Institut Deutsche Adelsforschung
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Zum neuesten Forschungsstand der Medienwissenschaft(en)

Handbuch des Metzlerverlages neu erschienen

Es war ein deutliches Unbehagen, welches ein anonymer Zeitgenosse in seiner Furcht vor bestimmten Medieninhalten und auch vor einigen neumodischen Medien zu Beginn des Jahres 1912 in einer Tiroler Zeitung artikulierte: 

„Im vorigen Jahrhundert waren, wie sich ältere Leute männiglich aus früherer Zeit noch erinnern, auf Jahrmärkten die sogenannten `Moritaten´ im Schwange. Es waren dies große Leinwandtableaux, auf denen die gräßlichsten Verbrechen und Unglücksszenen mit den allerfürchterlichsten Farben und Pinselstrichen Jung und Alt vor Augen geführt wurden. 

Mit krächzendem Gesang und Drehorgelgedudel wurde stets nachgeholfen für den Fall, daß die Deutlichkeit jener Klexereien irgendwie zu wünschen übrig ließe. Eher noch als die `Moritaten´ waren, Gott Lob, auch öffentliche Hinrichtungen und anderes abgeschafft worden, was als menschenunwürdig doch endlich einmal allgemein erkannt zu sein schien. `Schien´ sage ich, denn was tat die neue Kultur weiter? 
All das Scheußliche, dem wir so einigermaßen entronnen zu sein glaubten, hat sie uns in potenziertem Maße wieder auf den Tisch gestellt. 

Scharf, sinnig, schmunzelnd konstatiert man heute das nun bald erreichte Verschwinden der Analphabeten; blödsinnig glotzt man aber über das Meer der Scheußlichkeiten hinweg, die unserem Volke durch Nachrichten aus der Tagespresse, durch entsetzlichen Illustrationen und Schundliteratur vermittelt werden, oder in neuester Zeit noch dazu durch die Kinematographen. Schülern verbietet man z.B. den Besuch kinematographischer Vorstellungen — auch die Lektüre des `Interessanten Blattes´ könnte man ihnen füglich, wie so manche andere, verbieten. Dadurch kann aber, wie jeder, der schon einmal von `verbotenen Früchten usw.´ etwas läuten gehört hat, einsehen muß, die `Sensationslust´ unserer Jugend nur erhöht werden. 

Man sorge doch lieber dafür, daß jede Vermittlung von solchen `interessanten´ Episoden aus dem Verbrechertum und ähnlichem an unser Volk kräftigst unterdrückt wird; dann kann jeder lesen und anschauen, was er will, wenn nur Gutes und wirklich Interessantes vermittelt werden darf, und es wird ihm, vom Uebermaß abgesehen, nur nützen können. 

Wie die ganz ungestörte Existenz von Schundromanen trotz `Kampf´ gegen Schmutz und Schund ganz lustig weiterdauert, konnte ich erst unlängst beobachten. Komme ich da in einem hiesigen Kramladen hinein, liegt da ein dickes, aufgeschlagenes Buch auf dem Ladentisch. Nun? Ist ja recht schön, wenn, wie es oft vorkommt, daß stundenlang niemand etwas kauft, das Ladenmädchen (vom Berg dort oben) auch einmal in ein Buch schaut; aber was les´ ich? `Jack, der Mädchenmörder´, Berliner Romansammlung, Preis und Jahreszahl wohlweislich verschwiegen. `No aber, das Sie so was lesen mögen?´ — `O, bitte, das ist nachher schön, das haben hier schon viele ausgelesen, sind drei solche Bände, ist aber freilich auch teuer das Ganze, 24 Gulden.´ — Ich habe genug, also 48 Kronen, sage achtundvierzig Kronen, muß da so ein Kerl den armen Leuten, Naturmenschen, wie man sie oft noch nennen hört, herausgeschwindelt haben mit einem — Giftverkauf. Das soll einmal ein Apotheker probieren, der darf´s nicht einmal umsonst hergeben.“ [1]

Die Befürchtungen des Zeitgenossen wenden sich gegen das Kino insgesamt, zeigen aber auch die diskursive Einordnung und Etikettierung von literarischen Erzeugnissen als „Schmutz und Schund“,2 unter anderem mit pharmazeutischen Analogien. Aus den Zeilen spricht die Angst vor Medien und Medieninhalten sowie ihrer Wirkung. 

Was hier noch als diffuse Angst am Ende der Belle Epoqué erscheint, die wissenschaftlich nicht unterfüttert einem politischen Ziel diente, ist heute Gegenstand der Medienwirkungsforschung, die einen Teilbereich der Medienwissenschaft darstellt. Diese hat sich, aus ihren Vorläufern der Erkenntnisphilosophie über die Rolle von Medien stetig weiter entwickelt und stark ausdifferenziert. Sie darf zudem im XXI. Jahrhundert einen großen Raum der Beachtung allein deshalb beanspruchen, weil die weltweite Intensität der Kommunikation zwischen Individuen und Kollektiven exponentiell zugenommen hat.  Heutige (westliche) Zeitgenoss*innen leben in einer Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft, die wesentlich durch elektronische Medien beeinflußt wird, bisweilen sogar in erschreckendem Maß von ihr abhängig sind. Es ist daher nur verständlich, wenn sich die Medienwissenschaft in einer sich zudem rasch verändernden Medienlandschaft stets wissenschaftlich neu ausrichtet und orientiert.

Ein aktuelles Beispiel dafür sind ganz allgemein die bewährten Handbücher des Metzlerverlages Stuttgart; sie haben auch 2014 wieder diverse Wissensgebiete bereichert. Dies ist auch der Fall für das hier anzuzeigende „Handbuch Medienwissenschaft“, herausgeben von Jens Schröter. Nun ist nicht erst seit Michel Foucault und anderen Theoretikern die Wirkungsmacht von Medien evident, was bei entsprechendem Agenda-Setting der Medienwissenschaften einen mittlerweile international stark angeschwollenen Forschungsstand bedeutet. Diesen konzeptional faßbar zu machen und überblicksartig darzustellen, hat Schröter mit einer neuen Kompilation aus Aufsätzen zu bestimmten Themengebieten der Medienwissenschaft(en) vorbildlich unternommen.

Wie stets bei den Handbüchern des Metzlerverlages handelt es sich um Werke, die sowohl dem wissenschaftlichen Apparat in universitären und außeruniversitären Institutionen als auch dem akademischen Nachwuchs der Studierendenschaft ganz allgemein in den Geisteswissenschaften als wichtige Grundlage sowohl für Definitionen von Begriffen als auch für den aktuellen Stand der Forschung dienlich sind. 

Ähnlich wie sich die Philosophie auch als eine Grundlagenwissenschaft versteht, darf diesen Status auch die Medienwissenschaft beanspruchen, namentlich gilt dies natürlich auch für die Bedeutung in der kulturwissenschaftlichen Eliten- wie Adelsforschung als eine historische Wissenschaft, deren Quellen ausschließlich über Medien verarbeitet und aus Medien ihre Quellen zieht wie Erkenntnisse ableitet. Dabei bedient Schröter verschiedene Bereiche der Medienwissenschaft auf breiter Basis. Die vier großen Kapitel befassen sich mit dem Medienbegriff und der Medienwissenschaft, mit einzelnen Medientheorien, mit Einzelmedien und schließlich Melangen zwischen Medien- und anderen Wissenschaften oder Perspektivenbereichen beziehentlich dem Stellenwert „des Medialen“ darin (z.B in Politikwissenschaft, Historiographie, aber auch Digital Humanities). 

Schröter weist auch darauf hin, daß die Medienwissenschaften nicht etwa nicht über eine eklektizistische Anfangsphase hinaus gekommen seien, sondern daß Interdisziplinarität und Methodenheterogenität disziplininhärent wären. Er lotet auch den Standort der Medienwissenschaften als eigenständigen Bereich ebenso wie als wertvolle Teildiziplin anderer Forschungsbereiche aus. Ungewöhnlich für ein Metzlerhandbuch ist dagegen ein unkonventionelles Kapitel (Seite 33-41), das sich mit der Sammelrezenion von nach Forschungsinstitutionsorten sortierten gedruckten Einführungen in die Medienwissenschaften befaßt. 

Im Übrigen stellt das Werk 23 verschiedene und damit die wichtigsten und diskursmächtigsten Medientheoretiker, Forschungansätze und Schulen vor, angefangen von der kanadischen Schule (McLuhan, Innies) über postmoderne Medientheoretiker (Lyotard, Serres), marxistische Medientheoretiker (Mary, Brecht) bis hin zu den Theoretikern der Medienmorphologie (Cassirer, Leschke). 22 Einzelmedien werden daraufhin in je einem Abschnitt untersucht, dabei kommen vergangene Kommunikationsformen (wie die Telegraphie) ebenso zur Sprache wie moderne Formen der Mail, der Quantenkryptographie, mobile Endgeräte oder die sogenannten Soundstudies. In einer weitere Auflage werden hier sicherlich auch noch ganz neue Ansätze wie die im Handbuch noch nicht vertretenen Light Studies aufgenommen werden, die sich mit den Einsatz- und Wirkungsformen von natürlichem wie künstlichem Licht als Medium befassen. Zu denken wäre in dieser Beziehung aber möglicherweise auch an Smell Studies oder Odor Studies, die Gerüche als Medien in den Blick nehmen. Aktuell zeigt sich aber im weitesten Sinne auch die Untersuchung der Forschungsfelder bei Schröter: Digital Humanities, Postmodern Studies und Gender Studies stehen neben klassischen Anwendungsfeldern wie Theologie, Sprachwissenschaft, Soziologie oder Jurisprudenz.
Schröters Werk gibt Anregungen, sich vielfältig mit dem Medienbegriff auseinanderzusetzen und er gibt Möglichkeiten zur Selbstreflektion ebenso wie zur Standortbestimmung als diskursivem Feld, bietet aber auch Verwendungsmöglichkeiten für mediale Fragestellungen als Werkzeugkasten für die Geisteswissenschaften. Die bewährte inhaltlich hochstehende Qualität der Metzlerhandbücher wird auch hier weitergeführt; insgesamt 81 ausgewiesene Fachleute wurden für die einzelnen Artikel im vorliegenden Handbuch gewonnen.

Abgerundet durch ein Personenverzeichnis (Seite 559-571) läßt sich Schröters Sammelwerk als Handbuch vielfältig nutzen, für eigene Forschungen, als partielles Lesebuch, zum Kennenlernen neuer Theorien, zur Feststellung des Forschungsstandes, zur Definition von Begriffen und Theorien für wissenschaftliche Arbeiten, zur Anregung und Selbsthinterfragung, aber auch zur Analyse von Medienängsten, wie sie im oben genannten Falle des Tiroler Zeitgenossen angesprochen wurden. Dabei zeigt sich, daß die Wahrnehmung von Ängsten vor Medien bei jedem neuen Medium auftreten, also nichts Neues sind, wohl aber in neuen Formen auftreten. Auch das ist eine relativierende Erkenntnis, die sich nach der Lektüre des überaus beachtenswerten Handbuchs von Schröter ergibt. Bleibend sind nur die Ängste, lediglich die Projektionsflächen derselben wechseln im Laufe der Zeiten.

Diese Besprechung stammt von Claus Heinrich Bill (M.A., B.A.) und erscheint zugleich gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung. 

Annotationen: 

  • [1] = Tiroler Volksblatt (Bozen), Ausgabe vom 27. Januar 1912, Seite 9
  • [2] = Siehe dazu das Lemma „Schmutz und Schund“ bei Dieter Burdorf / Christoph Fasbender / Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, Stuttgart 3.Auflage 2007, Seite 693 sowie zeitgenössisch das Lemma „Schund und Schmutzliteratur“ bei Julia Dünner (Hg.): Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege, Berlin 1929, Seite 568-573.

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