Institut Deutsche Adelsforschung
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Zur Einführung in die Kulturwissenschaften

Rezension einer Neuerscheinung mit einzelnen Themenvertiefungen

„Insel Neu-Guinea. Größe: 13,675 Q.[audrat] M.[eilen]. Größe der benachbarten Inseln: 450 Q.M. Die Insel hat 2 große Halbinseln, eine östliche und eine westliche. Das Innere der Insel scheint ein hohes, von großen Flüssen durchschnittenes, mit dichten Urwäldern bedecktes Gebirgsland zu sein. Einige Berge desselben sollen Schnee tragen, was mindestens auf eine Höhe von 16.000' bis 17.000' schließen läßt. In der Owen-Stanley-Kette auf der östlichen Halbinsel liegt der 12.389' hohe Owen-Stanley-Berg. Tropisches Klima in den nieder[e]n Regionen, überaus üppiger tropischer Pflanzenwuchs. Sehr zahlreiche Thiere. Die sehr häßlichen Papua's und Alfurus sind Menschenfresser, roh, kriegerisch und der höheren Kultur abgeneigt, doch stehen sie im Westen mit den Niederländern und Chinesen in Handelsverkehr. Neu-Guinea bietet der Bekehrung und Civilisierung noch ein großes Feld, dem Handel eine reiche Schatzkammer dar. Die Niederländer nehmen die ganze Westhälfte der Insel in Anspruch und haben bereits angefangen, das Land zu kolonisieren, wie sie auch an der Nordwestküste der Geelvinsbai den Hafen Dorey anlegten.“ [1]

Diese an sich nur geograpische Beschreibung von Neu-Guinea stammt von einem Professor des Königlich Württembergischen Schullehrerseminars aus dem süddeutschen Eßlingen am Neckar aus dem Jahre 1859, also von einem Manne, der maßgeblich für das Weltbild verantwortlich war, daß den Seminarteilnehmern, zukünftigen Lehrern und Erziehern von Kindern, eine bestimmte Sichtweise auf die Erdkunde vermitteln sollte. Doch nicht nur erdkundliche Informationen wurden über diesen Text transportiert, sondern auch Weltanschauungen. Und so kommt es, daß sich in die reinste quantitative Aufzählung von Lage und Umfang der Inseln abwertende Bemerkungen über die Bevölkerung einschleichen. In einem Negativkonglomerat von Eigenschaften erscheinen die Bewohner als »unzivilisiert«, als »wild«, als »unästhetisch« sowie als lohnendes Subjekt in ökonomischer und religiöser Hinsicht, mit dem als Ware gehandelt werden kann. Und: Sie ernähren sich grundsätzlich nur und ausschließlich von ihresgleichen, sie »fressen« Menschen. Die eine schlechte Eigenschaft scheint dabei die andere negative Eigenschaft hervorzubringen: Ihre »Rohheit« läßt die Einwohner von Neu-Guinea Menschen »fressen« und weil sie Menschen fressen, erscheinen sie dem Eßlinger Didaktiker als »verroht«, bevor er wiederum erneut Ausführungen über geographische Besonderheiten wie den Hafen verlautbaren läßt - und dies alles ohne inhaltlichen Bruch, der heutigen Betrachtern durch eine andere Sichtweise evident aufstößt.

Die tatsächliche Feststellung der Anthropophagie ist indes für Neuguinea immer noch umstritten, und vor allem wurde seitens des in Rede stehenden Professors nicht über die Gründe, Art und Häufigkeit des Menschenverzehrs gesprochen. Geschah Antropophagie tatsächlich? Diese Frage ist nicht zu verneinen. Aber wenn sie geschah, warum und auf welche Weise wurde sie praktiziert? Aus Nahrungsnot, aus rituell-religösem Gründen, aus medizinischen Motiven, aus psychopathologischen oder sexuellen Gründen oder aus Rache?

Begegnet man daher in einer geschichtlichen Quelle dem Thema »Kannibalismus« auf derlei Weise, so ging man noch weit bis ins XIX. Jahrhundert davon aus, daß Berichte über diese Nahrungspraktiken Abbildungen der Wirklichkeit waren und somit »wahr«. Erst danach, mit der Entwicklung der kritischen Hinterfragung der Quellen, der historischen Methode, wurde einem Betrachter und Leser solcher Berichte klar, daß sie je spezifische Sichtweisen auf das Thema enthalten, aber nicht zwangsläufig eine getreue Abbildung der Realität zeigten. Am Beispiel der Anthropophagie wird dies besonders deutlich. Berichte hierüber entstanden zumeist aus der eurozentrischen Sicht der »Alten Welt« über die »Neue Welt«, die von der »Alten Welt« sowohl zivilisiert, als auch unterdrückt wurde. Schon diese Bezeichnungen »Alte Welt« und »Neue Welt«, mit denen hier operiert wird, sind dabei problematisch im Zeitalter des Reliverismus und des Konstruktivismus - auch sie sind ebenso wie der Begriff der »Menschenfresserei« eurozentrisch und tragen implizit die Ansicht in sich, daß es sich bei der »Alten Welt« um eine traditionsreichere und bessere Welt handeln würde.

Doch diese »Alte Welt« war zugleich auch fasziniert von der »Neuen Welt«, die zumeist das Ziel von Entdeckern und Eroberern war. Die »Neue Welt« wurde jedoch meist nicht als gleichwertig betrachtet, sondern als unterlegen, Ureinwohner in Südamerika, Nordamerika und Afrika wurden in einem plötzlichen gewalttätigen oder schleichenden friedlichen Prozeß durch europäische Expansion und ebensolches Machtstreben, durch die Einführung von Waffen und Alkohol dezimiert, kulturell zerstört, vom heidnischen Glauben zugunsten der Einführung des Christglaubens abgebracht et cetera. Europa brachte der »Neuen Welt« die Zivilisation und den technischen Fortschritt, aber auch eine gänzlich Veränderung der Kulturen und Gesellschaften bestimmter Länder und Kontinente.

Diese relativistischen Überlegungen gehören zum Standard der Kulturwissenschaften. Verbleiben wir indes noch ein wenig bei dem eingangs erwähnten Thema. Wie einseitig der Begriff des umgangssprachlichen Namen der Anthropophagie, die »Menschenfresserei«, ist, zeigt schon sein deutscher Name. Abgesehen davon, daß bei dem Verzehr getöteter Tiere nicht von Anthrozoophagie gesprochen wird, da das Aufessen getöteter Tiere mit dem Gewissen der Mehrheit der Menschheit konform geht und es daher als normal gilt, Tiere als Ware und nicht als Lebewesen mit Lebensrechten zu behandeln, ist der Begriff der »Menschenfresserei« zunächst bereits allein in seinem Wort negativ konnotiert. Die Rede ist von Menschen der »Neuen Welt«, die andere Menschen »auffressen«. »Fressen« ist eine Nahrungsaufnahmebezeichnung, die grundsätzlich abwertend gemeint ist im Gegensatz zum »Essen«.

Fressen gilt als »tierisch« und »animalisch«, als instinkt- und triebgesteuert, es stellt somit keine kulturelle Leistung dar, sondern verleiht dem »fressenden« Lebewesen nur einem niederen Rang, weil es lediglich aus einem natürlichen Zwang, nicht aber aus »edleren« Gründen »frißt«. Die Bezeichnung »Fressen« ist daher »natürlich«, überlebenswichtig, unzivilisiert, radikal, gewalttätig, reißerisch. Der Mensch hat sich schon sehr bald auch sprachlich in den Gegensatz zum Tier und dem von ihm vertretenen »Tierischen«, dessen Verdrängungsprozeß Sigmund Freud später so sinnig wieder aufdeckte, gestellt. Denn der Mensch betrachtet sich als weiterentwickelt, als kultürlich vom Natürlichen sukzessive hehrer gemachtes Lebewesen und als »Krone der Schöpfung«; er macht sich, so auch selbst der christizistische Auftrag, »die Erde untertan«. Somit »frißt« der Mensch auch nicht, sondern er »ißt«.

Die Befolgung von Anstandsregeln beim Essen achten daher auch sehr darauf, daß der zu erziehende Mensch nicht etwa in den Zustand animalischer Freßsucht verfällt, sondern seinen Hunger zügelt und die Nahrungsaufnahme zu einem Ritual werden läßt, bei dem der Vorgang des Tötens und Insichaufnehmens durch Anthrozoophagie getrennt wird. Der Mensch, der dem Tier bei der Schlachtung nicht ins Auge sieht, kann später ohne moralische Skrupel, bedingt durch den psychologischen Effekt der Vergegenwärtigungsabspaltung des Tötungsvorganges, das zerstückelte Tier beziehentlich dessen Teile auf dem Teller »essen« - emotional wird beides zumeist nicht in einen Zusammenhang gebracht, was der Tierindustrie erst ihre Existenz und ihren Gelderwerb verschafft. Das »Fressen« wird demnach durch das Mittel der »Tischkultur« in andere Sphären erhoben und dadurch zur »Kultur«, die auf die instinktgesteuerten Völker der Welt herabschaut.

Aber es gab auch früh schon kritische Stimmen: „Man hört alltäglich“, so ein nonkonformer anonymer Autor in einer 1824 erschienenen deutschen Volkszeitschrift, „von der Treulosigkeit, dem Verrathe, der Barbarei und Wildheit der Wilden sprechen; man nennt sie blutgierig, raubsüchtig, hinterlistig, mit einem Worte: Menschenfresser. Es verlohnt sich schon, die Sache ein wenig näher zu betrachten; denn auch die Wilden sind unsere Brüder; auch sie sind nach dem Bilde der Gottheit geschaffen, auch sie haben eine unsterbliche Seele, wie wir. Wir haben deshalb die eifrigsten Nachforschungen angestellt, alte und neue Bücher durchblättert, und zu unserer innigsten Zufriedenheit gefunden, daß alle jene Epitheten meistentheils ungereimt sind und nur von Menschen herrühren, die selbst alle diese Namen verdienen, welche sie den ruhigen Bewohnern jener entfernten Länder, Inseln und Eilande, wohin ihre Eroberungs- und Usurpationssucht sie geführt, beigelegt haben.“ [2]

Diese auseinandergehenden Meinungen und Auffassungen wahrzunehmen und zu analysieren ist ein Ertrag der Kulturwissenschaften, die davon ausgehen, daß Situationen, Termini und Zeichen nicht einfach nur das sind, als was sie erscheinen, sondern daß sie semiotisch bedeutsam sind, daß sie jeweils explizit benannte, aber genauso gut auch implizit erscheinende Bedeutung haben, die von den Kulturwissenschaften hinterfragt werden. »Die Kulturwissenschaften« sind dabei schwer faßbar und definierbar, da sie selbst wie auch ihre Forschungsgegenstände allzu vielfältig ein Produkt des modernen Relativismus sind. Sie sind Konstruke und gemachte Bilder ebenso wie die Bilder der Anthropophagie, die hier, in dem zu besprechenden Band, in einem Aufsatz ausführlich nach bester sophistischer Manier dargestellt werden (Seite 213-237).

In ähnlicher Art und Weise werden auch andere Themen behandelt, die mit ähnlichen Betrachtungsweisen unterlegt wurden. Insgesamt sind es zehn Themenfelder, an denen die Verfasser sich über die Begrifflichkeiten und ihre Verwendung klar werden: Es geht dabei auch um Gründungserzählungen, eine Poetologie des Wissens, die Codierung von Gewalt, Kulturtechniken, Metaphorologie, Quasi-Objekte, [3] Body politics, Verwandtschaft und die Symbolisierung des Todes. So unvereinbar diese Themen auf den ersten Blick auch sein mögen, so stellen sie doch die immense Mannigfaltigkeit dar, mit der die Kulturwissenschaften sich anschicken, die Welt, aus der sie stammen, zu erläutern und zu verstehen. Dabei wird jeder Artikel zu den erwähnten Themenfeldern in die fünf Abschnitte Exposition, Genealogie, Theorie, Beispiel und Zusammenfassung gegliedert.

Das erleichtert den kulturwissenschaftlichen Zusammenhang und die Erkennung von Mustern und Methoden. Daß dies notwendig ist, verdeutlicht bereits die Publikation dieses Buches, das 2011 im Finkverlag München erschien, innerhalb der Buchreihe UTB für Studenten an deutschsprachigen Universitäten. Hier allerdings beginnt ein großes Mißverständnis. Denn so verdienstvoll die einzelnen Untersuchungen und lohnenden Betrachtungsweisen auch sein mögen, sie sind unter dem Titel einer "Einführung in die Kulturwissenschaft" schlecht aufgehoben, zumal den Studenten als Hauptzielgruppe der UTB-Reihe in aller Regel keine Sammelbände mit Aufsätzen vorgelegt werden, sondern ein Methodenkoffer mit Theorien und Einführungen präsentiert wird, um das Handwerkszeug des Wissenschaftlers zu erlernen.

Der vorliegende Band fällt hier beträchtlich aus dem Rahmen: Freilich ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich kulturwissenschaftliche Fragestellungen wegen ihrer Unbestimmtheit (für jedes neue Forschungsvorhaben und jedes Erkenntnisinteresse werden neue Methoden und Theorien angewendet) vor allem an exemplarisch dargestellten Themenbereichen am besten erkennen lassen, aber wenn das Übergewicht der Darstellung auf dem Thema und nicht auf den Methoden liegt, wird es problematisch, das Werk in der UTB-Reihe und als übersichtsartiges und vor allem einführendes Lehrbuch anzupreisen. Wie erwähnt: Das Buch ist fachlich anregend, Blickachsen und Sichtwinkel erweiternd, befruchtend für die kulturwissenschaftliche Forschung, nur der Titel erscheint nicht allzu passend gewählt: Anleitungen zur Erstellung einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung findet man hier nicht.

Für 19,90 Euro ist man allerdings, sieht man einmal von dem besprochenen Titel-Inhalt-Wertezwiefalt ab, mit 286 Seiten erstklassigem Inhalt, gut bedient. Es handelt sich insgesamt um ein empfehlenswertes Buch, das durch seine dezidiert skeptizistische Betrachtungsweise viele Axiome in Frage stellt, die bisher ungeprüft als Stereotype übernommen wurden und macht die Vielfalt deutlich, mit der Untersuchungsgegenstände in den Kulturwissenschaften behandelt werden. [4] Insofern versinnbildlicht das Werk, herausgeben von dem Germanisten Harun Meye (sic!) und dem Philosophisten Leander Scholz, neue Perspektiven auf alte Gegenstände und wirkt befruchtend auf die Forschung menschlicher Kulturalität. 

Diese Rezension stammt von Claus Heinrich Bill und erschien zuerst in unserer Zeitschrift für deutsche Adelsforschung.

Annotationen:

  • [1] = Daniel Völter: Grundriß der Geographie, Eßlingen 2.Auflage 1859, Seite 492
  • [2] = Nomen Nescio: Über die Wildheit der Wilden und die europäischen Menschenfresser, in: Unterhaltungsblätter für Welt- und Menschenkunde, Ausgabe Nro.21 vom 26.Mai 1824, Aarau 1824, Seite 273
  • [3] = Der Aufsatz stellt die Actor-Network-Theory vor. Bisherige Forschungen, die von klaren Objekt-Subjekt-Trennungen ausgingen, seien demnach ergänzungsbedürftig. Objekte wären demnach nicht länger nur passive Faktoren, Subjekte nicht länger nur aktive Faktoren in Handlungsprozessen, sondern die behandelten Objekte wären Quasi-Objekte, da sie die handelnden Subjekte dazu zwingen würden, bestimmte Handlungen zu vollführen. Das Subjekt sei demnach in seinen Handlungen gar nicht so frei wie bisher angenommen. Dazu ein Beispiel: Ein Wasserglas gibt durch seine Form die „Behandlung“ vor, da es durch eine Hand zum Mund geführt werden muß, wofür nur eine begrenzte Anzahl von „Be-Hand-lungsmöglichkeiten“ zur Verfügung stehen. Das Objekt übt also auf das handelnde Subjekt erheblichen Einfluß aus und erscheint nicht mehr nur passiv. Subjekte werden nach dieser Theorie selbst als quasi-handelnd verstanden. Der Sinn der Theorie soll darin liegen, verborgene Netzwerke sichtbar zu machen.

  • [4] = Ähnlichen Prinzipen, nur unter einem passenderen Titel, ist auch das Kulturwissenschaftliche Wörterbuch verpflichtet, das seit 2010 im Verlag des rezensierenden Instituts Deutsche Adelsforschung erscheint (siehe hierzu www.kuwiwo.de)

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