 an der Universität zu Hamburg abgeschlossene und leider erst jetzt gedruckt vorliegende Dissertation ist unter dem Titel „Alter Adel – Neues Land? Die Erben der Gutsbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg“ erschienen. [8] Langelüddecke verfolgt darin einen innovativen Hybridansatz der theoretischen Verknüpfung zwischen Raum- und Erinnerungstheorie. Diese im Buch angewendete Theorie erinnert sehr, obwohl Langelüddecke darauf nicht Bezug nimmt, an Theodor Schatzis Theorie der Praktiken-Arrangement-Geflechte, die einen besonderen Wert auf Materialitäten (und mithin auch auf Orte und Gebäude) legt. [9] Methodisch orientiert sich Langelüddecke an der Oral History; dabei bezieht sie Zeitzeug*innen mit Interviews und Selbstaussagen mit ein, reflektiert subjektiv wahrgenommene Geschichte aus Sicht der Individuen. Durch Befragen sowohl der ehemals adeligen Rückkehrer*innen – darunter teils Wiedereinrichtende, teils auch ohne landwirtschaftlichen Betrieb nur ins Dorf ihrer Vorfahren zurückgekehrte Angehörige vormaliger Adelsfamilien – wollte sie herausfinden, wie Erinnerung in verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften geteilt wurde oder getrennt voneinander verlaufen ist und welche Wirkungen diese Erinnerungen für das 2010 und 2011 gegenwärtige gemeinsame Leben im ländlichen Raum besaßen. Sie beschränkte sich dabei in einer mikrohistorischen wie -soziologischen Anlage der Studie auf drei Dörfer in Brandenburg. Hierbei bemerkt sie eine „asymetrisch verlaufene Parallelgeschichte“ (Seite 23) der Erinnerung in zwei Narrations-Gruppenbildungen. Dabei bezogen sich die nicht dem ehemaligen Adel angehörenden Dorfbewohnenden vor allem auf ihre Erinnerung an ihre Sozialisation in der DDR mit ihrer dezidiert adelsfeindlichen Einstellung, während sich Mitglieder der Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen Adels vor allem auf Erinnerungsbestände der Zeit vor 1945 bezogen, als ihre Vorfahren im jeweiligen Dorfe ansässig gewesen sind. Dieser reizvolle Ansatz, zwei Erzählgemeinschaften parallel zu analysieren (Seite 20), hat interessante Ergebnisse zur Folge gehabt, die teils von Ressentiments auf beiden Seiten, teils auch von vermittelnden Handlungen zwischen diesen Gemeinschaften (z.B. durch die „neutralen“ Ortsgeistlichen) geprägt waren. Sie führten einerseits zu Konflikten und Mißverständnissen, andererseits zu Kooperationen und Akzeptanz oder gar Anerkennung, beispielsweise beim gemeinsam geteilten Ort des Gutshauses oder Gutsparks. Vor allem das Gutshaus als Symbol der Dorfmitte war bei beiden Gemeinschaften ein zentraler Ort, entweder als Dorfhaus (Seniorenanlage, Konsumladen, Schule, Kindergarten) oder eben als Wohnstätte der Familie des ehemaligen Adels von vor 1918. So kommt Langelüddecke zu bemerkenswerten Ergebnissen dieser geteilten Erinnerung, die mit den jeweils gleichen Orten verknüpft ist. Sie glaubt, daß in beiden Gruppenbildungen ein Obenbleiben-Nrrativ zur Erhaltung ihrer Identität gepflegt worden sei, da beide an Verlusterfahrungen gelitten hätten (Seite 340-341). Ferner sinniert die Autorin darüber, ob die Einrichtung von Ferienwohnungen auf einem Gutshaus als Öffnung gegen die Welt verstanden werden kann (Seitre 349) und sie kommt zu der Erkenntnis, daß auch heute noch patriarchale Fürsorgeerwartungen an die vormaligen Adeligen und deren Nachkommen gestellt würden (Seite 351). Auch stellt Langelüddecke die These auf, daß sich „die Erzählungen der Menschen langsamer als die Gebäude um sie herum“ (Sete 353) verändern würden; damit schließt sie an die Theorie der Zähigkeit „sozialer Tatbestände“ an, wie sie Durkheim einst formuliert hatte. „Eingelebte Gewohnheiten“ (nach Max Weber), bestimmten „traditionales Handeln“ oft über eine längere Zeit, so auch hier. Ferner streift Langelüddecke unbewußt mit der Konstruktionsvorstellung des Begriffes „Heimat“ das Konzept „un/doing nobility“, indem sie „Heimat“ für flüchtig hält und sie nimmt an, daß Heimat nur existiere, wenn Erzählgemeinschaften diesen Begriff mit Leben füllen würden (Seite 352). Daß auch „Adel“ ein solcher Traditionsbestand war, mit dem neu umgegangen wurde, formuliert sie so explizit nicht, es wäre aber naheliegend gewesen, zumal die Bevölkerung in den Dörfern zuerst eine Passung zwischen dem sozialistischen Adels-Stereotyp (der „Junker“) und den im Dorf auftretenden Angehörigen vormaliger Adelsfamilien erreichen mußte. Kritisch zu bemerken bleibt an der Studie, daß sich Langelüddecke einerseits wider die Containerisierung von Begriffen wendet (Seite 15), sie dann aber selbst benützt. So definiert sie nicht einmal den Begriff „Adel“, geht unhinterfragt davon aus, daß „Adel“ eine „soziale abgeschlossene Gruppe“ sei (Seite 33) und beteiligt sich somit an einem eigenen containerisierenden „doing nobility“ (Seite 18-19), auch spricht sie wiederholt von „Adligen“ (z. B. Seite 340), obschon es diese seit der Weimarer Reichsverfassung gar nicht mehr gibt. Daher beteiligt sich die Verfasserin immer wieder bewußt und aktiv und an einer Perpetuierung von Begriffen, die durch die Erinnerungsgemeinschaft des ehemaligen Adels gepflegt wird, also die Selbstsicht des Adels darstellt. Dies ist daran zu bemerken, daß sie stets von „Adligen“ und „Nichtadligen“, die sie 2010/11 interviewt hätte, spricht. Außerdem verbindet die Autorin „den Adel“ grundsätzlich mit einer gesellschaftlichen Abstiegserzählung (Seite 31 und 33); hier könnte man besser differenzieren in politischen Abstieg und gesellschaftliches Obenbleiben. [10] Zu einseitig ist auch die Darstellung der schimpfklatschlastigen Adelsabwertung in der BRD, da die Verfasserin die Wirkmacht der Widerstandsnarrative außer acht läßt. [11] Auch urteilt sie überaus einseitig, wenn sie einen Teil der Adelsforschung ignoriert und behauptet, daß Adelsimages in der BRD (1948-1990) vor allem schimpfklatschlastig gewesen seien; sie führt dazu als Leuchttürme lediglich Meinecke und Rosenberg an. [12] Ein anderes Problem ist die Vorgehensweise der Verfasserin, sogenannte „Anonymisierungen“ vorzunehmen. Persönliche Daten wie die Namen der Interviewten zu klandestinieren, um 2020 bei den Rezipierenden ihrer Studie Konflikte in den noch lebenden Gemeinschaften in den drei untersuchten Dörfern zu unterbinden, ist ein verständliches Unterfangen. Dies bringt aber auch zwei Nachteile mit sich. Erstens hat Langelüddecke die Namen durchaus nicht anonymisiert (daher oben auch die Anführungsstriche beim Wort „Anonymisierungen“), sondern sich fiktive Namen ausgedacht. Zweitens treibt die Verfasserin ihr Streben nach Opakheit so weit, daß sie auch Quellenangaben verfremdet und damit den Zugang zur Überprüfbarkeit ihrer Angaben verhindert. Mit der Angabe „Kreisarchiv II“ (Seite 365 und 357) kann kein Forschender arbeiten, auch in der Bibliographie finden sich die erfundenen Namen in Listen wieder, mit denen die Verfasserin Titel erfindet, die nie erschienen sind und mithin so auch nicht bibliographisch ermittelbar sind, z.B. „o.V., Die Hohenstein-Bandenow Pflanzenzüchtung (Betriebsbroschüre), 2004“. Zudem bringt die Namensverfremdung andere Schwierigkeiten mit sich, die bei einer strikten Anonymisierung (z.B. als „Familie von 1,2,3“ oder ähnlich) hätten vermieden werden können. Denn Langelüddecke nennt die drei Familien fiktiv „von Hohenstein“ in „Bandenow“, „von Sierstedt“ in „Siebeneichen“ und „von Watenburg“ in „Kuritz“ (Seite 360-364) und provoziert damit Verwechselungen mit den gleichnamigen Familien der niederadeligen und gräflichen v.Hohenstein [13] und der niederadeligen v.Sierstedt [14] aus der Zeit vor 1918. Ebenso könnte man den fiktiven Ort „Siebeneichen“ verwechseln mit den beiden realen Orten „Sieben-Eichen“, das heißt einem „Berg-Schloß mit einem daran liegenden Flecken in Meissen, 1. Stunde von der Stadt Meissen“ und mit dem gleichnamigen „Schloß im Fürstenthum Jauer, in Schlesien, unweit der Stadt Lemberg“. [15] Zuletzt ist auch negativ anzumerken, daß das Verzeichnis der benützten Webseiten unvollständig ist (Seite 24 und 368). Neben dieser unglücklichen und Verwirrung stiftenden Verfremdung der Namen mit real existierenden Orten und Familien aber bleibt immerhin Langelüddeckes Verdienst, in einem bisher wenig beleuchteten Gebiet, daß auch um die Dissertation von Jakob Schwichtenberg zum ehemaligen Adel in der DDR bis 1919 bereichert wird, [16] Erhellendes zutage gefördert zu haben. Besonders die Selbstaussagen der Betroffenen und ihre teils gemeinsamen und teils gegensätzlichen Interpretationen ihrer Erinnerungen machen den Wert dieses Werkes mit Fokus auf die Sichtweisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf die gemeinsame ebenso wie geteilte Vergangenheit des 20. Jahrhunderts aus. Diese Rezension stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., B.A., und erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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