Institut Deutsche Adelsforschung
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Massen-Selbstentleibungen im Frühling und Sommer 1945

Quintessenz eines bislang wenig beachteten Phänomens

Es mag ein Zufall gewesen sein. Dennoch standen Anfang Juli 1945 zwei Kurzmeldungen in einer südtirolischen Tageszeitung, die unmittelbar — auch inhaltlich — miteinander in Beziehung standen, direkt untereinander: „Der Berliner Korrespondent der B.B.C. meldet: `Die Rote Armee trachtet auf jede Weise, den Deutschen ihre Schuld zum Bewußtsein zu bringen. Die Russen hassen nicht das deutsche Volk, aber sie zeigen ihre Feindseligkeit gegen jede nationalsozialistische Spur.´ In Bayern ist eine Anstalt zur Ausrottung geistig minderwertiger Frauen und Kinder aufgefunden worden. Im Gebäude der Anstalt wurden die `Pfleglinge´ aus dem Leben geschafft. Diese schauerliche Tätigkeit hat erst vor zwei Tagen aufgehört. Der verantwortliche Arzt hat Selbstmord begangen, sein Assistent ist verhaftet worden. Die Opfer wurden durch Gift oder durch Hunger ums Leben gebracht.´“ [1] 

Beide Meldungen verdecken die Tragik und das Ausmaß, aber auch die Verwunderung, die hinter diesen Zeilen steckten. Der in Hamburg lebende Dr. phil. Florian Huber, Filmemacher und Historiker, hat sich beider Themen in der Verknüpfung angenommen. Er hat Anfang 2015 das Buch „Kind, versprich mir, daß du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945“ im Berlinverlag (www.berlinverlag.de) veröffentlicht, wo es zum Preis von 22,99 Euro bestellbar ist. Populärwissenschaftlich geschrieben, nicht ohne literarische Ambitionen, thematisiert Huber nun erstmals — 70 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges — ein Kapitel deutscher Geschichte, das bisher wohl vor allem aus psychologischen Gründen nur schwer bearbeitbar gewesen ist, weil die lebende Generation es aus Selbstschutzgründen vielfach hatte verdrängen wollen. 

Huber befaßt sich mit der Selbstmordepidemie tausender Suizidant*Innen, von überzeugten Nationalsozialist*Innen und ehemaligen NS-Funktionär*Innen, von Flüchtlingen, einfachen Bürger*Innen, Familien mit ihren Kleinkindern, ehemaligen „Volksgenoss*Innen“, Akademikern, Geschäftsleuten und Handwerkern in den Frühlings- und Sommermonaten des Jahres 1945. 

Es ist ein erschütternder „Bericht“, den Huber abliefert, wobei er nach Lektüre vieler Tagebücher und unmittelbarer Nachkriegsaufzeichnungen sowohl Einzelschicksale nachzeichnet als auch Hintergründe der NS-Herrschaft als Mitursache dieser Freitodwelle nachzeichnet. Das kollektive Gefühl von Ohnmacht nach Versailles, nach der Besetzung der Rheinlande, durch Reparationen und Wirtschaftskrise, das Sehnen nach dem Wiederaufleben des Gemeinschaftsgefühls aus dem kriegerischen Fronterlebnis und des politischen Willens, Hitlers faszinierende Massenverführung und Austrahlungskraft als Rhetoriker und Schauspielender, seine rasanten außenpolitischen Revisions-Erfolge — das alles waren Gefühle, die die Deutschen beherrschten.

 Bei seiner Spurensuche versucht Huber, das verwobene Geflecht der Motive zu entwirren, welches aus Schuldeingeständnissen, aus der Kenntnis von Hitlers und Goebbels´ Selbstmord in Berlin, aus Starrsinnigkeit, aus dem Festhalten am Nationalsozialismus, aus dem Nichtwahrhabenwollen, dann auch eigenen Erfahrungen von Vergewaltigungen durch die Rote Armee, aber auch aus ontoformativ erzeugten Ängste vor der Roten Armee in ein Klima der Massenpsychose mündete. Viele Menschen erlebten im Frühling 1945 die Auflösung jeder Ordnung, eine kollektive wie vielfach auch individuelle Krise, Flucht, Zerstörung, Tod, Verwundung, Kriegseinfluß und Vertreibung. 

Viele Menschen waren zu dieser Zeit in einer Ausnahmesituation, ohne Dach über dem Kopf, ohne Heimat, ohne Wertsachen, auf der Flucht gen Westen und damit in einer persönlichen Krise, in der sie hauptsächlich durch äußere Umstände in ihrem oft ohnmächtigen Handeln bestimmt wurden. Was sich in ihren Köpfen abgespielt hat, läßt sich so gut wie nicht rekonstruieren, nur vereinzelt fand Huber Selbstzeugnisse von Suizidant*Innen, die z.B. bis kurz vor ihrem geplanten Tode noch Tagebücher geschrieben hatten, die bis heute überliefert sind. Bei anderen Selbstentleibenden werden die Motive für immer ungeklärt bleiben müssen oder die Nachwelt ist auf Spekulationen angewiesen. 

Das gilt auch für Dietloff von Arnim, 69 Jahre alt, ehedem Offizier im Kaiserreich bei der Kavallerie, dann Gutsherr auf Rittgarten, Verwaltungsgerichtsrat, Mitglied der NSDAP und schließlich Landesdirektor in Brandenburg und also solcher zuständig für die Euthanasie. Er brachte sich, so zumindest die Lesart der Familiengeschichte, am 26.April 1945 auf dem Treck von Rittgarten nach Westen mit Gift um, als er fürchtete, von dem russischen Vormarsch erreicht zu werden. 

Mit ihm nahmen auch seine Tochter Marie-Agnes, 17 Jahre alt, und seine Gattin Marie-Agnes geborene v.Tresckow, Gift. Die Tochter starb mit dem Vater, der Gattin mißlang der Selbstentleibungsversuch, der ihr erst am 3. Mai 1945 gelang. [2] Ob sich Arnim mit seiner Familie aus Angst vor russischen Übergriffen oder Scham über seine Verantwortlichkeit bei der Euthansie entleibte, wird wohl für immer unbekannt bleiben.

Für viele scheint der Freitod die einzige Möglichkeit gewesen zu sein, den erdrückenden Umständen zu entkommen, andere mögen vielleicht aus sozialer Erwünschtheit heraus gehandelt haben und im Zuge des Soges des sozialpsychologischen Phänomens des Groupthinkings: „Viele Frauen zogen den Selbstmord der Schande [aus Angst vor Vergewaltigungen] vor; Ehepaare erschossen sich auf dem Friedhof, an den Gräbern ihrer Familien, andere sprangen in den Brunnen oder in die brennenden Häuser, um dort den Tod zu suchen.“ [3]

Dabei war das Phänomen durchaus nicht unbekannt. In der Erinnerungsgemeinschaft des deutschen Adels gehörte es sogar zu den konstuierenden Topoi und Entitäten eines nachkriegszeitlichen „Standes“-Bewußtseins, wie nicht nur die vielen Berichte von Suiziden in den sogenannten „Schicksalbüchern“ [4] zeigen, sondern auch die Rubrik „Freiwillig aus dem Leben schieden“, die, — überreich mit Personaleinträgen gefüllt — in den Jahren 1945 bis 1948 in den „Flüchtlingslisten“ ehemaliger Adeliger erschienen waren. [5] Demnach brachte sich am 24. Januar 1945 Goerd v.Groeben in Schlobitten um, als er in russische Gefangenschaft geriet, ebenso der Oberstleutnant Karl-Günther Graf Finck v.Finckenstein am 24. Mai 1945 im Lazarett Geringswalde  in Sachsen oder am 30. April 1945 die vierköpfige Familie des Raimar v.Winterfeld, mitten auf ihrem Treck. Diese Liste ließe sich beliebig verlängern.

Hubers Buch ist erschütternd. Das liegt vielleicht auch daran, daß er keine Dokumentation geschrieben hat und scheinbar außer der allgemeinen historischen Methode keine wissenschaftliche Methodik zur Untersuchung seines Erkenntnisgegenstandes anwendet; zumindest nicht offiziell. Er klärt keine Begriffe, läßt die Quellen nur jeweils kurz zu Wort kommen, bindet sie in einen narrativ spannenden und packenden Erzählstil ein, so daß die Schilderungen, durchweg nah an den Protagonist*innen, mit denen Huber die große Geschichte verschränkt, ablaufen. Das bedeutet aber auch, daß Huber Vorgänge schildert, die er nicht belegen kann, insbesondere füllt er die Lücke der Motiv- und Gefühlslage mit eigenen Deutungen, ohne dies deutlich hervorzuheben. Er macht die Personen, die er untersucht, zu literarischen Figuren, ohne dieses Verfahren bewußt öffentlich zu machen. 

Somit ist Hubers Werk auch eine Art von Meisternarrativ, das kritisch hinterfragt werden muß, weil man seine eigenen performativen Inszenierungen von denen der Darstellung der Betroffenen unterscheiden und destillieren muß. So mischen sich unentwirrbar Hubers private Ansichten mit denen der Deutungshoheit derer, die die Egodokumente verfaßten. Immerhin werden sie aber in Endnoten quellenbeziehentlich belegt. Problematisch dahingegen ist Hubers Verständnis der übrigen Quellennachweisung. Da vermerkt er lediglich, seine Quellen seien Tagebücher, Berichte, Briefe und Erzählungen von Zeitzeug*Innen gewesen, führt aber nur in zwei Fällen an, mit wem er Interviews geführt haben will. Dann behauptet er, daß er seine Darstellung des Hintergrundgeschehens auf viele zeitgeschichtliche Quellen stützen würde, deren maßgebliche er im Verzeichnis der Quellen aufgeführt habe. Man darf also seiner eigenen Auslassung zufolge auf Unvollständigkeit der Quellenangaben schließen; ein sehr mißlicher Zustand, da Huber seine Angaben damit zu einem nicht mehr überprüfbaren Konglomerat gestaltet. 

Ein Vorteil von Hubers Schilderung ist dagegen, daß er interkulturell arbeitet. Dies ist eine durchaus besondere Herangehensweise, die nicht überall zu finden ist. Die Egodokumente und die große Politik verknüpft er mit Außensichten, immer wieder läßt er ausländische Korrespondenten oder in Deutschland arbeitende Angehörige anderer Staaten zu Wort kommen, einen Schweizer, einen Skandinavier, einen Briten, zwei amerikanische Photographinnen, dann auch deutsche Exilanten, die aus dem Auslandsexil wieder nach Deutschland kamen. Die dadurch merkwürdig vom Gegenstand entrückt scheinende Schilderung „von außen“ und nicht nur aus dem „inner circle“ der Betroffenen ist einer enzyklischen Hermeneutik und einer interkulturellen Komparatistik verpflichtet, was den Huberschen Erkenntnisgegenstand aus mehreren Perspektiven schildert und deutlich zu den Stärken des ansonsten nahezu romanhaften Erzählens des Buches zählt. Eine andere Stärke ist, daß Huber trotz aller Lücken versucht, die Stimmungen der deutschen Bevölkerung einzufangen und dies gerade für eine Zeit, die sonst nur schwierig faßbar ist. 

Symptomatisch dafür ist auch das Erscheinen der Periodika der Memorialgruppe des ehedem (bis zur Weimarer Reichsverfassung von 1919) deutschen Adels. Bis 1944 erschien das Deutsche Adelsblatt als Mitteilungsorgan der Deutschen Adelsgenossenschaft. Nach kriegsbedingten publizistischen Schweigens dauert es vier Jahre, bis wieder die Flüchtlingslisten, hervorgegangen aus der privaten Initiative eines Rechtsanwalts und eines antisemitischen Regierungsrats, erschienen. Dazwischen liegt die „Stunde Null“ [6] und ein Kultursystemwechsel absolut gegenteiliger Art, dessen transformierende Spuren nur noch sporadisch zu erkennen sind. Mit den Buchbesprechungen ab 1949 wagt sich das Deutsche Adelsarchiv als Zeitschrift und Nachfolger der Flüchtlingslisten dann aber wieder auch auf weltanschauliches Terrain vor, fängt an zu politisieren und zeigt auf, daß der Wechsel der politischen Systeme nur zögerlich auch in der Mentalität der ehemaligen Adeligen ankam. [7] 

Huber hat genau diese Zeit der angeblichen „Stunde Null“, die weit mehr Kontinuitäten als Brüche aufwies (Stichwort Renazifizierung) beleuchtet, was sein großes Verdienst ist. Er schildert eine große Gruppe von Menschen in der Ausnahmesituation eines totalen Umbruchs in jeder Hinsicht, örtlich, arte-, sozio- und mentefaktisch. Die Giftphiole und das Zyankali werden so bei Huber zu seismographischen Artefakten einer verdichteten Epoche zwischen extremen Kulturwechseln. Es ist zu wünschen, daß Hubers populär abgefaßtes Buch über das Agenda-Setting zum Thema wissenschaftliche Qualifizierungarbeiten von Studierenden nach sich zieht. Nicht zuletzt für die Memorialgruppe des ehemaligen deutschen Adels ist das Gebiet noch gänzlich unbearbeitet und bisher nur der Gedächtniskultur des Erinnerungskollektivs selbst überlassen worden. 

Diese Rezension erscheint ebenso gedruckt in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung und stammt von Claus Heinrich Bill, B.A.

Annotationen: 

  • [1] = Dolomiten (Zeitung, erschien in Bolzano), Ausgabe vom 7./8. Juli 1945, Seite 2 
  • [2] = Manfred Dreiss (Hg.): Deutsches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk, Band 137/138/139/140, Neustadt an der Aisch 2002, Seite 391-392
  • [3] = Hamburger Anzeiger (Hamburg), Ausgabe vom 7. März 1945, Seite 1 
  • [4] = Verband Der Sächsische Adel e.V. (Hg.):  Schicksalsbuch des Sächsisch-Thüringischen Adels 1945, Limburg an der Lahn 1994 mit Folgebänden
  • [5] = Flotow, v. / Ehrenkrook, v.: Familiennachrichten (Selbstötungen im deutschen Adel 1945, Rubrik: "Freiwillig aus dem Leben schieden"), in: dieselben (Hg.): Flüchtlingsliste Nr.2, Westerbrak, Dez.1945, Seite 13-14 — Desgl. Nr.3 (April 1946), Seite 25 — Desgl. Nr.4 (April 1946), Seite 8-9 — Desgl. Nr.5 (Dezember 1946), Seite 8 — Desgl. Nr.6 (März 1947), Seite 9-10 — Desgl. Nr.7 (Juni 1947), Seite 8 — Desgl. Nr.8 (Okt. 1947), Seite 7 — Desgl. Nr.9 (Dezemberg 1947), Seite 10 — Desgl. Nr.10 (März 1948), Seite 12 — Desgl. Nr.11 (Juni 1948), Seite 10 — Desgl. im Deutschen Adelsarchiv (Fortsetzung der Flüchtlingslisten) Nr.12 (August 1948), Seite 8 — Desgl. ibdiem Nr.13 (September 1948), Seite 6 — Desgl. ibidem Nr.14 (Oktober 1948), Seite 6 — Desgl. ibidem Nr.15 (November 1948), Seite 6 — Desgl. ibidiem Nr.16 (Dezember 1948), Seite 5
  • [6] = Dazu siehe Manfred Asendorf: Stunde Null 1945, in: Manfred Asendorf / Jens Flemming / Achatz von Müller / Volker Ulrich: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, Reinbek 1994, Seite 600-602
  • [7] = Siehe dazu Claus Heinrich Bill: Lassen wir uns unsere Vergangenheit nicht verschütten. Buchrezensionen als Spiegel adeliger Geisteshaltung von 1949 bis 1954, in: Nobilitas. Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Folge Nr.59, Jahrgang XII., Sønderborg på øen Als 2009, Seite 231-246. Fernerhin aber auch Claus Heinrich Bill: Adel im öffentlichen Leben Deutschlands 1945-1950, in: Nobilitas. Zeitschrift für deutsche Adelsforschung, Folge Nr.1, Jahrgang I., Owschlag 1998, Seite 3-31

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