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Eine neue Hohenlohesche FamiliengeschichteZur Frage der prämodernen Adelshistoriographie im XXI. JahrhundertZwei Historikerinnen trafen sich vor 2013 zufällig in einem Wiener Archiv, beide an Vertretern der hochadeligen Familie Hohenlohe forschend, die, im Reichsfürstenstand seit dem XVIII. Jahrhundert stehend, sich personalstark in viele Linien auffächernd, nicht nur manche politischen Geschicke Deutschlands und Österreich-Ungarns im Laufe der Geschichte beeinflußt hat, sondern auch regional als Landesherrschaft großgrundbesitzende Macht über die Bevölkerung ausübte, sich in Kunst, Sport und Kultur engagierte und vielfach ein wichtiger Arbeitgeber war. Diese Historikerinnen waren Alma Hannig M.A., Lehrbeauftrage für Geschichte an der Universität Bonn, und Magistra Dr. phil. Martina Winkelhofer-Thyri, Projektmitarbeiterin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zu Wien. Beide haben die Familie Hohenlohe nun in einem eigenen Sammelband portraitiert, ein Projekt, das aus den zufälligen Gesprächen am Rande der jeweiligen Archivarbeit entstanden ist. Das festgebundene Buch (mit der ISBN-Nummer 978-3-412-22201-7) in der bewährten Qualität des deutsch-österreichischen Böhlauverlages umfaßt 413 Seiten und kostet 34,90 Euro. 13 Abbildungen in schwarzweißer Manier, eine Karte mit den wichtigsten osteuropäischen Familienorten und eine Deszendenztafel bereichern das Werk visuell. Vom Konzept her haben die beiden Herausgeberinnen, die etliche männliche Kollegen zu einer Zusammenarbeit als Beiträger gewinnen konnten, welche sich bereits vorher mit einzelnen Vertretern der Familie befaßt hatten, eine Sammelbiographie publiziert, die insgesamt 13 hohenlohesche Viten enthält. Diese rein quantitative Beschränkung erfolgte, da eine zu projektierende Gesamtgeschichte des Geschlechts wegen fehlender Grundlagenforschung und allzu umfangreicher Archivbestände leicht ausgeufert wäre und auch nicht der Intention der Herausgeberinnen entsprochen hätte. Sie wollten vielmehr kaleidoskopartig verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume sowie Facetten von Lebenswegen aus der Familie dokumentarisch und komparatistisch aufzeigen. So kommt es, daß in dem Bande nicht nur konforme Vertreter der Familie vorgestellt werden, also Politiker, Militärs und Mäzene, sondern auch nonkonforme Männer (für die Vitenerstellung von Frauen haben die Archivgrundlagen leider nicht ausgereicht, wie die beiden Herausgeberinnen bemerken), die nicht in allen Teilen ihrer Lebensgestaltung den üblichen konservativen Ehrencodices des Hochadels ihrer Zeit entsprachen. Aufgenommen in den Reigen der Biographierten wurden daher in einer Mischung sowohl dem Adelsethos gegenüber kongruent handelnde Mitglieder der Familie als auch Randseiter, die durch - in historischer Perspektive - sozial abweichendes Verhalten auffielen, [1] beispielsweise der Pazifist Alexander Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1862-1924), aber auch der in den Augen einiger Beobachter führungsschwache Kleriker Gustav Adolf Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1823-1896). Die Erwähnung dieser Randseiter darf jedoch nicht darüber hinwegtaüschen, daß es sich im Grunde bei dem vorliegend besprochenen Hohenlohewerk um eine konservative Kompilation handelt, die nicht nur mit immediater Unterstützung durch die heutige Familie mit dem Namen „Prinz zu Hohenlohe“ entstanden ist (Seite 9), sondern ihr auch versucht, ein Denkmal zu setzen. Bemerkenswert ist an der Publikation fernerhin, daß die gedruckte Familiengeschichte insgesamt auf der Grenze zwischen dem literarischen Typus einer adeligen Familiengeschichte und einem geisteswissenschaftlichen Sachtext oszilliert. Die Kennzeichen einer solchen gedruckten Geschlechtshistorie des
Adels können in 14 Korrelatbegriffen typologisiert werden, die hier
nach einem erstmals zusammengestellten Modell des Rezensenten, das man
mit „Der sachliterarische Typus der adeligen Familiengeschichte“ bezeichnen
könnte, veröffentlicht werden soll. Die literatur- wie kulturwissenschaftlich
orientierten Korrelatbegriffe lauten demnach in Thesen wie folgt:
Tab.1: Modernisierungsraster nach Sokoll (2013) [3]
Gleichwohl muß bemerkt werden, daß der Untersuchungszeitraum des Hohenlohebandes mit der Zeit von 1789 bis 1945 eben gerade in der Formierungszeit der europäischen Moderne liegt, die durch die politisch-industrielle Doppelrevolution des „langen XIX. Jahrhunderts“ (nach Osterhammel) liegt und daher auch Überlappungen der beiden angesprochenen „Welten“ zu finden sind, die sich aufgrund des Bedeutungswandels des Adels von einer ständischen zu einer Funktionselite hin vollzogen, die eben auch an den biographierten Vertretern der Familie ablesbar war. Politiker beispielsweise waren auch bereits städtisch geprägt, mußten Leistungen erbringen, Laufbahnprüfungen ablegen, waren als Firmenleiter in der Industrie tätig (der 1926 verstorbene Christian Kraft Fürst zu Hohenlohe-Oehringen beispielsweise war, worauf Dr. Stalmann auf Seite 357 hinweist, Kohlgruben- und Zinkindustrieller). Dennoch war unverkennbar, daß insgesamt der Lebensmittelpunkt der Familie auf dem Lande lag, auf ständischen Prinzipien und Großgrundbesitz beruhte, die Erlangung von Prestige wichtig war und als Lebensmittelpunkte Schlösser und Herrensitze abseits der Städte gewählt wurden. Zweitens auffallend ist am genannten sachliterarischen Typus die Konstruktion, Aufrechterhaltung und Prolongierung von bestimmten ethisch fest umrissenen Haltungen und adeligen Ehrencodices, die sich vorwiegend im politisch konservativen Spektrum verorten lassen, und die Malinowski treffend beschrieben hat. [4] Dazu gehörte in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1945 namentlich die Ablehnung jeder Form von Mittelmäßigkeit, ein konfrontativ-martialischer Kommunikationsstil gegenüber anderen politischen Gruppierungen [5] sowie ein gesellschaftlicher und politischer Führungsanspruch. [6] Drittens besitzen adelige Familiengeschichten einen fragmentierten und fein ausdifferenzierten Umgang mit Devianz. Bei entsprechenden Schilderungen und dem Agenda-Setting devianter Familienmitglieder muß zunächst unterschieden werden zwischen der zeitgenössischen Devianz- und der heutigen Devianzempfindung. Da Devianz nach Lautmann [7] und dem Konzept der Etikettierung (oder „labeling approach“) stets abhängig ist von personell gesteuerten umweltlichen Zuschreibungen, kann abweichendes soziales Verhalten unterschiedlich eingeschätzt werden, je nach Lage der Betrachtenden. Was daher im XIX. Jahrhundert als zutiefst deviant galt, galt zu Beginn des XXI. Jahrhunderts nicht immer in gleichem Maße ebenso; diesen Umstand betonen auch die beiden Herausgeberinnen (Seite 8). Dies bedeutet, daß 2013 auch Familienmitglieder in ihrem devianten Verhalten geschildert wurden, ohne daß dies die Memoria und das kollektive Gedächtnis der Familie störte. Es ist dieser Umstand recht wichtig, betrachtet man sich, was später indes methodischer geschehen soll, die Grundlage von Familiengeschichten aus Geschlechtern von oder über Angehörige der Sozialgruppe des historischen Adels, die in gewisser Weise auch auf das vorliegend zu besprechende Werk anzuwenden ist. Allerdings sind in dem Werk auch Familienmitglieder geschildert worden, deren Verhaltensweisen in zeitgenössischen Umständen durchaus als vollkommen opportun galten, heute aber als deviant gelten. Dies wird deutlich an dem Beitrag von Dr. phil. Thomas Kreutzer über Konstantin Prinz zu Hohenlohe-Langenburg (1893-1973), der in einem seiner „fünf Leben“ NS-Funktionär war (Seite 336-338) sich später aber wieder von der NSDAP abwandte. In dieser Biographie spiegelt sich daher stellvertretend eine häufig zu beobachtende Position des historischen deutschen Adels im frühen XX. Jahrhundert wider; eine Ambivalenz, die zwischen Widerstand und Anpassung wechseln konnte und durchaus nicht nur einseitig in diametraler Manier zu beschreiben wäre. Trotzdem erscheint in dem Sammelband die Verbindung der Familie Hohenlohe zum Nationalsozialismus als marginal. Dr. Volker Stalmann beispielsweise schreibt, wenn er einleitend in seinem Beitrag über „Die Familie Hohenlohe. Ein geschichtlicher Überblick“ (Seite 11-48) über die Ära der Weimarer Republik und die des Dritten Reiches schreibt, eine vorwiegend viktimisierte Geschichte der Familie, die nicht Macht über die Dinge gehabt habe, sondern vielmehr ein Spielball der Umstände der Adelsabwertung und des Machtverlustes gewesen sei (Seite 39-41). Daß in diesen Zeiten mindestens 22 Familienmitglieder der NSDAP beitraten, erfahren die Leser*Innen hier nicht, sondern extern nur bei Klee. [8] Was die Leser*Innen indes erfahren, und was das Hohenlohewerk in diesem Bereich wieder eher dem modernen Verständnis der Historiographie affin macht, ist die Schilderung der unstandesgemäßen Ehe von Philipp Ernst Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst („Er war eine elegante Null, aber er war der Sohn des Reichskanzlers“, so zitiert bei Dr. Lennartz, Seite 136) sowie der „wilden Ehe“ von Christian Kraft Fürst zu Hohenlohe-Oehringen (bei Dr. Stalmann, Seite 360). Im Devianzbereich ist jedoch weiters häufig nur eine periphere Devianzschilderung, die man wissenschaftlich als Marginaldevianzierung bezeichnen könnte, anzutreffen. Salopp formuliert würde man diese Devianzschilderung auch als „Schmunzeldevianz“ etikettieren können, also als eine Devianz, die aufgrund ihrer relativen Nähe zum eigenen Ehrenkodex zur Erheiterung und Konstruktion von bisweilen verschroben erscheinenden „Originalen“ beiträgt, in der Wahrnehmung aber nicht grundsätzlich die zu zentralen Werte der Familie erklärten Haltungen zu gefährden scheint (derlei Anekdoten bringt Dr. Stalmann auf Seite 361). Dies macht deutlich, daß die spezielle Konstruktion des Agenda-Settings, also die Frage der Auswahl des darzustellenden biographischen Stoffes, einen transaktionalen Vorgang zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellt. Hier kann unterschieden werden zwischen a) einem positiven Agenda-Setting für als konform empfundene und b) einem negativen Agenda-Setting für nonkonform empfundene historische Verhaltensweisen oder Ansichten. Bezugnehmend auf die Devianzformel kann dies wie folgt ausgedrückt werden: Grob besehen werden Handlungen (Praxis) oder Haltungen (Theorie), die von den Standes- oder Zeitgenossen historischer Akteur*Innen als deviant etikettiert wurden, in der Gegenwart der Familiengeschichtsautor*Innen aber als nicht mehr oder nur marginal deviant gelten, aufgegriffen und dargestellt. Dagegen aber werden Handlungen (Praxis) oder Haltungen (Theorie), die sowohl von den Standes- oder Zeitgenossen historischer Akteur*Innen als auch in der Gegenwart der Familiengeschichtsautor*Innen als deviant etikettiert wurden und werden, nicht aufgegriffen und nicht dargestellt. Daher erfolgte in dem Hohenlohewerk von 2013 eine Ausblendung von als deviant zu bezeichnenden Viten, an denen sich die moralischen Codices der adeligen Labelapprocher vor 1918 ablesen lassen, die aber auch in der Gegenwart der Autor*innen als deviant galten. Dementsprechend beschäftigte sich das Autor*Innenkollektiv weder quellenkritisch noch überhaupt mit der folgenden cisleithanischen Zeitungsmeldung aus der Zwischenkriegszeit, die, wenn auch in einer typisch intersektionalen Diskriminierungsform, [9] das Ableben des von den Zeitungsredakteuren als Renegaten typologisierten Alexander Prinz zu Hohenlohe-Oehringen (1871-1929) thematisierte:
Gleichwohl bestehen neben den erwähnten wenigen Grundsätzen dessen, wie sich Devianz in der Anschauung wandeln kann, vielfältige Formen der Transformation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die mithilfe der Raster der Transformation nach Bergemann mit den 15 Dimensionen der Appropriation, der Assimilation, der Disjunktion, der Inkapsulierung, der Fokussierung und Ausblendung, der Hybridisierung, der Ignoranz, der kreativen Zerstörung, der Montage und Assemblage, der Negation, der Rekonstruktion und Ergänzung, der Substitution, der Übersetzung, der Umdeutung und Inversion sowie der mehrschichtig-komplexen Transformationsprozessen beschrieben und analysiert werden können. [13] Sie sollen hier indes nicht weiter ausgeführt werden, auch wenn sich etliche dieser Transformationsformen auch im Hohelohewerk auffinden lassen. Einen viel größeren Raum in der Narration aber nimmt im Typus „adelige Familiengeschichte“ viertens die Schilderung der Lebenswege und Taten „großer Männer“ ein, die mit nicht geringer Bewunderung für ihre öffentlich wirksamen Handlungen (sie werden zumeist „Leistungen“ genannt) aufgeführt oder, um in der Bühnenmetapher noch weiter auszuschreiten, performativ in Schriftform inszeniert werden. Auch in dieser Beziehung können Familiengeschichten als „Meisterzählungen“ gelten, als Erzählungen und historische Konstruktionen, die noch immer einer vormodernen Epoche angehören, als Erzählungen, von denen sich um die Wende vom XIX. zum XX. Jahrhundert ganz bewußt die französische Annales-Schule absetzte. [14] Diese prämoderne Haltung in der Geschichtsauffassung zeigt sich aber fünftens auch bereits bei der Hervorhebung des Kollektivs (der Familie), die als genealogische Kontinuität hervorgehoben wird, wobei generell die biologische Abstammung nach salischem Prinzip weitergeführt und aktualisiert wird. Hierbei gilt, daß die einzelnen Individuen nur im Rahmen einer biologischen Verbindung zueinander betrachtet werden, die eine imaginäre Klammer umeinander bilden. In einem derartigen kulturellen System zählt(e) das Individuum wenig, das Kollektiv aber viel. [15] In diesen Abschnitt gehören aber außerdem Schilderungen der urkundlichen Ersterwähnungen, wobei Jahreszahlen in den Rang einer geradezu magischen Sphäre erhoben und beschworen werden. Bei den Hohenlohes ist dies nach Stalmann das Jahr „1153“ (Seite 12), nach v.Hueck, der bestrebt war, das Alter der Familie zu erhöhen, dagegen das Jahr „1103“. [16] Doch ganz abgesehen von der exakten (Re-) Konstruktion von Kontinuität — und noch wichtiger Identität — ist das Phänomen, sich als Familie möglichst weit ins Mittelalter und die Anfänge der europäischen Schriftlichkeit zurückzuführen, was mitunter in einen regelrechten Genealogensport um die älteste nachweisliche Erwähnung gipfelte, weit verbreitet. Und dort, wo die chronologische Rückführung nicht weit genug getrieben werden kann, ersetzen Wappen- und Genesislegenden um die Entstehungsumstände der Familie die historisch belegbaren Daten. [17] Indes kommt diesem Jahresdatenfetischismus der Ersterwähnung eine besondere sozialpsychologische Funktion zu; sie können mithin - nach Balke - als sogenannte Gründungserzählungen bezeichnet werden, die in prägendem Maße mitkonstituierend sind für eine gruppale Identität als gedachtes Familienkollektiv. [18] Auch andere prämoderne Prolongierungen alter Werte lassen sich in der Hohenloheschen Familiengeschichte von 2013 eruieren. Dazu zählen sechstens eine bisweilen byzantische Glorifizierung ehrhafter und prestigeträchtiger Tätigkeiten, wie sie pointiert bei Thorstein Bundle Veblen genannt werden. Dazu zählt der norwegisch-amerikanische Soziologe unter anderem demonstrativen Müßiggang, Ruhmvermehrung, die Vorliebe für Unökonomisches, Sorgen um das Existenzmaximum, die positivistische Darstellung roher Gewohnheiten im sozialen Interaktionsraum als normale Alltagserfahrung, die Betonung von Manieren, Zeremoniell und Etikette, die soziale Schichtung in Stände mit spezifisch beruflichen Aufgabenfeldern und das „standesgemäße“ Konnubium. [19] Dieses Phänomen reicht von der einzelnen Wortwahl wie in den Beispielen „bedeutender Politiker“ (Dr. Stalmann, Seite11), „Nachhall seines militärischen Wirkens“ (Dr. Wirth, Seite 69), „pflichtbewußter Mann“ (Dr.Zachau, Seite 97), „bedeutendster Kulturpolitiker seiner Zeit“ (Dr. Winkelhofer-Thyri, Seite 181), „war ... ein Mitteleuropäer“ (Dr. Höbelt, Seite 220), „einer der begabtesten Diplomaten“ (Magistra Hannig, Seite 229), „damit war er seiner Zeit voraus“ (noch einmal Dr. Höbel in einem anderen biographischen Beitrag, Seite 300), „Pflichtgefühl ... behielt ... die Oberhand“ (Dr. Kreutzer, Seite 331), „zählt zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten der Familie“ (erneut Dr. Stalmann in einem weiteren biographischen Abriß, Seite 357) bis hin zur Schilderung skurriler, aber zutiefst „standesgemäßer“ und daher auch gern narrativ ausgeschmückter Todesarten wie der Herzattacke, die ein Familienangehöriger auf der Jagd mit dem Gewehr im Anschlag sitzend, erlitt (Seite 220). Auch fehlt siebentens nicht die Betonung der „eleganten Frugalität“ (nach Rezzori) [20] oder der bewußt gewählten „Schlichtheit“ (nach Veblen) [21] in der besprochenen Familiengeschichte („schlichte ... Religiosität“ bei Magister Schmalstieg, Seite 123). Hinzu treten achtens Schilderungen mit grundsätzlichem Wohlwollen bezüglich zerstörerischer Tätigkeiten wie Gewaltanwendung durch Militärs und Krieg, die die Autor*Innen für ehrenhaft halten (Seite 69 bei Nennung der „Verdienste“ von Ludwig Aloys zu Hohenlohe-Waldenburg-Bartenstein betreffend die Gründung der französischen Fremdenlegion). Ferner zählen zum Typus der adeligen Familiengeschichte auch Merkmale wie neuntens die Hervorhebung von Handlungen historischer Personen (gelegentlich bewundernd im Hohenloheband „Persönlichkeiten“ genannt), die einen besonderen ständischen Selbstbehauptungswillen aufzeigen. Daher erscheint es durchaus opportun, daß, bei aller sozialer, gesellschaftlicher und politischer Nähe und grundsätzlichen Treue zum jeweiligen Herrscherhaus und zur Monarchie, die Person des Herrschers scharf kritisiert wird (Seite 171), was als Zeichen eines gesunden Selbstbewußtseins der Familie im geschichtlichen Gefüge gedeutet werden kann. Ferner typisch für adelige Familiengeschichten ist die sammelbiographische Anlage derartiger Publikationen, die durch genealogische Tafeln und den Einsatz altdeutscher Schrift unterstützt wird (verantwortlich für das letzte Element ist Dr. Höbelt, Seite 413 sowie innerer Rückendeckel ohne Seitenangabe). Hinzu treten weiters in adeligen Familiengeschichten zehntens visuelle Glorifizierungen in Form von Bildnissen von Männern, die kommentarlos über ganze Seiten in Uniformen (Seite 50, 180, 228, 270) mit Herrschaftsattributen wie Marschallstäben (Seite 50) oder Orden (Seite 50, 76, 228, 270, 286), Herrenanzügen (Seite 132, 156, 200, 286, 330), Talaren (Seite 106) oder einem Jagdhabit (Seite 356) abgelichtet werden, noch dazu mit verschwendetem Platz, da auf diesen Seiten weiter nichts außer den jeweiligen Portraits der Biographierten zu sehen ist. [22] Zudem ist im Typus der adeligen Familiengeschichte elftens auffallend, daß Familienangehörige immer dann viktimisiert werden, wenn die Ergebnisse ihrer Handlungen von der rezipierenden und der die Familiengeschichte schreibenden Nachwelt als unangenehm empfunden werden, sie also die aktuelle sinnhafte Ordnungsstruktur durch störenden Aspekte gefährden. Diese Gefährdung aktueller Kohärenzgefühle durch vergangene Ereignisse, mit denen man und frau sich durch die „Blutslinie“ identifiziert, läßt sich, will man der Attributionstheorie nach Heider folgen, indes nur durch Umdeutung der Attribuierung wieder herstellen: Für Handlungen, die von aktuellen Familiengeschichtsautor*Innen als erfolgreich, wünschenswert, angenehm oder vorbildlich deklariert werden, wird oft eine internale Attribution vorgenommen, [23] die damit die Eigenständigkeit der biographierten Person betont und herausstellt. So soll Chlodwig Fürst zu Hohenlohe trotz mancher Düpierungen durch Kaiser Wilhelm II. nur deshalb als Reichskanzler im Amt geblieben sein, „um Schaden vom Reich abzuwenden“ und den Kaiser zu zähmen (Seite 96). Für Handlungen aber, die von den Familiengeschichtsautor*Innen als deviant, herabwürdigend, extremistisch, unpassend, unangenehm oder destruktiv bezeichnet werden, kommt eher die externale Attribution zum Einsatz, [24] welche mehr die Abhängigkeit der biographierten Person von den Umständen betont und herausstellt und diese Person damit zugleich moralisch entlastet. Im Falle der Hohenloheschen Familiengeschichte von 2013 wird eine derartige Strategie von Dr. Schulz angewendet, der zur von europäischem Superioritätsgefühl gesteuerten Tätigkeit von Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg (1832-1913) als Präsident des Deutschen Kolonialvereins schreibt: „Die Redebeiträge ... bewegten sich im Rahmen der gängigen Ansprachen, die von Verbandsfunktionären bei entsprechenden Anlässen gehalten wurden“ (Seite 281). Hier wird bewußt durch das Mittel des sozialen Vergleichs mit der zeitgenössischen Umgebung die persönliche Verantwortung des Kolonialprotagonisten für die Beeinflussung anderer Völker durch einen Vergleich mit Ähnlichem (oder Schlimmerem) relativiert. Es wird damit sogar als sozial konform, da üblich, dargestellt, womit die Familiengeschichtsautor*Innen dem „Prinzip sozialer Bewährtheit“ folgen: „Wenn viele Personen oder gar alle etwas tun, nehmen wir an, daß es `das Richtige´ ist.“ [25] Stark kontingenzreduziert und simplifiziert sagt der angeführte Hohenlohefall aus, daß Kolonialismus allein deswegen nicht weiter tragisch gewesen sei, weil ihn alle europäischen Staaten durchgeführt hätten und Hohenlohe sei in seiner Art lediglich der zeitgenössischen Mehrheit gefolgt. Bei dieser Betrachtungsweise ist auffallend, daß scheinbar plötzlich die Eigenveranwortlichkeit und die Liebe zur Tat, sonst beim Adel sehr beliebt, scheinbar unvermittelt abbricht und einer zutiefst beeinflußbaren, unentschlossenen und „weichen“ Haltung Platz macht, um einige Zeit später, ebenso unvermittelt wie zuvor, in der Narration wieder zum alten autopoietischen System zurückzukehren. Wesentlich ist im Typus der adeligen Familiengeschichte zwölftens das Fehlen einer durchgängigen wissenschaftlichen Fragestellung, so daß sich die Schilderung zumeist in den Lebenswegschilderungen zwischen Geburt, Heirat und Ableben erschöpft, auch wenn geschichtswissenschaftliche Quellenkritiken (z.B. Seite 213) und Nachweisordnungen mit Endnoten für die Quellen im Hohenlohewerk durchgängig (Seite 41-48, 70-74, 97-105, 124-130, 149-155, 173-179, 193-198, 220-227, 251-268, 282-285, 301-306,325-329,349-354 und 369-373) und bisweilen auch Einordnungen in den Kontext und Forschungsstand durchaus vorgenommen werden (z.B. Seite 18-19 und 329 in Endnote 75). [26] Als Resumée bliebe zu sagen, daß dem Sammelband, auch wenn er im überwiegenden Teil einer vormodernen Geschichtsschreibung huldigt, im Hinblick auf seine Zielgruppe eine gelungene Konzeption zugrunde liegt, die hervorragend umgesetzt wurde. Auch wenn in einigen Teilen die Prolongierung traditionaler Lebenswelten durchgeführt wird und auch die Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses der Familie damit unterstützt wird (dazu zählt auch die Erwähnung der Unterstützung von Franz Liszt durch die Familie auf Seite 8), so ist doch nicht der Wissenszuwachs zu verkennen, den die Beiträger*Innen vor allem durch die Benützung einer beeindruckenden Liste an bislang unveröffentlichtem Archivmaterial (Seite 375-377) erzielt haben, die noch manche überraschenden und detailreichen Aspekte in der Geschichte von Amts- und Funktionsträgern aus Politik, Kultur, Kunst und Militär bereit halten. Wer genügend quellenkritisch mit dem Werk umgehen kann, wird darin eine Fülle von Informationen, aber auch Deutungen finden, die selbst wieder Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen werden können, beispielsweise nach Jan und Aleida Assmanns Gedächtnistheorie. Andere Leser*Innen werden dahin gegen eher in die „gute alte Zeit“ abtauchen und ein „Adelsbuch“ in die Hände bekommen, mit welchem sich altadelige Werte von der Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen lassen. Diese Rezension, verfaßt von Claus Heinrich Bill (B.A.), erscheint auch gedruckt in der Zeitschrift Nobilitas für deutsche Adelsforschung (2015). Annotationen:
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