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Interkulturalität und die Methoden der KulturanalyseAnnotationen zu einem neuen WissenschaftsmodellDie Frage der Interkulturalität trat über all dort auf, wo in der Geschichte der Menschheit verschiedene Kulturen aufeinander trafen und sich wechselseitig miteinander auseinandersetzten. Diese Begegnung fand zwar schon immer statt, hat aber durch die aktuell ablaufende Globalisierung im XX. und XXI. Jahrhundert erneute Aktualität gewonnen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Bücher erscheinen, die dieser neuen Aktualität Rechnung tragen. Diese Aktualität hat auch bereits Eingang in die geisteswissenschaftliche Forschung gefunden und ist gegenwärtig dabei, sich einen Platz in der Wissenschaftsgeschichte zu erobern, einen Platz der Bewußtheit, wie er in dem bisherigen Grad eher nur marginal erschien. Ein Beispiel dafür sind weniger die massenhaft aus den Reihen der Sozialarbeit erscheinenden Aufsätze und Ansätze zu interkultureller Zusammenarbeit in der Gegenwart multiethnischer Gesellschaften im Zeichen der Einwanderungs-, Auswanderungs-, Flüchtlings-, Gastarbeiter- und Asylproblematik, sondern vielmehr das historisch und philosophisch ausgerichtete Werk von Reinhard May namens "Humes Moralphilosophie unter chinesischem Einfluss" (Stuttgart 2012, 122 Seiten). Der Düsseldorfer Philosophieprofessor May, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Liedermacher, weist darin nach, daß David Humes Denken von konfuzianischem Einfluss geprägt war. May versteht sich selbst als Protagonist der "Einflußforschung" und hat auch bereits ein anderes ähnliches Werk namens „Ex oriente lux. Heideggers Werk unter ostasiatischem Einfluß“ (Stuttgart 1989) verfaßt. Mays Konstruktion läßt sich zwar nur auf Indizien stützen, da Hume keine Quellen hinterlassen hat, in denen er bewußt auf Konfuzius Bezug nimmt. Gleichwohl gilt: Diese Bücher dürften nicht zufällig in Zeiten zunehmender Globalisierung erscheinen. Darin wird das Positiv-Gemeinsame unterschiedlicher Kulturen unterstrichen und eine Abkehr vom abendländischen Ethnozentrismus und der These der unzusammenhängenden Entwicklung östlicher und westlicher Philosophie vollzogen. In einer Zeit der stärkenen öffentlichen Bewußtmachung (und -werdung) von internationalen Konflikten und Kriegen, die durch das Kommunikationszeitalter des XXI. Centenariums neue Dimensionen angenommen haben - Beispiel: Angriffe auf westliche Botschaften in den arabischen Ländern waren im September 2012 einem islamkritischen Youtubevideo "Innocence of Muslims" zuzurechnen - sind derartige Arbeiten im Sinne einer Konfrontationsmilderung und Versöhnung willkommen. Sie können im Bewußtsein der jetzt Lebenden dazu beitragen, sich gegenseitig kulturell zu schätzen und sind daher auch stets vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu betrachten. Insofern nimmt die aktuelle historische und philosophische Forschung auch für die Bildung von gemeinsamen Kulturidentitäten und -berührungen einen hohen und vor allem gegenwartsbedeutenden Stellenwert ein. Auch aus diesem Grunde sollen hier in einer Sammelrezension vier Werke besprochen werden, die sich mit dieser Thematik der vergleichenden oder komparatistischen Kulturberührungen befassen. Das Buch „Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung“ [1] wurde aus einer multiethnischen Sicht verfaßt, von einem gebürtigen Iraner und einer gebürtigen Deutschen, und diese Abkehr vom Eurozentrismus wird auch besonders seitens des Verlages hervorgehoben. Und tatsächlich: Exemplarische Erörterungen anhand von fiktiven "Tauschfamilien", die immer wieder betrachtet werden, gehen sowohl vom deutschen als auch vom iranischen Kulturraum aus und bringen jeweils Beispiele aus beiden Kulturen, die ohne weiteres auch von den rein nationalen Grenzen der genannten Räume auf ost-westliche Welten übertragen werden können. Dennoch mahnen die Verfassenden daran, daß der Begriff der "Kultur" nur schwer definiert werden kann (ebenso wie die Dichotomisierung "Ost-West"; siehe zu dieser Problematik der "Geographisierung des Denkens" die lesens- und bedenkenswerten Seiten 110-114). Die beiden Verfassenden - Ina Braun und Hamid Reza Yousefi - stellen nun vier Theorien über die Kulturdefinition auf, die sich hauptsächlich durch die These der Abgeschlossenheit oder die These der Veränderbarkeit von Kultur definieren. Dennoch ist eine Definition des Begriffes freilich, will man sich mit ihm wissenschaftlich befassen, unumgänglich. Entgegen älteren Theorien sehen die Verfassenden Kultur als einen Orientierungsrahmen einer Gemeinschaft an, der sowohl das Individuum beeinflußt als auch vom Individuum beeinflußt werden kann. Daher modifiziert sich Kultur stets in einem dynamischen Prozeß, der nie stillsteht, wenngleich er gewisse Kontinuitäten besitzt, die nur in Nuancen abgewandelt werden. Denn selbst dort, wo sich harte Brüche in den Kontinuitäten ergeben - gedacht sei exemplarisch an Revolutionen - bleiben Reste alter Kultur "übrig" und gehen erst allmählich in der "neuen Kultur" auf: Die Renazifizierung der Justiz und der Bundesministerien der noch jungen BRD ab 1949 durch schleichende Unterwanderung mit altgedienten Nationalsozialisten ist dafür ebenso ein Beispiel wie die "alten Seilschaften der SED" im wiedervereinigten Deutschland ab 1990 oder die Beibehaltung vieler monarchietreuer Beamter in der 1919 begründeten Weimarer Republik. Einzig dort, wo Gewalt angewendet wurde, sind harte Kulturbrüche möglich: Die Entfernung mißliebiger Dissidenten aus dem Staatsdienst vollzog das Dritte Reich mit dem Berufsbeamtengesetz von 1933. Wenn sich auch diese Beispiele hier stets auf den intranationalen Rahmen bezogen, so ist Kultur als Multisystem verschiedener Kultureinflüsse viel weiter gefaßt. Immer aber begegnen sich zwei verschiedene Kulturen und daher auch zwei verschiedene Perspektiven. Interkulturalität anerkennt die Differenz zwischen Kulturen, versucht sich aber um ein gegenseitiges Verständnis zu bemühen. Diese Differenz ist entweder räumlich oder zeitlich verortet: Die Begegnung räumlich getrennter Kulturen kann z.B. die zwischen der chinesischen und der niederländischen Kultur sein (aber auch die zwischen Hartz-IV-Familien und wohlhabenden Haus- und Grundbesitzern), die der Begegnung zeitlich getrennter Kulturen kann durch den Austausch zwischen Generationen stattfinden oder mit der Beschäftigung der Historiker mit der Vergangenheit. Obgleich Interkulturalität von sich aus in der Regel als vereinend und verständnisfördernd betrachtet wird, kann sie gelegentlich auch bewußt negativ angelegt sein: Fernsehsendungen wie "Britt - Der Talk um Eins" (Sat-1), "Die strengsten Eltern der Welt" (Kabel-1) oder "Frauentausch" (RTL-2) spielen mit der provozierten Gegensätzlichkeit von verschiedenen internationalen oder intranationalen Kulturen. Das vorliegend besprochene Buch von Braun und Yousefi will auf derlei Konstruktionen aufmerksam machen, die zwar teils menschlich sind (Vorurteile sind notwendig, um unbekannte Phänomene, die uns begegnen, rasch einzuordnen; so läßt sich eine gefährliche Situation sofort mit Flucht beantworten, ohne die Situation lange analysieren zu müssen), aber abgelegt werden können. An vielfachen Beispielen führen die beiden Verfassenden die Lesenden in eine neue Perspektive ein, so am Exempel des Mount Everest, der in der nepalesischen Sprache Sagarmatha ("Stirn des Himmels") genannt wird. Diese zweite Bezeichnung (eigentlich die erste, da heimatliche Bezeichnung!) ist Europäern meist unvertraut, da sie den eurozentrischen Namen nach dem britischen Vermesser bevorzugen, auch wenn anfänglich der deutsche Name des Berges "Gaurisankar" lautete. Die Einklammerung bei den Namen in dieser Rezension zeigt bereits das Minenfeld eurozentrischer Perspektive und der zumeist bisher unreflektierten Bezeichnung "zweite Bezeichnung". Sich davon ein Stück weit zu lösen und dies mit wissenschaftlichen Begriffen und Kategorien zu bewerkstelligen, ist Anliegen des genannten Buches. Jedoch geht es nicht um die Herstellung einer Transkulturalität, also die Annahme einer übergeordneten Kultur aller Kulturen und ebenso nicht um Multikulturalität, daß heißt die Schaffung einer Mischkultur, sondern um respektvolle Begegnung der Kulturen nach dem Motto "Warum ist das bei euch so?" und nicht "Das ist aber gefährlich!". Interkulturalität ist daher - einmal evolutionistisch besehen - sozusagen die Weiterentwicklung der Multikulturalität. Daß diese Perspektive manchmal schwierig einzunehmen ist, da sie häufig natürlichermaßen über lange Zeiträume sozialisiert wurde, ist nicht abzustreiten. Doch den Versuch zu unternehmen, einer unterschwellig enthaltenen Aufforderung des Buches zu folgen, eine interkulturelle Ethik zu entwickeln, ist lobenswert. An dieser Stelle sei im Übrigen noch auf die Genesis der Interkulturalität hingewiesen, die im Buch nicht behandelt wird: Interkulturalität entsteht überall dort, wo das Eigene vor dem Anderen (die Verfassenden schlagen diesen Begriff vor anstatt "das Fremde") sichtbar wird. Unbewußte Traditionen, die nur deswegen vom Individuum gelebt werden, weil sie sozialisierte Routinen sind, werden in dem Moment hinterfragt, in dem sie mit einer anderen Verfahrensweise konfrontiert werden. Interkulturalität ist daher zunächst immer einmal in ihrem Beginn eine Krise des Selbst und der eigenen Ich- wie Wir-Identität. Die Begegnung ist ein Infragestellen eigener Positionen. Allerdings ist diese Form der Infragestellung alltäglich: Laufend begegnen Menschen anderen Menschen, die anders denken und anders handeln als sie selbst, weil deren Agenda-Setting in der weltanschaulichen Ebene anders gestaltet ist: Die christizistische und daher religiöse Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten verehren die Schriftstellerin Ellen White (1827-1915) als ihre Prophetin, durch die sie sich als von ihrer Gottheit (sie nennen sie "Gott") berufen fühlen, um der übrigen Menschheit den von ihnen als Segen verstandenen Einrichtung des Siebenten-Tags-Adventismus nahe zu bringen. [2] Dieses Phänomen wird von anderen christizistischen Gemeinschaften jedoch nicht geteilt, die diese Bindung an jene Schriftstellerin gar für überflüssig halten, vielmehr entweder nur die Bibel (Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden) oder aber das Buch Mormon (wie im Falle der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage) oder andere Schriften für wichtig erachten, weil deren Gottheit (sie nennen sie ebenfalls "Gott") Ellen White nicht kennen will oder nicht kennt. Auch hier gilt: Jeder Kontakt zu anderen Kulturen stellt das eigene Weltbild in Frage. Christizistische Gemeinschaften gehen damit unterschiedlich um: Einige sind in Grenzen ökumenisch veranlagt und betonen das Gemeinsame (wie die Evangelische Allianz), andere wiederum lehnen jede Ökumene ab (wie die Eckankaristen), um keine Irritationen im eigenen Weltbild zu verursachen, dessen Festgefügtheit erhalten bleiben soll. Alle anderen Weltbilder werden gar über das Mittel der inhaltlichen Intoleranz verteufelt: Schuld an anderen Weltbildern sei der Satan. [3] Schon diese Beispiele zeigen: In anderen Kulturen werden Bedrohungen gesehen, die aber bei einer anderen Grundeinstellung auch als Bereicherung dienen können. So versteht sich "Die Evangelische Allianz in Deutschland" als ein Zusammenschluß von Sola-Scriptura-Gemeinden unterschiedlicher organisatorischer Anlage: "In ihr pflegen Christen - über ihre Zugehörigkeit zur eigenen Gemeinde hinaus - Gemeinschaft mit anderen Christen aus anderen Denominationen. Dies ist möglich, soweit solche Kirchengemeinschaften nicht für sich und ihre Erkenntnisse die Ausschließlichkeit beanspruchen und auch nicht durch Überbetonung einzelner biblischer Erkenntnisse dem neutestamentlichen Gesamtzeugnis widersprechen bzw. durch ungeistliches Konkurrenzstreben die geistliche Gemeinschaft gefährden." [4] Erst aber über die nicht vorgefertigte angstvolle Nichtablehnung des Anderen (die Auseinandersetzung bedeutet) kann sich Interkulturalität entwickeln, die von der Evangelischen Allianz ebenso wie von den Siebenten-Tags-Advenstisten oder den Mormonen abgelehnt werden. Ihre Sicherheit beruft sich auf die Unfehlbarkeit ihrer Lehren, die insofern eine evolutionäre Entwicklung nicht zulassen. Diese Haltung ist allerdings legitim und vor allem für Individuen interessant, die ein festes Orientierung- und Leitsystem benötigen, um ihrem Leben einen übergeordneten Sinn zu verleihen und Leitlinien bestimmten zu können. Dasselbe gilt beispielsweise auch für bestimmte Lebensabschnitte von Friedrich v.Schiller, der in der Weimarer Klassik die Antike als Vorbild eigener Unzufriedenheit mit seiner eigenen Zeit idealisierte. Interkulturlaität aber entsteht erst dann, wenn diese Grenzen überschritten werden, ohne dabei aber zwangsläufig seine eigenen Grenzen verlassen zu müssen. Insofern ist Interkulturalität, wie sie hier angesprochen wird, eine wissenschaftliche Aufforderung zum Verständnis und nicht zur aktiven lebensweltlichen Verschmelzung und Amalgamierung von einander zunächst fremden Kulturen. Der Vorteil des Buches liegt zweifellos in der Neutralität und der Definitionsstärke seiner Ausführungen. Es werden Definitionen der vierfachen Sicht von Kultur (Seite 12-23), von Interkulturalität (Seite 27-39), Multikulturalität (Seite 105-107), Transkulturalität (Seite 107-109), acht Teilgebiete der Interkulturalität (Seite 32), zwölf Methoden der Interkulturalitätsforschung (Seite 38), verschiedene Toleranz- und Intoleranzarten (Seite 74-84), Inhalte interkutureller Ethik (Seite 85-92), sechs interkulturelle Korrelatbegriffe (Seite 42-92) sowie die Herausforderung der Stereotypisierung (Seite 95-98) beschrieben und klassifiziert. Zahlreiche Grafiken ergänzen wirkungsvoll das Geschriebene, welches durch verschiedene Schriftformate, Marginalien und Übungsaufgaben sehr ansprechend gestaltet ist. Etwas verwirrend ist anfänglich das gewöhnungsbedürftige Design der gerasterten und ungerasterten Linien bei den Grafiken, die jeweils als rund- oder ovalförmige Umrandungen von Bestandteilen verwendet werden. Am Beginn wird auf Seite 9 in der Einleitung seitens der Verfassenden nur erklärt, daß es sich bei gerasterten Linien um Pluralitätsinhalte handeln würde, während die Bereiche ungerasterter Linien Abgrenzungsinhalte bezeichnen würden. In der folgenden Praxis jedoch verwenden die Verfassenden viele verschiedene Arten von ungerasterten Linien (gestrichelt, doppelt gestrichelt, punktgestrichelt et cetera), bei denen die Rasterung eher willkürlich erscheint und keinem Sinn zu folgen scheint. Die unterschiedliche Stärke der Umrandungen und die unterschiedliche grafische Hervorhebung impliziert so etwas wie eine Wertigkeit, die jedoch real gar nicht gegeben (und vermutlich von den Verfassenden auch nicht beabsichtigt) ist. Denn weshalb beispielsweise die analytische Interkulturalität in der Grafik „Methodische Ausrichtung“ (Seite 38) mit einer ungerasterten und alle anderen acht Teilbereiche der Interkulturalität mit gerasterten Linien versehen ist, ist nicht leicht erklärlich. Die Methoden der Analyse, also der gedanklichen Erfassung eines Phänomens und der Untergliederung in seine Bestandteile, kann sehr wohl auch von einem Methodenpluralismus beseelt sein. Insgesamt besehen aber handelt es sich bei dem Werk um eine erfrischenden Beitrag zur Etablierung der Interkulturalität als Wissenschaftsdisziplin, die für alle Geisteswissenschaftler von Interesse ist und dazu beitragen kann, eine globalisierte Sicht auf die Erscheinungsformen menschlichen Lebens und Zusammenlebens über Kulturgrenzen hinaus zu schaffen. Sie kann nicht zuletzt helfen, Verständnisprozesse zu befördern, die in einer Welt großer Kulturbegegnungsdichte immer wichtiger werden. Das zweite Buch "Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft" [5] knüpft an die zuvor besprochene interdisziplinäre Interkulturalitseinführung an und bezieht sich auf eine inhaltliche und methodische Erweiterung der Literaturwissenschaften. Dabei tritt sie über die bisherigen Methoden und Ansichten der Slavsitik, Romanistik, Germanistik, Afrikanistik, Iranistik, Amerikanistik et cetera hinaus und befaßt sich mit der Analyse und Untersuchung solcher Werke, in denen interkulturelle Inhalte vorkommen. Ebenso wie das vorherige Buch ist auch dieses Werk 2011 erschienen, hat jedoch das erstgenannte Werk nicht berücksichtigt. Insofern wird in dem vorher rezensierten Buch der Begriff "Fremdheit" abgelehnt, hier aber wird er laufend ohne Hemmungen benutzt (Seite 13, 33, 46-85, 120-127), weil, so die slowenische Verfasserin Andrea Leskovec aus Ljubljana (Laibach), "das Fremde" entgegen "dem Anderen" nicht so sehr auf soziale Exklusion bedacht sei (Seite 47). Leskovec´s Credo ist indes zur Hauptsache die Dekonstruktion kolonialer Prämissen in der Literaturwissenschaft und sie lehnt sich hier an Edward Said (Orientalismus, 1981) und Homi Bhabha (Die Verortung der Kultur, 2000) an. Sie möchte speziell das interkulturelle Potenzial von Literatur erforschen, herausstellen und analysieren. Darunter versteht sie die Feststellung der Dimensionen von Fremdheit und ihrer Wirkungsgrade, die textliche Inszenierung von Fremdheit in der Literatur und die Mittel der Darstellung ihrer ordnungsstörenden und auflösenden Momente (Seite 114-132). Die Verfassende referiert außerdem über Voraussetzungen (Seite 16-21), Ziele und Methoden. Ihre Ziele bewegen sich dabei im Rahmen verschiedener Bereiche (gesellschaftspolitisch, literaturwissenschaftlich, literaturdidaktisch), nehmen aber alle Bezug auf den Erwerb von interkultureller und sogar sozialer Kompetenz. Sicherlich gilt: Auch soziale Kompetenz wird man vermutlich über die Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen zur Literatur erlangen, aber hat dieses Ziel etwas zu suchen in einer Einführung für Student*Innen? Diese erlernen in ihrem Studium allerdings auch und vor allem auf ganz anderen Wegen (gemeinsame Referate halten, Gruppenarbeiten und -projekte) die genannte Fähigkeit oder sie trainieren sie zumindest. Freilich: Zum vermehrten Prestige ist es stets ratsam für den pionierhaften Vertreter einer neuen Wissenschaftsrichtung, zu behaupten, die eigene Disziplin (und sei sie auch interdisziplinär angelegt) würde "Weltbedeutung" besitzen. Nötig ist dies freilich nicht: Die interkulturelle Literaturwissenschaft besitzt zweifelsfrei auch ohne diesen gesellschaftspolitisch konstruierten Impetus ihren ganz eigenen und unverwechselbaren Wert. Glücklicherweise wendet sich die Verfasserin daher auch bald wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. In den Methoden stellt die Arbeit eine wohlwollend und beabsichtigte Offenheit fest, die den jeweiligen Kanon der Untersuchungs- und Herangehensweisen variabel hält: Sie stellt Kultursemiotik, kulturelle Codices, Kulturanthropologie, kulturpraktische Themenbearbeitung (Toleranz, Nahrungsaufnahme, Höflichkeit et cetera), Diskursanalyse, Kultursoziologie, die Bewegung des New Historicism, die Rezeptionsästhetik, den Poststrukturalismus und die interkulturelle Hermeneutik vor. Erstaunlich ist es, daß literaturpsychologische Methoden gänzlich außen vor bleiben und auch die neusten Erkenntnisse der Migrationspsychologie ebenso wie der Psychologie interkulturellen Handelns, die sich immerhin stark und ganz explizit mit Interkulturalität befassen, gar nicht beachtet werden. Insofern ist das Buch eine Ansammlung von Vorschlägen zur Bearbeitung, aber kein annähernd vollständiges Kompendium zum Thema. Doch hätte man in einer studentischen Einführung einen Hinweis auf die soziale Literaturpsychologie gern gesehen. [6] Gleichwohl: Die Verfasserin stellt sodann verschiedene Formen von Fremdheit vor (Seite 46-55), geht detailreich auf die Definition des Begriffes ein (Seite 46-47) und stellt dessen hohe praktische Bedeutung im menschlichen Leben dar (Seite 55-60). "Fremdheit" kann demnach sehr unterschiedlich wahrgenommen, konstruiert und damit auch untersucht werden: Sowohl als klassische Fremdheit einer anderen, räumlichen weit entfernten Kultur, aber auch als Fremdheit in unterschiedlichen Klassen und sozialen Schichten in einem Lebensraum, andererseits aber als Fremdheit des Menschen den Vögeln gegenüber (die als Symbol zugleich Heimat und Freiheit anzeigen) oder auch die seltsame Mischung aus Distanz und Nähe im pathologischen Voyeurismus. So ungleich die vorerwähnten Exempel auch erscheinen mögen: Sie alle befassen sich mit der Gegenwart des Anderssein, das über einem dem Fremden per se innewohnenden appellativen Charakter gewohnte Orientierungen in Frage stellt (zu dieser Appellfunktion im Fremden siehe Seite 64). Auch Literatur kann für den Leser etwas derartig Fremdes sein. In Wirkungsgraden unterscheidet Leskovec in ihrem Werk nun drei Bereiche von Fremdheit (Seite 51-53):
"Blasig: Ich weiß selbst nicht, was ich will. Mich plagt nur die Langweile. War immer an Arbeit gewöhnt, die geht mir ab. Meinen Dienst das Haus zu hüthen kann jeder Hund eben so gut und besser versehen. Ich bin unnütz und müßig und lasse mich doch füttern und stecke den Lohn ein. Franz: Du quälst Dich mit Einbildungen, lieber Blasig. Mein Bruder bedarf verläßlicher Leute wie Du bist, die über sein Eigenthum wachen. Blasig: Alles ringsum ist so arbeitsam und fleißig in den Bergwerken und Schmelzhütten und bringt ihrem Bruder Gewinn. Ich bin eine Last. Zu alt werden ist eine Plage. Franz: Du hast lange gearbeitet und der Wirtschaft genützt, jetzt gehört Dir Ruhe. Blasig: Und dann bin ich verdrießlich über Dinge - es ist eine Sünde, daß man nur daran denkt, aber ich kann nicht anders. Franz: Nun was ist´s denn? Man soll gar nicht davon reden, Sie werden bös sein, und mich für einen neidischen mißgünstigen Menschen halten. Ich bin´s aber gewiß nicht. Weiß Gott, ich gönne ihrem Herren Bruder den Reichthum und freue mich von Herzen über sein Glück. Und doch ärgert mich, wenn ich alle diese Gebäude und Werke sehe. Ist das nicht kindisch, ja sündhaft? Franz: Ich glaube dich zu verstehen, lieber Blasig. Du findest dich in diesem geräuschvollen Treiben, in dieser rastlosen fast stürmischen Thätigkeit nicht zu recht. Du warst an das Stillleben des väterlichen Hauses gewohnt. Seit jener Zeit veränderte sich freilich vieles. Blasig: Ja es ist vieles hier anders geworden. - Will´s Gott auch besser. Ich verstehe es nicht. Was mit mir jung war, liegt im Grabe, oft wünsche ich auch dort zu liegen. Tauge nicht mehr hie[r]her. Franz: Als ich vor drei Tagen nach so langer Fernreise in die Heimat zurückgekehrt und dort von der Höhe in das Thal herabschaute, da that auch mir das Herz weh. - Während der ganzen Reise dachte ich mit Sehnsucht und Lust an den Augenblick, wo das heimatliche Thal zu meinen Füßen sich öffnen werde; dachte die Nachbarn bei der Feldarbeit zu treffen und zu grüßen, freute mich den Acker zu sehen, wo mein Vater pflügte, die Plätze, wo ich als Knabe spielte, und das braune hölzerne Vaterhaus mit den kleinen Fenstern im Schatten der Kirschbäume. Ich glaubte mich verirrt zu haben, das könnte nicht das Thal meiner Heimat sein, nein, das konnte es nicht sein. Dort die schwarzen Kohlenmeiler und rußigen Hütten, wo unsere Weide lag, hier die Schmieden und Hammerwerke, wo die besten Felder sich hinzogen, statt der freundlichen Erlenau am Bache dampfende Schmelzen und tosende Pocher und ein blankes Steingebäude mit hohen Fenstern, wo das liebe bescheidene Vaterhaus stand. Ich konnte mich des Weinens nicht erwähren, und es fehlte wenig, ich wäre wieder umgekehrt. Blasig: Ja Franz, ja das ist´s, was mich verdrießlich macht. Du hast die Heimat nicht mehr erkannt. Ich bin da geblieben und finde sie nicht mehr. Sie ist mir fremd geworden." [7] Blasigs Fremdheit ist hier vierfacher Art und zu einer Persönlichkeitskrise ausgewachsen. Es ist erstens eine Fremdheit zwischen ihm und Franz, die sich dadurch ausdrückt, daß sich Blasig bei der Unterhaltung mit seinem alten Schüler einige Meter entfernt von ihm hinsetzt. Diese von Blasig selbst konstruierte Fremdheit wird noch unterstrichen durch die Kleidung der beiden Protagonisten (hier ländlich, dort urban), welche eine zweite Fremdheit darstellt. Die dritte Fremdheit ist die zwischen Blasig und seiner sich verändernden Heimat, die nicht nur äußerlicher, sondern auch innerlicher Art ist: Neben dem Habitus und der Gestalt des Landstriches, die einst von "lebendig-warmem" Leben durchflutet war, jetzt aber von "kapitalistisch-kaltem" Denken durchfurcht ist, ist es auch das veränderte Klangbild pochender Eisenhämmer und damit einhergehend eine Maschinisierung und Technisierung der Zeit, die, früher als beschaulich empfunden wurde, heute aber als Diktat des Funktionierens und der menschlich gebundenen Produktion von Gütern erscheint. Es ist wieder dasselbe Moment, welches Friedrich v.Schiller anführt, wenn er von einem Auseinanderdriften von Natur und Kultur spricht, die nur über die (antikisierende) Dichtkunst zu überwinden sei. Dies alles und auch der Ruhestand, die Beraubung seiner Lebensaufgabe, bringt Blasig in eine Krise, die sich letztlich in der Entfremdung von sich selbst niederschlägt: Blasig ist orientierungslos und fühlt sich als Opfer einer neuen Ära und einer neuen Zeit, die mechanistisch und rücksichtslos über ihn hinweg zu schreiten scheint: Blasigs Empfindungen sind Symbol für die Irritierung des vormodernen Menschen durch die europäische Moderne. Er empfindet Fremdheit in seiner schärften Form, nicht als "alltägliche Fremdheit", sondern als "strukturelle Fremdheit" im Kontakt und Vergleich mit Franz, vor allem aber als "radikale Fremdheit", die sein ganzes bisheriges Weltbild in Frage stellt und an der er als menschlicher Kollateralschaden der Industrialisierung zugrunde geht. In interkulturellem Kontext gesprochen: Blasigs Lebenskultur differiert von der des Franz durch das Lebensalter, den Lebensraum und die Lebensära, auch wenn beide Figuren ein und derselben Kultur entstammen, in der sie noch vor einem Dutzend Jahren gemeinsam standen. Ähnliche Beispiele bringt auch Leskovec, allerdings fast durchgehend aus der Literatur, die im letzten Jahrzehnt des XX. und im ersten Jahrzehnt des XXI. Jahrhunderts erschienen ist. Dies macht den Band jedoch sehr anschaulich, der überhaupt dazu beitragen kann, sinnvoll für das Phänomen der Interkulturalität in der Literatur als dem Spiegel menschlicher Handlungsoptionsfelder zu sensibilisieren und alte Quellen mit neuer Perspektive zu analysieren. Das dritte Werk, welches hier besprochen werden soll, heißt "Interkulturelle Kompetenz" und stammt von dem Weiterbildungsakademiker Dietrich v.Queis. [8] Es richtet sich vor allem an inländische Dozenten von Fachhochschulen und Universitäten, um dem stark angewachsenen Corps internationaler Studierender in Deutschland gerecht werden zu können. Dabei stehen die Diskrepanzen zwischen der internationalen und deutschen Studienkultur im Vordergrund, welche Queis in den Kapiteln 1 und 2 abhandelt, wobei viel statistisches Material verwendet wird, aber auch Befragungsergebnisse unter internationalen Studierenden in Deutschland wiedergegeben werden (Seite 7-30). Das Werk ist daher namentlich aktuell ausgerichtet und auf die Praxis der alltäglich sich ereignenden Mißverständnisse zwischen Kulturen bezogen, die sich aus dem Miteinander von Studierenden untereinander und Universitätsangehörigen und Studierenden ergeben können und bereits ergeben haben. Trotzdem können mit Gewinn die interkulturellen Inhalte auch für die kulturwissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht werden. Diese Nutzbarmachung beginnt mit dem Kapitel „Orientierung in fremden Kulturen“ (Seite 31-34). Hier bietet Queis Definitionen an für die Begrifflichkeiten „Kultur“ (Seite 31-32), “Interkulturelle Kompetenz“ (Seite 32-33) sowie „Kulturstandard“ (Seite 33-34). Dann stellt Queis fest, daß es mehrere Kategorien geben würde, die jede Kultur ausmachen würden. Mit anderen Worten: Anhand von verschiedenen Kategorien lassen sich Spezifika von Kulturen erfassen und bestimmen. Diese Kategorien lassen sich, nach Ansicht des Rezensenten und um ein einheitliches Messfeld zu erhalten, als verschiedene „Felder von Axiomen“ benennen. Zunächst ist dabei festzustellen, daß jede Kultur ihre Eigenheiten besitzt und sich durch sie von anderen abgrenzt. Dem Betrachter einer fremden Kultur mag zwar das Gefühl beschleichen, nur die andere Kultur sei anders und daher fremd. Doch ist aus dieser ethnozentrischen Betrachtung heraus die Welt nicht zu erklären: Denn auch die eigene Kultur ist „dem Anderen“ fremd. Eigenheiten von Kulturen sind daher jeweils und in jedem Falle konstruiert und relativ. Sie werden von jeder Kultur ausgehandelt und unterliegen thematisch einem langsam wechselnden Agenda-Setting, zeitlichen und anderen Einflüssen, verändern sich ständig, wenn auch mit wenig Dynamik: Kulturmodifikationen sind langfristiger Art (in Form einer "longue durée"), aber sie sind grundsätzlich modifikativ (man denke nur an den Wandel der Bademode von 1900 bis 2000 oder der anhaltenden Transformation der Kommunikationstechnik, z.B. aktuell den Rückgäng der Beliebtheit großer Arbeitsplatzrechner und das Vordringen von Tablet-PC´s). Hinzu kommt ein anderes Moment von Kultur: Ihre spezifischen Eigenheiten und Positionierungen müssen in der Eigenkultur nicht begründet werden, sie müssen nicht einmal logisch sein. Man handelt in einer Kultur auf diese und jene Weise, weil diese und jene Weise allgemein anerkannt ist und nicht, weil man die beste oder pragmatischste Lösung unter vielen Handlungsoptionen ausgewählt hätte. Sich kulturkonform zu verhalten ist daher auch eine Anerkennung des Allgemeinverhaltens und Voraussetzung dafür, im System einer Kultur reüssieren zu können: Die Subkultur der Punks hat mit ihrem äußerlichen Habitus Schwierigkeiten, sich in das System der bundesdeutschen Kultur zu integrieren. Zwar gehören sie mehreren übergeordneten Subkulturen (z.b. "den Deutschen", "den Schüler*Innen", "den Jugendlichen", "den Männern", "den Frauen" et cetera) an, doch ermöglicht ihnen diese kulturelle Zugehörigkeit nicht automatisch den Zugang zu anderen Subkulturen. Im Gegenteil behindert die Zugehörigkeit zur Gruppe der Punks die Aufnahme in Subkulturen wie "Bankenwelt" oder "Geschäftswelt". Doch abseits der Frage nach der bewußten oder verweigerten Kulturkonformität kann gesagt werden, daß jede Kultur (und Subkultur) eigene Axiome besitzt: Selbstverständlichkeiten, über die nicht geredet werden muß, da sie von nahezu allen Mitgliedern einer Kultur stillschweigend getragen werden oder zumindest von einer tonangebenden Mehrheit vorgegeben werden, der sich Minderheiten mehr oder minder unbewußt beugen. Damit unterliegen Kulturen einer relativen Realität und einer subjektiven Wahrheit; ihre Kulturspezifika lassen sich daher kurzerhand, wie erwähnt, auch als Axiom bezeichnen. Bei Queis sind diese Axiome in sieben Kategorien aufgeteilt:
"Die Wiedervereinigung Deutschlands ist unerwünscht. Der Mehrzahl der Flüchtlinge geht es heute besser als vor ihrer Vertreibung. Die totale Abrüstung der Bundesrepublik und die definitive Abschreibung der Gebiete jenseits der Oder-Neisse-Linie sind der einzige Weg zum Frieden. Juden haben gewisse typische negative Eigenschaften." [9] Nach Trennung dieser etwas künstlich anmutenden Queis´schen Verbindung können demnach acht Axiome festgestellt werden, die in jeder Kultur vorhanden sind und nach denen sich eine Kultur bestimmen läßt. Und diese Bestimmungsfähigkeit ist wichtig, wenn man interkulturelle Studien betreibt: Sie sind die Essenz einer sonst nur schwer faßbaren Definition einer Kultur. Queis betrachtet die einzelnen Axiome sodann in ihren extremen Positionen, was den Kern seiner Kulturdefinition ausmacht: a) Dimension Zeitverständnis = Monochronie vs. Polychronie In monochronen Kulturen sei, so Queis Planbarkeit, Pünktlichkeit, Programmatik, Systematik und Pünktlichkeit wichtig. In polychronen Kulturen seien dahingegen Flexibilität, Improvisationskunst sowie menschliche Kontakte, wichtig, während Pünktlichkeit relativ wäre. Monochrone Kulturen sind beispielsweise der westeuropäische Raum, polychrone Kulturen befinden sich u.a. im arabischen Raum. Daraus wird erklärlich, weshalb sich Deutsche z.B. im Vorderen Orient über "Unpünktlichkeit" beschweren, die aber in einer polychronen Kultur, wie sie dort eben einmal herrscht, durchaus üblich ist (es handelt sich um das Phänomen der "sozialen Zeit", die auch die Ethnologie kennt). Die Queis´sche Definition als polychron und monochron muß als gelungen bezeichnet werden, wenn auch erklärungsbedürftig: Monochronie zeichnet sich dadurch aus, daß Zeit als knapp und endlich betrachtet wird, Polychronie geht dahingegen davon aus, daß Zeit erneuerbar und unendlich sei (Seite 34-35). Diese Dimension soll indes hier in der Rezension an einem praktischen historischen Beispiel aus dem Jahre 1804 erläutert werden, welches eine interkulturelle Dimension der Vergangenheit innerhalb ein und desselben Kulturkreises thematisiert. Hierbei warnt das heranzuziehende Exempel vor den negativen Folgen einer allzu polychronen Einstellung. Im Beispiel, das einer lebensratgebenden Publikation des sächsischen Arztes Cristian August Struve entnommen wurde, wird dies anhand des auch und besonders im XXI. Jahrhundert gegenwärtigen negativen Stresses als Überschätzung menschlicher Fähigkeiten zum Multitasking thematisiert. Es ist dabei als doppelt interkulturell zu verstehen, denn es gilt: Die beiden Kulturen unterscheiden sich sowohl innerlich als thematische Gegensatzpaare als auch nach den jeweiligen zeitlichen Epochen besehen. Trotz dieser beiden antagonistischen Stellungen, die vordergründig unvereinbar erscheinen, ist an einer gewissen Aktualität des Gesagten nicht zu zweifeln: "Fruchtbare Thätigkeit setzt eine verständige, aber doch eifrige Betreibung der Geschäfte, den Kräften und Verhältnissen gemäß, voraus, gegründet auf Kenntniß des Gegenstandes, mit den wir uns beschäftigen; nicht mehr zu übernehmen, als dem wir gewachsen sind, nicht mehr zu thun, als man mit Ehren thun kann; und das was man thut, dem Zwecke entsprechend ausführen. Nicht ein rastloses Arbeiten in den Tag hinein; sondern ein fortdauerndes, standhaftes Ausharren ist ein Erforderniß des nützlichen und vielen Würkens. Dieses jämmerliche Spannen und Gespanntwerden, Umhertreiben in einem Wirrwarr von Geschäften ist ein Steinwelzen des Sysiphus, wobei Leben und Freude zu Grunde geht, wo alle heiteren Augenblicke erstickt werden, und wobei endlich nichts gethan wird, weil zu viel gethan werden soll. Dieses ist Arbeiten ohne bestimmten Zweck, diese Betriebsamkeit, mehr die Dinge als die Welt zu besichtigen, als sie zu erforschen und anzuwenden, mehr auf Glanz und Verschönerung als auf wahre Glückseligkeit gerichtet. Hin ist die Seelenruhe, hin die stille Genügsamkeit, und das herzerhebende Gefühl, ein Mensch zu seyn. Kaiser Hadrian that viel, aber ohne Zweck; unternahm viel, vollendete wenig, stets im Wirrwarr der Geschäfte, ohne zu sich selbst zu kommen; planlos arbeitend, nahm er sich nicht die Mühe, das Gute, was er stiftete, zu befestigen; stets war er auf Reisen in seinen Provinzen, suchte Missbräuche abzuschaffen, Vorurtheile zu bekämpfen, voll Ruhmbegierde und stolzer Anmaßung der Eitelkeit, wollte er zuviel ... Eine solche zwecklose Thätigkeit oder Vielgeschäftigkeit gehört zu den Fehlern unser[e]s Zeitalters. Die Sucht nach Glanz und das tägliche Bedürfniß der Noth treiben manche Pflanze hervor, die am Mittag welkt. Die besten Köpfe werden unter dem Planen zu einem thätigen Leben, selbst beim bloßen Willen abgestumpft, ehe sie zum Handeln selbst kommen; oder werden in einem Labyrinthe kleinlicher Arbeiten herumgetrieben, wobei die Kraft, welche wahre Menschenwerke zur Ehre des Geistes ausführen könnte, verlohren geht. Dahin gehören die tändelnde Beschäftigung der Fantasie, statt ernster berufsmäßiger Anwendung des Verstandes; die unglückliche Lesewuth und Schreibewuth ohne Selbstdenken. Eine fieberhafte Anspannung, die lauter Traumwerke, oder Geschöpfe zwischen Schlafen und Wachen erzeugt ... Aber selbst unter dem Drange der Umstände, welcher durch verschiedene Ursachen in unser[e]n Zeiten obwaltet, ist es doch die gemäßigte Thätigkeit, die zuweilen von einer wohlthätigen Trägheit unterbrochen wird, wobei sich Geist und Leib wohlbefindet. Bei allzuvieler Thätigkeit wird leicht vieles unternommen, ohne daß man sich Zeit nimmt, die Sache von allen Seiten zu prüfen. Eine Menge Projecte und angebliche Verbesserungen werden aus bloßer Liebe zur Thätigkeit ins Werk gesetzt, und mehr Schaden als Nutzen gestiftet. Es ist für uns gut, wenn unsere Tätigkeit auf gewisse Berufsgeschäfte eingewiesen ist; dadurch wird das umherschweifende Thun, der geschäftige Müßiggang verhütet, unser[e]m Bestreben ein gewisses Ziel gesetzt. Die Berufstreue giebt eine Beruhigung, die man um so eher erlangt, je kleiner der uns bestimmte Geschäftskreis ist; man lernt seinen Thätigkeitstrieb in einer gewissen Richtung erhalten, und seine Arbeiten ordnen; und freut sich des Nutzens, den man mehr vor Augen sieht." [10] b) Dimension Kommunikationsart = High-context vs. Low-context Hochkontextualisierte Kommunikation stellt die Wichtigkeit des Zusammenhangs einer Sache heraus, bevorzugt indirekte Ausdrucksweise, schätzt Nonverbalität und Gesichtswahrung und ist beziehungsorientiert; dies gilt z.B. für China und Japan in besonderem Maße. Niedrigkontextualisierte Kommunikation bevorzugt eine direkte Ausdrucksweise, Wortwichtigkeit, die Unwichtigkeit von Nonverbalem und Kontextdenken, offene Diskursivität und ist sachorientiert (Seite 35-36); dies gilt nach Queis z.B. für die USA und Deutschland. c) Dimension Individualismusdenken = Wir-Kultur vs. Ich-Kultur Wir-Kulturen sind familien- und gruppenorientierter: Das Individuum unterwirft sich der Gruppe, ist loyales Gefolgschaftsmitglied und die eigene Meinung orientiert sich an der Bezugsgruppe, das Privatleben des Individuums ist weniger wichtig. Harmonie, Konsens und Anpassung gelten als Werte (Beispiel: Türkei, Armenien, Christizismus). Ich-Kulturen sind dahingegen egozentrisch orientiert: Das Individuum versteht sich als eigenständig und selbstverantwortlich, die eigene Meinung wird unabhängig gebildet, das Privatleben des Individuums sei für Andere tabu und autonom bestimmt (Seite 37-38). Echtheit, Authentizität und Selbstverwirklichung seien nach Queis wichtig (Beispiel: Deutschland, Subkultur des Satanismus). d) Dimension Regelhaftigkeit = High-Regulation vs. Low-Regulation Hochregulierte Kulturen richten ihr Leben nach Ordnungen, Prinzipien, Gesetzen, Strukturen und Regeln aus, sind Literarkulturen, besitzen langfristige Berufs- und Lebensplanungen, überdenken Entscheidungen gründlich, dort gilt zudem Unsicherheit als Bedrohung. Geringregulierte Kulturen richten ihr Leben nach Flexibilität, Anpassung, Improvisation und Spontanität aus, sind, meint Queis, eher Oralkulturen, besitzen kurzfristige Berufs- und Lebensplanungen, fällen rasch Entscheidungen (Seite 38-39), empfinden Unsicherheiten als gewöhnlich (Beispiel: Deutschland vs. Lateinamerika). e) Dimension Autoritätsverhältnis = Machtkonzentration vs. Machtkontrolle Machtkonzentrative Kulturen achten Hierarchien, soziale Abstufungen, Schichten und Klassen, akzeptieren zentralisiert getroffene Entscheidungen, zollen Vorgesetzten Respekt und darin sind Privilegien und Statussymbole wichtig. Machtkontroll-Kulturen sind dahingegen, so Queis, hierarchiefern, bevorzugen kollegial getroffene Entscheidungen, sehen Vorgesetzte als Partner an, betrachten Macht als suspekt (Seite 39-40) und Privilegien sind darin zu rechtfertigen (Beispiel Polen als machtkonzentrative und Deutschland als machtkontrollierende Kultur). f) Dimension Geschlechtsrollen = Femininität vs. Maskulinität Feminine Kulturen schätzen geschlechtsneutrale Gleichberechtigung, sind schwächentolerant, verleihen zwischenmenschlichen Beziehungen und Verhandlungsbereitschaft bei Konflikten einen hohen Stellenwert. Alter gilt als Weisheit, Arbeit als Zweck zum Leben. Maskuline Kulturen dahingegen schätzen in der Queis´schen Vorstellung Männertätigkeit höher ein als Frauentätigkeit, sind stärke-, karriere- und erfolgsorientierter und tragen Konflikte offen aus. Alter gilt als Senilität, Leben als Möglichkeit zur Arbeit. (Beispiel Deutschland vs. Indonesien) g) Dimension Tabudenken = Gebote vs. Verbote [11] Bei Geboten wird im positiven Sinne vorgeschrieben oder empfohlen, was in einer Kultur gezeigt (demütiges Niederwerfen vor Allah im Gebet), gesagt (Redewendungen, Zeitpunkt des Redens, Inhalt der Rede), getan (Betreten heiliger Stätten), behandelt (sexuelle Handlungen nur in der Ehe), gegessen (Rindfleisch im Islam), berührt oder geschenkt werden kann. Bei Verboten wird im negativen Sinne vorgeschrieben oder untersagt, was in einer Kultur nicht gezeigt, gesagt, getan, behandelt, gegessen, berührt oder geschenkt werden kann. Dazu zählt nach Queis auch der Umgang mit Tabus im Gebrauch von Gesten (z.B. Hitlergruß in Deutschland), Zahlen ("die 666" als abschreckendes Zeichen des Satans für christizistische Glaubensangehörige), Formen, Symbolen (Hakenkreuz in Deutschland) und Farben (Seite 41-43). h) Dimension Transzendentalität = High-Spiritualism vs. Low-Spiritualism Hochspirituelle Kulturen nehmen außermenschliche und übersinnliche Einflußfaktoren auf ihr Leben (Gottheiten, Karma, Schicksal) wahr und räumen diesen Instanzen Macht ein, erkennen Glück in immateriellen Werten, sehen Krankheiten als ganzheitliche Alarmzeichen an, verstehen Weisheit als das Ziel des Lebens, glauben an ein Leben über den irdischen Tod hinaus (Beispiel: Mormonen, Eckankaristen, Adventisten, Muslims, Hindus). Geringspirituelle Kulturen lehnen den Queis´schen Ideen gemäß außermenschliche und übersinnliche Einflußfaktoren auf ihr Leben (Gottheiten, Karma, Schicksal) ab, räumen der Selbstgestaltung des Lebens Macht ein, sehen Glück in materiellen Werten, gelten Krankheiten als Defekte einzelner Organe, ist Bildung das Ziel des Lebens, wird nur an das gegenwärtige Leben geglaubt (Beispiel: Atheisten, Rationalisten, Kommunisten, Freidenker, Agnostiker, Humanisten, Satanisten, Unitarier). [12] Queis warnt anschließend jedoch davor, diese Axiome zu absolut zu setzen: Kultur sei wichtig, aber nicht alles und nicht jedes Verhalten eines Menschen einer anderen Kultur lasse sich über diese Kulturaxiome erklären (Seite 42-43). Dieser Haltung kann seitens des Rezensenten nur beigepflichtet werden: Auch sozialpsychologische Verhaltensmomente spielen eine Rolle, wenn sich Menschen entscheiden, etwas zu tun oder es zu unterlassen. Daher muß auch darauf hingewiesen werden, daß die jeweils genannten nationalen Beispiele nur Grundtendenzen darstellen: Nicht alle Staatsangehörigen der Türkei oder Armeniens sind wir-kulturell orientiert, nicht alle Christen räumen ihrer nominellen Gottheit einen großen Raum in ihrem Leben ein, zum Beispiel die große Masse der bereits erwähnten „Taufscheinchristen“ in Deutschland eben nicht. [13] Dennoch gilt: Grundsätzlich stellen Kulturaxiome oder Kulturstandards, wie Queis sie nennt, Tendenzen dar, die den Hintergrund beleuchten können, der für Handlungsmotive mitverantwortlich sein kann. Wichtig zu beachten ist zudem, daß man Kulturstandards oder -axiome nicht immer klar voneinander trennen kann. Das zeigt ein Teil des Reiseberichtes des muslimischen Tataren und Gelehrten Abdurraschid Ibrahim (1857-1944 nach westlicher Zeitrechnung), der 1910 einen Japanbericht in osmanischer Sprache in Buchform veröffentlichte. Darin erläutert er die oben genannten Unterschiede zwischen Wir-Kultur und Ich-Kultur. Es gäbe demnach eine Kultur, in der die Menschen nur in den eigenen Grenzen ihres individuellen Leben agieren und nur für dieses Leben Interesse zeigen würden. Die Verwendung der Bezeichnung „nur“ läßt bereits darauf schließen, daß Ibrahim diesen Haltungsstil als mangelhaft und destruktiv betrachtet. Auf der anderen Seite gäbe es dann aber diejenigen, welche für ihre Nation arbeiten würden. Doch auch diese Arbeit, so Ibrahim weiter, sei beschränkt; nur "ganz große Propheten" seien in der Lage gewesen, international tätig zu werden. [14] Ibrahim setzt den Fokus bewußt auf das Nationale anstatt auf das Kulturelle. Damit nimmt er eine typisch jungtürkische Stellung ein, die sich vor allem mit intrastaatlichen Fragen auseinander setzte, was vor dem Hintergrund der erstarrten Regierung des osmanischen Sultans Abdülhamid II. als Position für Reformkräfte verständlich wird, die im April 1909 Mehmed V. Resad als Schattensultan installiert hatten. Es ging um die Modifikation eines osmanischen in einen türkischen Staat, damit verknüpft aber auch automatisch um eine Veränderung der realitären osmanischen in eine - noch visionäre - türkische Kultur. Durch seine Positionierungen verortet sich Ibrahim nichtegoistisch orientiert und daher als Angehöriger einer Wir-Kultur, die er deutlich höher einschätzt als die Ich-Kultur. Welche Kultur man wähle, sei, so Ibrahim, Sache der "Natur und Begabung", während "Erziehung und Bildung" darauf keinen Einfluß hätten. Damit verneint er den Einfluß von Kulturaxiomen auf das Handeln und die Einstellung eines Menschen, was hier indes nicht weiter diskutiert werden soll, in anderen Kontexten aber durchaus eine interessante grundsätzliche Fragestellung ergeben würde, nämlich die Frage nach der kulturellen Determiniertheit menschlichen Handelns in Gesellschaften. Zugleich bemerkt Ibrahim jedoch als Angehöriger einer Wir-Kultur, er habe auf sein Leben mit seiner Familie verzichtet, um höheren (d.h. bei ihm religiösen) Aufgaben zu genügen. Sein Ziel war es dabei, auf seinen Reisen den Panislamismus zu stärken, in dem für Ibrahim die Zukunft des Islam liegen würde. Dieses Verlassen der eigenen Familie bezeichnet Ibrahim in seinem Reisebericht über Japan mehrfach als ein von ihm erbrachtes "Opfer". [15] Ibrahim vertrat damit also zwei Kulturaxiome zugleich, die sich eigentlich gemäß der vorigen Definition von Queis durch ihre Gegensätzlichkeit ausschließen müßten. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, daß Ibrahim keinem subjektiven Widerspruch oblag. Nur flüchtig auf das Phänomen blickenden Außenstehenden mag diese Argumentation - "Ich verlasse meine Familie, um mich meinen Interessen zu widmen" als Ausdruck einer Ich-Kultur erscheinen. Weil aber Ibrahim seine eigenen Ziele in den Dienst einer Gottheit (hier Allah) stellte, wurde seine individuelle Motivation moralisch überbaut. Wer im Dienste Allahs tätig sei, so sein Gedankenschluß, könne kein weltlich-profaner Individualist sein, er stehe vielmehr höheren (d.h. transzendenten) Aufgaben zur Verfügung und habe sich damit jedes eigenen Willens entledigt. Freilich läßt sich der Sachverhalt in konstruktivistischer Manier auch anders sehen: Die eigene, aus Egozentrik entsprungene Idee, die eigene Berufung sowie das Verlassen der Familie wird durch die seine aus eigenem Antrieb heraus in Anspruch genommene Gottheitsteilhabe gerechtfertigt und veredelt. In Ibrahims Denken entsteht auch deswegen keine Diskrepanz und kein Spannungszustand, weil er das Empfinden hat, sich nicht etwa in sophistischer Manier seine Gottheit ausgesucht zu haben. Er geht vielmehr davon aus, daß seine Gottheit per se, das heißt unabhängig von ihm, existiere. Für Ibrahim gibt es nur die Möglichkeit, an diese Gottheit zu glauben oder nicht. Somit läßt sich Ibrahim wieder als typischer Vertreter einer Wir-Kultur verstehen. Es war eben bei ihm nicht nur "Natur und Begabung" (dies hätte als Ausdruck einer Ich-Kultur die freie Wahl einer beliebigen Gottheit zur Folge gehabt), die ihn im Islam verwurzelten, sondern auch "Erziehung und Bildung". Dieses Beispiel zeigt, daß die Queis´schen Axiome für die Analyse von Kulturen durchaus geeignet erscheinen und als methodischer Überbau und Anwendungsmodell keinen Widerspruch erzeugt. Die kommenden Kapitel widmet der der Sozialgruppe des ehemaligen brandenburgische Uradels angehörige Verfasser v.Queis dann den unterschiedlichen Lernkulturen, sprich den Didaktiken und Pädagogiken in China, Westeuropa, Osteuropa und im islamischen Raum (Seite 44-61), bevor er sich zuletzt in einem großen Abschnitt (Seite 62-94) den Ansprüchen an interkulturelle Kompetenz an den deutschen Hochschulen widmet und Dozenten Tipps gibt zum Umgang mit dem Verhalten von Studenten unterschiedlichen Kulturen erteilt. Dabei fällt auf, daß Queis immer wieder Beispiele aus der Praxis bringt, die die Prinzipien seiner Gedanken veranschaulichen, wie das Beispiel eines indischen Stipendiaten, der gesagt hatte: "Deutsche haben Uhren, aber keine Zeit. In Indien hat nicht jeder eine Uhr, aber viel Zeit!" (Seite 35). Weitere praktische Hinweise und Hilfswinke beim Lehralltag ergänzen das Werk ebenso (Seite 95-96) wie ein Literaturverzeichnis (Seite 97-100) und ein Sachregister (Seite 101-102). Queis hat domit durch sein Buch auf den gegenwärtigen bereits stark international geprägten Alltag in deutschen Hochschulen aufmerksam gemacht und durch sein Agenda-Setting den Fokus auf künftige wichtige Entwicklungen gelegt. Im Rahmen der Globalisierung der Bildungslandschaften (und hier ist nicht nur der europäische Bolognaprozeß zu nennen, sondern auch die Zunahme allgemeiner Reisetätigkeit, die Billigflüge, der Ausbau des Luftverkehrsnetzes und die Zunahme des Flugverkehrs), wird sein Thema in Zukunft sogar noch an Bedeutung gewinnen und ist daher uneingeschränkt zu empfehlen. Und: Auch wenn sie von einem Weiterbildungs-Praktiker im Hochschulalltag und an den Erfordernissen und Herausforderungen der Universitäten und Fachhochschulen geschrieben wurde, kann die hier in der Rezension ausführlich vorstellte Queis´sche Achter-Axiomatik als Modell der Kulturanalyse in den Kulturwissenschaften verwendet werden - und zwar weit besser als Mieke Bals Kulturanlyse, die derartige Axiomlisten nicht anbietet. [16] Auf die Nachteile der Queis´schen Systematik wird allerdings später noch zurückzukommen sein. Doch ist zunächst noch hinzuweisen auf das vierte hier zu besprechende Buch namens "Lokales Denken, globales Handeln" [17] von Vater und Sohn Hofstede aus den Niederlanden. Beide Verfasser sind Professoren an dortigen Universitäten und befassen sich eigentlich und von Hause aus mit Betriebswirtschaft und Informatik. Sie erforschten aber auch über 30 Jahre lang verschiedene Kulturstandards, ausgehend von einer Studie für den Konzern IBM, in dem es darum ging, internationale Begegnungen von Managern und Geschäftspartnern zu erleichtern, indem man vorgefallene und interkulturell bedingte Mißverständnisse auszuräumen suchte. Daraus entstanden schließlich nach mehreren Erfahrungen und weiteren ausführlichen Studien fünf Kulturaxiome, die hier im Vergleich zu den Queis´schen Kategorien betrachtet werden sollen. Namentlich auch im Hinblick auf ihre Verwendungsfähigkeit zur historischen Analyse von Kulturen. Bei Hofstede und Hofstede heißen diese Axiome: Autoritätsdenken, Individualismusdenken, Geschlechtsrollen, Unsicherheitsvermeidung und Zeitverständnis (Seite 28-30 und 40). Feststellbar ist damit, daß die beiden Hofstedes nahezu dieselben Kategorien ermittelt haben wie Queis mit dem Unterschied, daß Queis zusätzlich noch das Tabu- und Transzendenzdenken in sein Modell mit einbezogen hat. Das heißt aber nicht, daß religiöse Aspekte bei den beiden Hofstedes ausgespart würden; sie werden nur nicht mit einem eigenen Punkt auf der Axiomatik belegt. Interessant ist nun, daß Queis 2009 in seinem Werk erster Auflage Hofstede zwar rezipiert hat, allerdings ausweislich seines Literaturverzeichnisses nur einen kleinen Aufsatz und nicht das hier erwähnte Buch, während in dem hier zu besprechenden Werk der beiden Hofstedes, obschon 2011 als durchgesehene Auflage zuletzt erschienen, das Werk von Queis gar nicht benutzt wurde. [18] Wir haben es also zu tun mit einem klassischen Aneinandervorbeiforschen. Das aber hat auch den unbestreitbaren Vorteil, beide voneinander unabhängig entstandenen Systeme miteinander zu vergleichen und aus ihnen das beste Instrumentarium für die Kulturanalyse zu entwickeln. Auch gilt es die Frage zu beantworten: Haben wir es trotz der Unterschiede mit weitgehender Kongruenz der Kulturaxiome zu tun? Bei den beiden Hofstedes heißt es dazu: a) Dimension Autoritätsdenken = Machtaffinität vs. Machtdistanz (Seite 49-94). Machtaffine Kulturen schätzen Vorgesetzte, Hierarchien und Autoritäten, nach denen sie sich richten, denen sie Respekt zollen und denen sie willig folgen. Machtdinstanzierte Kulturen dahingegen streben nach Machtkontrolle, sehen Vorgesetzte eher als "primus inter pares" an und bevorzugen nach Hofstede einen konsultativen Stil im Umgang mit Autoritäten. Beispiel: Die Kritik am ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff führte zu dessen Rücktritt (machtdistanzierte Kultur), aber die Kritik an Muammar al-Gaddafi führte in Libyen zum Bürgerkrieg (machtaffine Kultur). b) Dimension Individualismusdenken = Individualismus vs. Kollektivisimus (Seite 94-150) Individualistische Kulturen heben nach Hofstede den Einzelnen und seine Selbstentfaltung und Autonomie hervor, kollektivistische Kulturen werden von familiären, staatlichen, religiösen und gruppalen Zielen und Vorstellungen dominiert, denen einen Hegemonialstellung eingräumt wird. Beispiel: Die Schillersche Genieästhetik der Aufklärung ist individualistischem Denken zuzuordnen, die Beteiligung von deutschen Polizeibataillonen am Holocaust im zweiten Weltkrieg dahingegen einer kollektivistischen Kultur. c) Dimension Geschlechtsrollen = Maskulinität vs. Feminität (Seite 150-214) In maskulinen Kulturen seien - im Hofstede´schen Verständnis - Männer "bestimmt, hart und materiell" orientiert, Frauen aber "bescheiden, sensibel, immateriell" ausgerichtet sein. Beide Geschlechtssphären sind strikt voneinander getrennt. In femininen Kulturen seien diese konstruierten Gender-Rollen aufgelöst; auch Männer könnten dann gesellschaftlich akzeptiert "feinfühlig" sein oder Frauen "materiell" orientiert. Ein Beispiel für feminine Kulturen wären so besehen Schweden, die Niederlande und Norwegen, während maskuline Kulturen in der Slowakei, in Ungarn und in Japan verbreitet seien, aber auch unter den Mormonen. [19] d) Dimension Unsicherheitsvermeidung = Handlungsflexibilität vs. Planbarkeit (Seite 214-270) Handlungsvariable Kulturen sind in der Lage, auf Ereignisse spontan und flexibel zu reagieren, produzieren weniger Schuldgefühle des Individuums bei Nonkonformität, das Freud´sche Über-Ich ist schwach ausgebildet und die umgebende Welt wird als Vorrat an positiven Möglichkeiten betrachtet ("Was anders ist, ist seltsam, aber interessant!"). Planende oder Unsicherheit vermeidende Kulturen sind dahingegen - so die beiden Hofstedes - bestrebt, alle Eventualitäten durchzuorganisieren und in ein festes Raster zu stecken, produzieren stärkere Schuldgefühle des Individuums bei Nonkonformität, das Freud´sche Über-Ich ist stark ausgebildet und die umgebende Welt wird als Vorrat an bedrohlichen Möglichkeiten betrachtet ("Was anders ist, ist gefährlich!"). Beispiel: Griechenland, Portugal und Nordkorea sind Planbarkeitshochburgen, während Dänemark, Jamaika und Singapur geringe Unsicherheitsvermeidung praktizieren. e) Dimension Zeitverständnis = Langfristiges vs. Kurzfristiges Denken (Seite 270-312) Langfristiges Denken pflegt die Tugenden der Sparsamkeit und Beharrlichkeit, um ein fernes Ziel zu erreichen, ist also zukunftsorientiert und pragmatisch ausgerichtet. Die Handlungen der Gegenwart werden durch Zieldenken gestaltet. Kurzfristiges Denken dahingegen hat Respekt vor Traditionen, der Gesichtswahrung und die Erfüllung sozialer Pflichten, ist also vergangenheitsorientiert und programmatisch ausgerichtet. Die Handlungen der Gegenwart, so die Hofstedes, werden dabei durch überkommenes Altdenken gestaltet. Beispiel: China, Hongkong, Taiwan und Japan sind Länder mit langfristigem und Pakistan, Tschechien, Spanien und Nigeria Länder mit kurzfristigem Denken. Diese Kategorisierung ist indes problematisch, da man leicht annehmen könnte, daß langfristiges Denken eher etwas mit Vergangenheit zu tun haben könnte als kurzfristiges Denken. Es ist schließlich das Wesen des Konservativen, langfristig zu denken und nicht kurzfristig. Das kurzfristige Denken bleibt denen überlasen, die vor überkommenen Werten wenig Respekt haben und ihre geistige Herkunft als nicht sonderlich wichtig erachten, um praktische Herausforderungen zu lösen. Auch haben wir bei Queis gesehen, daß China und Japan eigentlich Länder sind, in denen die "Wahrung des Gesichtes" und der Respekt vor den Traditionen einen hohen Stellenwert haben. Insofern ist diese letzte Hofstedesche Kategoeriebeschreibung etwas problematisch. Aber: Das Werk der beiden Hofstedes ist über die Nennung dieser Hauptfaktoren der Kulturanalyse auch deswegen interessant, weil es allerlei Ableitungen enthält, die man zwar nicht immer teilen muß, bei denen es sich aber lohnt, über sie nach zu denken. So behaupten die Autoren, daß der Grad beispielsweise der Unsicherheitsvermeidung auch an der Prosaliteratur eines Landes erkennbar sei. Nicht umsonst seien in Großbritannien, einem Land mit niedriger Unsicherheitsvermeidung, so wirklichkeitsüberschreitende Romane erschienen wie Harry Potter, Herr der Ringe oder Alice im Wunderland. Dahingegen habe Deutschland als Land mit hoher Unsicherheitsvermeidung vor allem Literatur hervorgebracht, welche, wie Goethes Faust und Kafkas Schloß, mit der Suche nach Weisheit dem Brechen von Oktroyiertem zu tun habe. Daher kommen die beiden Hofstedes zu dem Ergebnis: Literatur aus
Ländern mit schwacher Unsicherheitsvermeidung befassen sich vorwiegend
mit Phantasiereisen, Literatur aus Ländern mit hoher Unsicherheitsvermeidung
namentlich mit Regeln und Wahrheits- und Weisheitsfragen. Im gleichen Atemzuge
behaupten sie auch, daß in derartigen Ländern die Neigung zu
großen Theorien und Philosophien anzutreffen sei, ebenso Xenophobie
und ein aggressiver Nationalismus. Spätestens hier muß gefragt
werden, wie Deutschland in jenes Schema paßt?
Allerdings muß gesagt werden: Auch nach den beiden Hofstedes ist an anderer Stelle (Seite 220-222) Deutschland auf einer Skala von 0-112 Punktwerten mit 65 Punkten auf dem 43.Rang von 79 beobachteten Ländern. Es kann daher Deutschland nur als ein Land bezeichnet werden, in dem es eine nur mittlere Unsicherheitsvermeidung gibt. Die konstruktivistischen Schemata, welche die beiden Hofstede anbieten, sind also immer auch relativ zu betrachten, wenngleich nicht verschwiegen werden kann, daß sie in jedem Falle einen wertvollen Anlaß zum Diskurs bieten, auch wenn manche Behauptungen überraschend wirken. Dazu zählt auch die These, daß in femininen und daher in eher kooperationsorientierten Kulturen die Regierungen häufiger Koalitionen bilden als in maskulinen und daher auf Kampf ausgerichteten Kulturen (Seite 199). Als Beispiele nennen die beiden Hofstedes die Niederlande als feminine und Deutschland als maskuline Kultur. Besieht an sich nun die Koalitionspolitik dieser beiden Länder von 1949 bis 2012, so kann man feststellen: In Deutschland regierten in jener Zeitspanne 22 Kabinette, in denen in 19 Fällen Koalitionen die Regierung stellten. Und in den Niederlanden regierten 1949 bis 2010 zusammen 28 Kabinette mit 28 Koalitionen. Das ergibt nur eine sehr geringfügige Abweichung in der Koalitionsbildung, so daß die Realität diese spezielle These der beiden Hofstedes nicht bestätigen kann. Dennoch gilt, daß es insgesamt positiv zu werten ist, daß sich die beiden Niederländer nicht damit begnügen, die fünf Kulturaxiome zu beschreiben, sondern auch auszuführen, wie sich diese Axiome in den Bereichen Religion, Sprache, Persönlichkeit, Gesundheit, Familie, Bildung, Schule und Gedankenwelt auswirken. Beispiel: In kollektivistischen Gesellschaften sei das soziale Netz die erste Quelle für neue Informationen, während in individualistischen Gesellschaften die Medien die präferierte Informationsquelle wäre. Tatsächlich läßt sich vieles, was die beiden Hofstedes beobachtet haben, verifizieren, beispielsweise an einer extrem kollektivistischen Staatskultur wie Nordkorea, wo die Regierung sogar eine deutschsprachige Webseite betreibt. [21] Dort lassen sich etliche der Hofstede´schen Behauptungen nachweisen: Menschen werden angehalten in der Wir-Form zu denken und nicht in der Ich-Form, es herrscht machtseitig eine große Vorliebe für Symmetrie, Aufmärsche und Uniformen, direkte Auseinandersetzungen werden vermieden, es gibt Ermutigung zum Zeigen von Trauer (durch das Zeigen von weinenden und klagenden Menschen im Staatsfernsehen, z.B. nach dem Tod der Staatsführer), eine Vermeidung des Zeigens von Glück, meist gibt es ein niedriges Bruttosozialprodukt, das Privatleben wird einer gruppalen (Chuche-) Ideologie bestimmt und Harmonie und Eintracht auf allen Ebenen wird als Ideal angestrebt. [22] Daß indes die Hofstede´sche Axiomatrik auch auf Kulturen im Allgemeinen zu deren Analytik angewendet werden kann, zeigt ein Beispiel aus der Geschichte. Dazu hieß es zunächst in einer deutschsprachigen Zeitschrift aus dem Jahre 1859 über einen Spielsüchtigen: "Ein psychologisch merkwürdiger Kriminalfall kam dieser Tage vor dem Frankfurter Zuchtpolizeigericht zur Verhandlung. Vor den Schranken desselben stand nämlich ein neunzehnjähriger Franzose von Stand, gebürtig aus Hagenau im Elsaß, Angehöriger der Marine, angeklagt des Diebstahls einer goldenen Damenuhr im Werte von 142 Franken und des Versuchs einiger Ladendiebstähle. Derselbe ist ein abermaliges Opfer der umliegenden Spielhöllen, und ist diese seine Verirrung um so beklagenswerter, als der junge Mann bereits Proben hohen moralischen Mutes und unbeugsamer Energie abgelegt hatte. Der Angeklagte gibt den Diebstahl der Uhr zu; dieselbe wurde bei einem Uhrmacher erhoben, welchem sie jener zu 160 Franken verkauft hatte; auch räumt er ein, in mehreren Läden zu stehlen versucht, es aber aus Furcht unterlassen zu haben. Sein Verteidiger, Herr Dr. Tetz, wußte durch eine geistreiche Verteidigung das Interesse für seinen Klienten lebhaft in Anspruch zu nehmen. Nach seiner durch Aktenstücke belegten Darstellung hat sich der Angeschuldigte, einer der besten Familien Frankreichs angehörig, schon in seinem siebzehnten Jahre als Seemann so ausgezeichnet, daß alle französischen Blätter von ihm sprachen; er hatte nämlich mit vier Matrosen einen französischen Dreimaster unter den gräßlichsten Stürmen, nachdem alle anderen Matrosen am gelben Fieber gestorben waren, glücklich in den Hafen gebracht. Er besitzt verschiedene vorteilhafte Zeugnisse über seine gute Aufführung zur See und ein günstiges Attest des französischen Marineministeriums. Leider war der junge Seemann bereits zwei Jahre zuvor in den Spielhöllen zu St. Franzisco dem Dämon des Hazardspieles verfallen, und scheint dieser seine sonst glückliche Organisation allmählich gänzlich demoralisiert zu haben. Wenigstens ist es sonst nicht aufgeklärt, wie es kam, daß derselbe 1858 einige Monate in der Irrenanstalt zu Clermont zubrachte. Im verwichenen Herbst von seiner verhängnisvollen Leidenschaft
nach Baden-Baden und Homburg geführt, verspielte er dort seine Barschaft
bis auf den letzten Rest und beging das Verbrechen, welches ihn und seine
Familie mit Schmach bedeckt. Der Defensor Dr. Tetz hob mit Nachdruck hervor,
daß wir als Deutsche erröten müßten, in unserem Vaterland
Pflanzschulen des Lasters bestehen zu sehen, die in der ganzen übrigen
zivilisierten Welt unterdrückt seien und nur in Californien dem Abschaum
der Bevölkerung offen stünden.
Erkennbar ist an diesem Fall eine klare gegensätzlich angelegte Trennung zweier intranationaler Kulturen im deutsch-französischen Raum des XIX. Centenariums. Auf der einen Seite befindet sich "die Gesellschaft", als dessen Sprachrohr sich der Verfassende des Artikels versteht. Auf der anderen Seite wird der Spielsüchtige als Outlaw oder Renegat verortet. Das Weltbild des Verfassenden wird nach den beiden Hofstedes durch starkes Autoritätsdenken, hohes Kollektivdenken, neutrale Geschlechtsfestlegung, hohe Unsicherheitsvermeidung und neutralem Zeitverständnis geprägt. Dem gegenüber vertritt der Spielsüchtige individualistische Züge und ist von einer niedrigen Unsicherheitsvermeidung geprägt. Seine extremen Positionen im Gegensatz zur Gesellschaft brachten ihn letztendlich aber in die soziale Isolation als Außenseiter: Er wurde ein Dieb, um seine pathologische Spielleidenschaft und stoffungebundene Sucht durch Beschaffungskriminalität befriedigen zu können. Da er sich damit außerhalb der kollektivistischen Gesellschaft stellte, die diese Verletzung ihrer moralischen Grundsätze mit Rechtsfolgen ahndete, erfolgte eine temporäre Exklusion. Dennoch war der Spielsüchtige nicht von der Gesellschaft verloren gegeben worden; man glaubt an seine Besserung und gesellschaftliche Reintegration, zumal man ihm bescheinigte, vor der Spielleidenschaft ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft gewesen zu sein, das sich absolut konform verhalten hatte. Das Mittel zur Behebung der Spielsucht sah man in einer Zwangsarbeitsstrafe, in der Gewöhnung des Verurteilten an regelmäßige Arbeit, damit er seinen Erwerb als Spielbank- und Glücksspekulant aufgeben sollte. Ziel der Strafe war, weil sie temporär blieb, die Wiedergewöhnung an gesellschaftlich akzeptiertere Arbeitsformen, die z.B. darin bestanden, in einem stark gesellschaftsabhängigen Arbeitsfeld seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Spielsucht wurde daher seinerzeit zur Mitte des XIX. Jahrhunderts nicht als Krankheit (heute Kategorie F63.0 Pathologisches / Zwanghaftes Spielen im ICD-10) angesehen, sondern als Charakterschwäche. Für die Therapie hatte diese Sichtweise erhebliche Folgen: Der moralische Fall eines Renegaten wurde umso größer bewertet, obgleich in dem Artikel bereits anklingt, daß der Dieb ein "Opfer" seiner Leidenschaft geworden sei, die es bewerkstelligt habe, seinen Verstand auszuschalten. Daß indes der Betroffene spielsüchtig war, läßt sich an der dreigeteilten Phaseneinteilung einer Spielsucht erkennen: Neben Gewinnphasen und Verlustphasen kennt man bei der Spielsucht auch die Verzweiflungsphase, die u.a. von Beschaffungskriminalität gekennzeichnet ist [24] und in eben jenem Stadium befand sich der "Franzose von Stand", als der Verfassende des Artikels über dessen Lebenslauf und Verurteilung berichtete. Allerdings instrumentalisierte der Verfassende den Seemann auch in erheblichem Maße: Er kennzeichnet ihn nicht nur als Opfer seiner Leidenschaft, sondern gibt auch der Existenz von Spielhallen die Schuld an diesem Rechtskonflikt. Für den anonymen Verfassenden des Artikels war der Fall des Franzosen ein Grund, die seit langem florierenden Spielhallen und Casinos in Baden-Baden und Homburg vor der Höhe zu verbieten. Somit ist der Artikel ein Beweis für die Tauglichkeit der Hofstede´schen Axiomatiken, auch wenn sich zwei Kategorien als neutral erwiesen haben. Das zeigt aber: Kulturstandards oder -axiomatiken lassen sich auf alle Kulturen anwenden, um eine Kulturanalyse durchzuführen. Die Untersuchung der beiden Hofstede´s bietet zudem einen weit ausführlicheren Rahmen als die anderen hier besprochenen Werke und kann daher zur Vertiefung kulturanalytischer Studien am besten herangezogen werden, auch wenn zu bemerken ist, daß die wissenschaftliche Grundlage des hier besprochenen und populär geschriebenen Werkes das Buch "Culture´s Consequences" sein sollte. [25] Die Verfasser haben noch zahlreiche weitere Kapitel folgen lassen, die ihrem Buch zu entnehmen sind, darunter Abschnitte mit Hinweisen auf interkulturelle Zusammenarbeit, Tipps für Medienmitarbeitende, Kulturschaffende, multinational tätige Organisationen und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zum Preis von 19,90 Euro wurde hier ein Werk geschaffen, das, trotz aller Vorsicht bei der Absolutheitssetzung der Ergebnisse, wichtige Anregungen zur interkulturellen Kompetenz liefert, die in einer globaler werdenden Welt einen immer höheren Stellenwert einnimmt. Verwiesen sei aber schließlich noch auf ein sehr einfaches kulturanalytisches Modell bei dem Moralforscher Norbert Bischof, das sich zwar in einem einzigen Kreisdiagramm darstellen läßt, also wenig komplex ist, dafür aber eine erste Einschätzung der Unterschiedlichkeit von Kulturen bieten kann. [26] Bischof geht dabei davon aus, daß Kulturen von bestimmten positiven Werten geprägt werden, die er aber nicht in Segmente oder Axiome mit linearen Werten von "hoch" bis "niedrig" klassifiziert, sondern nur mit Hochwerten darstellt. Für Bischof stellt sich daher nicht die Frage der Quantität einer Unsicherheitsvermeidung, sondern ob der Wert bei Personen oder Gruppen - mithin Kulturträgern - vorhanden ist oder nicht. Personale Kulturträger mit geringer Hofstede´scher Unsicherheitsvermeidung werden bei Bischof als Vertreter der Wertes "Risiko" und "Abwechslung" eingestuft. Für eine erste kulturanalytische Einschätzung kann daher auch das Bischof´sche Modell geeignet sein. Die beiden Hofstedes und Queis bieten aber dahingegen detailliertere Analysen an, die dementsprechend auch differenziertere Aussagen über eine Kultur und ihre Werte ermöglichen. Sicher muß von Fall zu Fall gefragt werden, welches Modell für die jeweilige Fragestellung an einen Untersuchungsgegenstand am besten geeignet erscheint. Zuletzt kann noch gefragt werden, ob man nicht aus allen Modellen, die hier angeführt wurden, eine kulturanalytisch einheitliche Methodik erschaffen sollte. Denn keines der angeführten Modelle ist primär dazu erfunden worden, Kulturen in der Theorie aus kulturwissenschaftlicher Sicht zu analysieren. Braun und Yousefi sowie Lescovec geht es um die Einbettung und die Definition des Gegenstandes interkultureller Grundsätze in der Wissenschaft allgemein und in die Literaturwissenschaft im Besonderen. Und sowohl die beiden Hofstedes als auch Queis sind praktisch ausgerichtet an den Erfordernissen der Zusammenarbeit zwischen Industriemanagern aus verschiedenen kultureller Hintergründe sowie zwischen Dozenten und Studierenden, jeweils im XX. und XXI. Jahrhundert - und dies gilt sogar für Bischof, der zudem einen Fokus auf die Moral in ihrer Beziehung zur Wertbildung einer Kultur legt. Wie an den historischen Beispielen aber gezeigt werden konnte, plädiert der Rezensent an dieser Stelle für die Übertragung der Modelle in die historische, aber auch in die sozialpsychologische Wissenschaft. Denn sie ermöglichen eine Kulturanalyse aller Kulturen, gleich, ob sie nun historisch waren oder aktuell auftreten oder ob damit Kulturen von Nationen, Ethnien, Gruppen oder Personen gemeint sind. Zwar mag die zunehmende Präsenz interkultureller Fragen ein Auslöser gewesen sein, sich mit Fragen der Unterschiede von lebenden Kulturen zu befassen, zugleich aber ergibt sich nun die Chance, diese Modelle auch auf vergangenen Kulturen aller Art anzuwenden und zwar sowohl personaler als auch gruppaler Kulturen und Subkulturen. Auch Fragen der Soziologie, besonders solche von Exklusion und Inklusion, lassen sich mit den angeführten Modellen in neuer Perspektive untersuchen ebenso wie man Fragen nach Individuation und Sozialisation neu untersuchen kann, indem man der Kultur einen großen Stellenwert in der Untersuchung einräumt, ohne ihr die Hegemonialkraft der einzigen menschlichen Triebfeder verleihen zu wollen. Wie aber könnte nun ein gemeinsames Modell zu einer solchen übergreifenden Kulturanalyse aussehen, wenn sie sich als eine Synthese aus den Hofstedeschen und Queisschen Modellen verstehen möchte? Beiseht man sich beide Modelle, so ergibt sich daraus, daß die beiden Hoftstedes das weniger differenzierte Modell bevorzugen. Für eine kulturwissenschaftliche Behandlung von Kulturen und deren Analyse erscheint also das Modell von Queis weit geeigneter, da es weniger Pauschalurteile zuläßt und drei doch nicht unwichtig zu nennende Bereiche (Kommunikationsart, Tabudenken und Transzendentalität) zusätzlich über ein eigenes Agenda-Setting hervorhebt. Im Gegensatz zu Queis bieten die beiden Hofstedes aber viel mehr inhaltliche Erklärungen (und teils auch Spekulationen) zum Charakter einer bestimmten nationalen Kultur an. Es werden also für eine kulturwissenschaftliche Analyse am besten beide Werke herangezogen, wobei das Queissche Modell als Gerüst dienen sollte und zur Vertiefung die Hofstedeschen Gedankenspiele konsultiert werden könnten. Queis bietet in jedem Fall den Vorteil, daß er mit acht Axiomatiken eine begrenzte und dennopch stattliche Anzahl von Dimensionen mit ihren je beiden Extrempositionen bringt, die noch gut handhabbar sind, ohne in Oberflächlichkeit zu verfallen. Das Queissche Modell ist daher die erste Wahl für eine Kulturanalyse; einer Synthese der Dimensionen bedarf es für diese Verwendung nicht. Diese Rezensionen stammt von Claus Heinrich Bill, wurden 2012 erstellt und erschien nicht hier nur online, sondern auch zugleich in der institutseigenen Print-Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung. Annotationen:
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