Institut Deutsche Adelsforschung
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Einführung in die Religionspsychologie 2006

Besprechung des gleichnamigen Werkes von Godwin Lämmermann

Das unter dem obigen Titel publizierte Buch erschien im Jahre 2006 im Neukirchener Verlag in Neukirchen-Vluyn, einem hauptsächlich theologisch orientierten Verlag. Es umfaßt 405 Seiten, ist gebunden und kostet 34,90 Euro im Buchhandel. Der Verlag und sein Programm läßt bereits auf die grundsätzliche Richtung des Buches schließen, auch wenn man sich die wissenschaftliche Sozialisation seines Verfassers ansieht, der, von Haus aus evangelischer Theologe, Philosoph, Soziologe und ehemaliger Pfarrer, zur Zeit (2011) als Ordinarius für Evangelische Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg wirkt und lehrt. Man könnte daher also leicht vermuten, daß es sich um ein Werk der apologetisch-christizistsichen Religionspsychologie handelt, das sich mehr mit der Pastoralpsychologie als der psychologischen Religionspsychologie befaßt. Das ist jedoch mitnichten der Fall, da der Verfasser weit über seinen eigenen Tellerrand hinausblickt und auch Ansätze, Modelle und Theorien des Faches anwendet, die der Religion an sich eher kritisch bis feindlich gegenüber eingestellt sind. Sein Faible scheint dabei die Tiefenpsychologie zu sein, die er gern und auffallend oft rezipiert und anwendet.

Dennoch ist - vorweg bemerkt - der Buchtitel etwas unglücklich gewählt. Freilich bietet der Autor zwar tatsächlich eine »Einführung in die Religionspsychologie«, aber da es »die Religionspsychologie« nicht gibt, muß Vorsicht angebracht sein. Es ist daher in erster Linie eine Einführung in »eine Religionspsychologie«, deren spezielle (hier zumeist: tiefenhermeneutische erklärte) Form aber von Lämmermann durchaus einführend definitorisch abgeklärt wird. In zweiter Linie enthält das Werk außerdem Ansätze und Themen, die mit einer Einführung nicht unbedingt etwas zu tun haben, sondern eigenständige Forschungsgebiete darstellen, die hier ausgebreitet werden, beispielsweise zu den Themen Tod und Religiosität, Maskottchen, Antisemitismus als religiöses Vorurteil oder den Zusammenhang zwischen Gesundheit beziehntlich Siechheit und religiösem Glauben. Etwas unglücklich ist auch, daß der Titel scheinbar vor der Publikation vom Verfasser oder Verlag nicht auf ein bereits vorhandenen Wortlaut abgeklärt wurde und die Verwechselungsgefahr mit diversen anderen Titeln entsprechend groß ist. Was selten vorkommt, kam hier vor: Es erschienen unter dem gleichen Titel bereits in den Jahren 1973, 1990 und 2003 drei ganz anders angelegte Werke.[1] Während aber der Titel von 2003 mehr der praktischen Erforschung gewidmet ist, geht Lämmermann in seinem Werk mehr auf die Theorie ein. [2] Und sein Zielgruppenfokus ist anders geartet: Er schreibt interpassivitär für den fiktiven Benutzer und Leser, den er sich als gebildet, akademisch, aber nicht vom Fach vorstellt; er befleißigt sich dabei eines populärwissenschaftlicher Schreibstils, der zwischen Forschungsreferat, wissenschaftlichem Bericht und Essay schwankt; er gönnt sich bisweilen auch etlichen Exkurse oder Lieblingsthemen, die er, durchaus pointiert und auch fundiert, breiter behandelt.

Sein Werk gliedert er dabei in zehn Kapitel. Darin widmet er sich der Definition »seiner« Religionspsychologie ebenso wie der Frage nach der oft problematischen Erfaßbarkeit und Meßbarkeit religiösen Erlebens, nimmt Stellung zur Zwittereigenschaft der Religionspsychologie, die ihre Genese zwischen Theologie und Psychologie hatte und geht auf die Rezeption verschiedener Schulen und Modelle ein. Er bringt fernerhin Grundlagen und Beispiele der experimentellen wie behavioristischen Religionspsychologie und stellt verschiedene Vordenker wie Clark, James, Freud, Reich, Reik, Adler, Fromm, Frankl, Erikson und Jung vor. [3]

Auch ein Kapitel über die Geschichte der Religionspsychologien wird angeführt, beinhaltet aber weitgehend das, was bereits andere Religionspsychologen erörtert haben, wenngleich auch neuere Forschungen zu neurobiologischen Vorgängen für religiöses Verhalten angeführt werden, die in den anderen Werken keine oder nur sehr geringe Erwähnung erfahren, da sie ein relativ neues Gebiet der Religionspsychologie sind. [4] Andererseits ist erkennbar, daß Lämmermann ältere Ansätze, die nicht weiter in der Forschung aufgegriffen worden sind, gar nicht mehr rezipiert hat, wie aus seinem Literaturverzeichnis hervorgeht. [5] Dieses Manko löst sich freilich weitgehend auf, bedenkt man, daß die Erteilung eines Überblicks über die Religionspsychologien immer problematischer wird und wegen der Spezialisierung des Faches bereits eine große Spezialisierungstendenz aufweist und dies, obgleich sich namentlich die deutschen Religionspsychologien offiziell nicht einmal auf einen eigenen universitären Lehrstuhl berufen können. [6]

Lämmermanns Fachwissen ist dennoch profund zu nennen: Er kennt die für ihn wesentlichen Lehren und Modelle, die er den Lesenden vorstellt, verliert sich nicht in Details, wartet allerdings gelegentlich mit einigen skurrilen Spekulationen auf, beispielsweise nach dem biologischen Ort der Religiosität im Gehirn. Er vermutet, sie könnte im Schläfenlappenbereich liegen und fragt sich, für die Lesenden etwas irritierend, ob man denn anhand von Menschenversuchen Fromme durch chirurgische Amputation des Schläfenlappens zu Atheisten machen könnte (Seite 125).

Handwerklich ist das Werk als gelungen zu bezeichnen. Fester Einband, ein ausführliches Literaturverzeichnis, je ein Register für die vorkommenden Personennamen und Sachinhalte runden das Werk gekonnt ab und machen es nicht nur wegen des gefälligen Erzählstils zu einem populärwissenschaftlichen, sondern auch zu einem Nachschlagewerk, wenngleich der »bibliographische Teufel« gelegentlich im Detail steckt. So zeigt es sich, daß die Zitierung im Haupttext gelegentlich nicht mit der im Literaturverzeichnis übereinstimmt. Ein Beispiel: Lämmermann zitiert auf Seite 1 seines Buches einen Autor namens »Deschner 1989«. Wollen sich die Lesenden nun nach dieser Literaturstelle im Literaturverzeichnis auf Seite 384 umsehen, stehen sie vor einem Rätsel. Dort ist kein »Deschner 1989« verzeichnet, aber drei andere Werke, die in anderen Jahren erschienen sind: 1966-1999, 1974 und 1984. So bleibt dem Lesenden nicht weiter übrig, als alle drei Werke durchzusehen, um zuerst einmal feststellen zu können, in welchem dieser Werke denn das Zitat Lämmermanns steht. Will man nun gutwillig unterstellen und annehmen, daß »Deschner 1989« einen Band aus der sechsbändigen Reihe mit der Erscheinungskennzeichung 1966-1999 meint, bliebe aber immer noch die Frage: Um welchen der sechs Bände handelt es sich?

Hier wäre es von Vorteil gewesen, auf diese rudimentäre und erst durch Kombination zweier Stellen im Buch ermittelbare (oder eben auch nicht ermittelbare) Zitierweise zu verzichten und stattdessen Endnoten oder Fußnoten mit jeweils vollständigen Titeln anzuführen. Wer Quellen bibliographisch lokalisieren will, ist bei Lämmermann daher stets auf das aufwendige Hin- und Herblättern im Werk angewiesen. Und innerhalb des Literaturverzeichnisses wurden die Werke derselben Autoren scheinbar nicht alphabetisch oder numerisch aufsteigend oder absteigend, sondern willkürlich sortiert; jedenfalls ist dabei ein System nicht erkennbar, und auch dies erschwert die Heraussuche von Quellen unnötig.

Lämmermann ist außerdem in der Lage, neue und gar nicht vorhandene Schulen der Religionspsychologie zu erfinden: So nennt er Kabisch, Girgensohn und Gruehn Vertreter der »Dorpacher Schule«. Diese Schule hat es nie gegeben, sie ist dahingegen tatsächlich benannt nach der estnischen Stadt Dorpat, während unerklärlich ist, was Lämmermanns »Dorpach« bedeuten soll. Ein Druckfehler kann dies indes nicht sein, da das Wort »Dorpacher« und die Kombination »Dorpacher Schule« allein auf den Seiten 112-117 insgesamt 14 Mal in eben jener Schreibweise vorkommt. Benannt wurde die Schule aber tatsächlich nach der baltischen Stadt, in der Girgensohn, selbst ein in Dorpat Sozialisierter, als Hauptvertreter dieser Forschungsrichtung seit 1907 als außerordentlicher Professor für Systematische Theologie lehrte.

Die wenigen Grafiken zum Buch sind im Übrigen zwar meist exzellent dargestellt, aber gelegentlich sehr klein gedruckt und kaum lesbar (Seite 127: dunkle Subscriptio auf dunklem Hintergrund oder Seite 118 und 256: sehr kleiner Schriftgrad), aber es gibt auch andere Beispiel von Tabellen, die sehr angenehm zu lesen sind (Seite 233-234 und 246-247). Lämmermanns Werk ist indes inhaltlich vielfach hochaktuell. Es warnt vor der Übertragungsprojizierung des antisemitischen Feindbildes auf Muslime im Deutschland des XXI. Jahrhunderts (Seite 342), er untersucht den Einfluß des Religiösen auf den Antisemitismus, nimmt aber auch religionspsychologisch Stellung zu kaum bewußt ausgeübten, modernen abergläubischen Praktiken in Form von Wackeldackeln oder Christopherusplaketten in den Personenkraftdroschken der Moderne, analysiert gekonnt tiefenpsycholgisch den postmodernen Hang zum Okkultismus, die psychohygienische moderne Hinwendung zu Wellneß- und Fitneßangeboten sowie die Egotaktiker, die sich selbst zum eigenen Gott machen: Lämmermann hält dies  für Auswege aus der Omnipotenzfunktion der Religion, die die eigene narzißtische Grundhaltung konterkariere und sich deshalb in Surrogaten ergehe würde (Seite 374).

Lämmermanns Fazit ist dennoch versöhnlich und dem sophistischen Reliverismus [7] nach dem Flournoyschen Grundsatz der Ausschlusses (sowie Einklammerung) der Transzendenz verpflichtet: „Offensichtlich ist die Religiosität … kein selbstreferentes, sondern ein interdependentes System mit sehr vielen Einflußfaktoren. Deshalb haben sowohl die psychoanalytischen Kritiker der Religion als auch ihre Befürworter Recht und Unrecht zugleich … aber so ist es nun einmal, wenn man nach dem Verhältnis von Religion und Psyche fragt. Pauschalurteile sind allemal Fehlurteile!“ (Seite 380). Satirisch könnte man indes auch mit dem Kabarettisten Matthias Beltz (1945-2002) sprechen: „Die einen sagen, daß Gott existiert, die andern, daß Gott nicht existiert. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen!“ [8]

Lämmermanns Werk ist religionspsychologisch insgesamt trotz seiner persönlich subjektiven Sicht, die im Titel der Arbeit nicht recht ersichtlich ist, wissenschaftlich ausgeglichen. Er bringt eine Fülle von Überlegungen und Übersichten, und er referiert die gegensätzlichsten Forschungsmethoden und Erkenntnisse, die sonst nur durch mühsames Zusammensuchen erfahrbar wären. Seinem Titel gemäß hält das Werk also, was es verspricht, auch wenn es »die« Einführung in »die« Religionspsychologie schlicht nicht geben kann, sondern es die Religionspsychologie Lämmermanns ist. Dies gibt er selbst auch zu, wenn er äußert: „Das, was wir Wissenschaftaparadigmen genannt haben, hängt auch von recht subjektiven Vorlieben, Fähigkeiten und Urteilen ab.“ (Seite 381). Zugleich gilt: Dies verringert wegen der Erfahrungen und Forschungen Lämmermanns auf diesem Gebiet keineswegs den inhaltlich mannigfaltig gestalteten Wert des Werkes, das für Soziologen, Theologen und Psychologen ein gleichermaßen hohes und - abgesehen von den obigen Annotationen - verdientes Interesse beanspruchen darf.

Annotationen:

  • [1] = Ulrich Mann: Einführung in die Religionspsychologie, Darmstadt 1973 / Nils Holm: Einführung in die Religionspsychologie, München 1990 / Christian Henning & Sebastian Murken & Erich Nestler (Herausgeber): Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003
  • [2] = Lämmermanns Werk ist außerdem die modernste Form der folgenden Vorgängerwerke: Richard Müller-Freienfels: Psychologie der Religion, Bände I. und II., Berlin 1920 / Willy Hellpach: Übersicht über die Religionspsychologie, Leipzig 1939 / Wolfgang Trillhaas: Grundzüge der Religionspsychologie, München 1946 / Hans Jörg Weitbrecht: Beiträge zur Religionspsychopathologie, Heidelberg 1948 / Heije Faber: Religionspsychologie, Gütersloh 1973 / Hans Jürgen Fraas: Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1990 / Bernhard Grom: Religionspsychologie, Göttingen 1992
  • [3] = Dies geschieht nicht ganz so ausführlich wie bei der in dieser Darstellungsbeziehung ähnlich agierenden Susanne Heine (Grundlagen der Religionspsychologie, Göttingen 2005), hat aber den Vorteil, daß der Überblick für den einsteigenden Leser noch mehr gerafft ist.
  • [4] = Ulrich Mann: Einführung in die Religionspsychologie, Darmstadt 1973, Seite 30-60 / Hjalmar Sundén: Religionspsychologie, Stuttgart 1982, Seite 17-22 / Christian Henning (Herausgeber): Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003, Seite 9-90 / Hans Jürgen Fraas: Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1990, Seite 13-37 / Nils Holm: Einführung in die Religionspsychologie, München 1990, Seite 11-18 / Richard Müller-Freienfels: Psychologie der Religion, Band I., Berlin 1920, Seite 21-22
  • [5] = Dazu zählt beispielshalber Eivind Berggrav: Der Durchbruch der Religion, Göttingen 1929 / Wilhelm Mundle: Die religiösen Erlebnisse, Leipzig 2.Auflage 1927 / Georg Wunderle: Einführung in die moderne Religionspsychologie, München 1922 /  Wilhelm Pöll: Religionspsychologie. Formen der religiösen Kenntnisnahme, München 1965
  • [6] = Sebastian Murken: Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Sicht, Marburg (Lahn) 2009, Seite 6
  • [7] = Reliverismus, etymologisch gebildet aus den lateinischen Bestandteilen »religio« (Glauben) und »veritas« (Wahrheit), bezeichnet einen moderne Form des Grundsatzes der altgriechischen Sophistik, angewendet auf die Religionspsychologie: »Religiöse Wahrheit« hat entsprechenden »Glauben« als Voraussetzung und wird erst aus ihm erschaffen. Das erklärt die Vielfalt der Religionsformen auf der Welt, die, jede für sich genommen, als intragruppales und damit soziales System zwischen den drei beteiligten Status- und Funktionsgruppen der Gottheit, der Führer (Priesterschaft) und der Gläubigen »wahr« und kohärent erscheinen. Sie hierzu später das Kapitel »Reliveristische Aspekte« bei dem in Erarbeitung befindlichen Werk des Rezensenten Claus Heinrich Bill: Konstruktive Religionspsychologie. Grundzüge sowie Modelle und Forschungen im Geist der Sophistik, DK-Sonderburg 2011 (Band XXII. der Schriftenreihe des Instituts Deutsche Adelsforschung).
  • [8] = Volker Kühn (Herausgeber): Matthias Beltz. Gut und Böse, Frankfurt am Main 2004 (Titelblatt ohne Seitenangabe)
Verfasser dieser Rezension ist Claus Heinrich Bill.

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